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Philosophie aktuell: Public Philosophy – brauchen wir das?

Andrea Marlen Esser
In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Jg. 71 (2023-03-01), S. 119-121
Online unknown

Philosophie aktuell: Public Philosophy – brauchen wir das? 

In recent years, calls for philosophy to interact more with the public have grown louder in the German-speaking world as well as elsewhere. Public philosophy, as it were, has a long-standing tradition, reaching back to Enlightenment-era German "Popularphilosophie" and of course to Socrates and the Sophists. This section presents four short articles on some current aspects of the public-philosophy debate: on the overall conditions for transferring content from academic philosophy to the public in Germany; on the relations between philosophers' mediatic presence and their disciplinary expertise; on 18th-century guidelines for accessible philosophical writing; and on public philosophy as a social practice that is more than mere unidirectional knowledge transfer.

Keywords: public philosophy; public sphere; teachability

Dass sich die Philosophie nicht in dem vielzitierten und oft geschmähten sogenannten Elfenbeinturm verkriechen, sondern ihre Einsichten der gesellschaftlichen Öffentlichkeit zur Verfügung stellen solle, ist im Laufe der Geschichte oft und öfter gefordert worden. Offensichtlich sind die, deren Rufe da erschallen, davon überzeugt, dass von philosophischer Arbeit möglicherweise ein aufklärender, vielleicht auch kritischer oder die bestehenden Sichtweisen erweiternder Beitrag zu Fragen zu erwarten ist, die von breiterem, eben öffentlichem und nicht nur akademischem Interesse sind. Und in der Tat scheint – trotz aller Vorbehalte, die sich gegen die Abstraktheit, die Unverständlichkeit, die Nutzlosigkeit philosophischer Überlegungen mitunter richten – dieses Interesse zu bestehen. Die Philosophie wird immer wieder zu Stellungnahmen aufgefordert: so etwa zu Ergebnissen anderer Wissenschaften wie etwa der Kognitions- oder Neurowissenschaft, die vermeintlich die Freiheitsfähigkeit des Menschen in Frage stellen, zu Problemen der ethischen Orientierung, oder wie jüngst zur Frage nach den Bedingungen eines gerechten Krieges.

Öffentliches Philosophieren im Sinne eines Philosophierens in der Öffentlichkeit, aber auch mit der Öffentlichkeit hat eine lange Tradition. So haben Sokrates und die Sophisten ihre Argumentations- und Redekunst in öffentlichen Gesprächen und Auseinandersetzungen ausgeübt, die Bürger Athens rhetorisch aus- und weitergebildet oder sie wahlweise in ihrer Kompetenz herausgefordert und in öffentliche Streitgespräche verwickelt. Im 18. Jahrhundert etablierte sich die „Popularphilosophie", deren Vertreter darum bemüht waren, Fragen, Einsichten und Arbeitsweisen des professionellen Philosophierens an ein weiteres, interessiertes Publikum zu vermitteln. H. S. Reimarus (1694–1768), Moses Mendelssohn (1729–1786), J. G. H. Feder (1740–1821) und Christian Garve (1742–1798) versuchten in ihren Texten an die Lebenswirklichkeit ihres Lesepublikums anzuschließen und die philosophischen Inhalte in teils auch unterhaltenden, aber gleichwohl belehrenden Darstellungen zu vermitteln. Die Kritik an solcher Vermittlung von Philosophie und Öffentlichkeit ist dabei so alt wie die Versuche selbst, und sie stammt nicht nur aus den Reihen der öffentlichen Amts- und Würdenträger, die sich durch die philosophischen Gespräche oder Schriften herausgefordert oder angegriffen wähnten, sondern auch von den akademischen Vertretern der Philosophie. Diese artikulierten vor allem die Sorge, dass komplexe philosophische Inhalte simplifiziert würden (so etwa Kant oder Fichte), und warnten davor, dass die „elenden Popularisierer" ein grundsätzlich falsches Bild philosophischer Arbeit verbreiteten. Diese Skepsis und, damit verbunden, die mitunter spannungsreiche Beziehung zwischen einer öffentlichen und einer akademischen Philosophie haben sich bis in unsere Gegenwart erhalten, und es wird dadurch auch heute noch eine ganze Reihe an Fragen aufgeworfen:

Wie weit kann man und darf man zu Zwecken der Vermittlung komplexe philosophische Theorien und Argumentationen vereinfachen, ohne dass sie dadurch bis zur Unkenntlichkeit entstellt oder in dogmatische Hüllen ihrer selbst verkehrt werden? Lässt sich „wahres Philosophieren" überhaupt vermitteln, oder handelt es sich dabei nicht vielmehr um eine aktive geistige Tätigkeit, die man weder anleiten noch umgehen noch durch Komprimierung der Denkwege erleichtern kann? Sollte die Leistung öffentlicher Philosophie vielleicht allenfalls darin bestehen, dass Philosoph:innen in der Rolle von Expert:innen allgemeine philosophische Methoden und Theorien auf aktuell drängende gesellschaftliche und politische Fragen anwenden und auf diese Weise einen produktiven Beitrag zur Gesellschaft beisteuern?

Es lässt sich freilich auch fragen, ob es tatsächlich allein die Vermittlung philosophischer Lehre in die Öffentlichkeit ist, die mit dem Begriff einer „öffentlichen Philosophie" oder „Public Philosophy" angezeigt wird. Ging es denn zum Beispiel Sokrates und Moses Mendelssohn vorrangig darum, etablierte philosophische Lehren didaktisch aufzubereiten und leicht konsumierbar an den Mann und an die Frau zu bringen? Oder haben sie ihr Philosophieren nicht vielmehr auch in der und mit der Öffentlichkeit vollzogen und dies nicht zuletzt auch als öffentliche Personen? Diese Fragen stellen sich insbesondere dann wieder, wenn und sofern aktuell philosophische Überlegungen und Theorien nicht nur in verschiedenen öffentlichen Medien vermittelt und diskutiert werden, sondern auch die akademische Institutionalisierung einer „Public Philosophy" in Form von Forschungsfeldern und entsprechend ausgerichteten Professuren – zumindest in den USA – bereits begonnen hat. Eine Verständigung über Ziele, Formate und Leistung des Forschungsfeldes „Public Philosophy" sowie eine gründliche Auseinandersetzung über seine wissenschaftlichen Standards stehen dabei noch aus. Müsste sich die Philosophie in diesem Zug nicht auch die Frage stellen, wie sie selbst in der Öffentlichkeit verortet ist bzw. verortet wird? Kann sich eine „Public Philosophy" auf ein Philosophieren „für die" Öffentlichkeit oder „über die" Öffentlichkeit beschränken und die eigenen philosophischen Überlegungen isoliert entwickeln? Ist es überhaupt sinnvoll, philosophische Beiträge in einem schlechten Sinne unabhängig von jedweder gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung zu entwickeln und dabei gleichwohl Deutungshoheit über gesellschaftspolitische, moralische und soziale Fragen zu beanspruchen? Müsste man die Ziele und Standards eines öffentlichen Philosophierens nicht auch im wechselseitigen Austausch mit der Öffentlichkeit erarbeiten und reflektieren, wenn die Philosophie in die Gesellschaft hineinwirkt? Die folgenden Beiträge beschäftigen sich mit einigen dieser Fragen und versuchen dabei, die Herausforderungen eines Philosophierens in und unter Umständen auch mit der Öffentlichkeit herauszuarbeiten – eines Philosophierens, das offensichtlich mehr einschließt als die didaktische Aufbereitung bereits gewonnener philosophischer Einsichten.

By Andrea Marlen Esser

Reported by Author

Titel:
Philosophie aktuell: Public Philosophy – brauchen wir das?
Autor/in / Beteiligte Person: Andrea Marlen Esser
Link:
Zeitschrift: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Jg. 71 (2023-03-01), S. 119-121
Veröffentlichung: Walter de Gruyter GmbH, 2023
Medientyp: unknown
ISSN: 2192-1482 (print) ; 0012-1045 (print)
DOI: 10.1515/dzph-2023-0008
Schlagwort:
  • Philosophy
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: OpenAIRE

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