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Manfred Baum: Kleine Schriften 2. Arbeiten zu Kants praktischer Philosophie. Hrsg. von Dieter Hüning. Berlin/Boston: Walter de Gruyter, 2020. 391 Seiten. ISBN 978-3-11-060377-4

Hespe, Franz
In: Kant-Studien, Jg. 114 (2023-03-08), S. 155-158
Online unknown

Manfred Baum: Kleine Schriften 2. Arbeiten zu Kants praktischer Philosophie. Hrsg. von Dieter Hüning. Berlin/Boston: Walter de Gruyter, 2020. 391 Seiten. ISBN 978-3-11-060377-4 

Baum, Manfred Kleine Schriften 2. Arbeiten zu Kants praktischer Philosophie. Hrsg. von Dieter Hüning Berlin/Boston Walter de Gruyter 2020 978-3-11-060377-4 1 391

Aus Anlass des 80. Geburtstags von Manfred Baum erschienen drei Bände mit „Kleinen Schriften". Der vorliegende Band enthält 23 bereits früher in verschiedenen Zeitschriften und Sammelbänden erschienene Aufsätze und Artikel zu Kants praktischer Philosophie aus den Jahren 1998–2018 sowie einen Originalbeitrag zum „Vorbegriffe zur Metaphysik der Sitten" und einen Anhang mit einem Diskussionsbeitrag zur „Rationalität im Naturzustand bei Hobbes".

Thematische Schwerpunkte des Bandes sind Kants Begriff der Person, Recht und Freiheit, Pflicht und Sittengesetz. Dabei ist es der Anspruch des Autors, durch eine genaue, am Buchstaben orientierte Interpretation von Kants Texten den Geist und die Originalität dieses Denkens herauszustellen. Als wichtigstes Ergebnis erscheint ihm Kants „revolutionärer Bruch [...] mit der gesamten Tradition der Moralphilosophie seit der Antike sowohl hinsichtlich der Begründung moralischer Prinzipien in Zwecken, die aus der menschlichen Natur ableitbar sind, als auch der Voraussetzung eines höchsten Endzwecks dieser Menschen, der zugleich der Endzweck einer göttlichen Weltregierung sein könnte. Kants Begriffe der Autonomie des vernünftigen Willens und des angeborenen Rechts der Freiheit" seien jedoch „untrennbar mit dem vielgescholtenen Formalismus der von ihm aufgestellten moralischen Gesetze verbunden" (Vorbemerkung, VII).

Der enge Raum erlaubt es leider nicht, alle Beiträge im Einzelnen zu besprechen, stattdessen möchte ich näher auf vier Beiträge eingehen, in denen Baum Inhalt und Entstehung der Grundlegung der Metaphysik der Sitten näher beleuchtet: „Kant und Ciceros De officiis", „Sittlichkeit und Freiheit in Kants Grundlegung", „Sittengesetz und Freiheit. Kant 1785 und 1788" sowie „Metaphysik in Kants Moralphilosophie". Die Hauptthese dieser Überlegungen lautet, dass die Ausführungen in der Grundlegung nicht die adäquate Darstellung der kantischen Moralphilosophie sei. Die Darstellung in der Grundlegung sei vielmehr durch die 1782 in den Göttingischen Gelehrten Anzeigen erschienene, ursprünglich von Garve stammende, von Feder aber stark redigierte Rezension der Kritik der reinen Vernunft, vor allem aber durch Garves Cicero-Übersetzung und -Kommentierung (Garve, Christian: Philosophische Anmerkungen und Abhandlungen zu Ciceros Büchern von den Pflichten. Breslau 1784) veranlasst. In dieser Darstellung mache Kant von stoischen Gedanken Gebrauch, die eigentlich in seinem System keinen Platz mehr hätten. Dabei gehe es Kant vor allem darum, herauszufinden, ob diese falschen Vorstellungsarten doch etwas Wahres enthalten – wenn man sie denn richtig interpretiere. Unabhängig von dieser Absicht seien diese jedoch eher irreführend, insofern sie den Blick auf die einzig korrekte Darstellung des Grundprinzips der kantischen Moralphilosophie, die allgemeine Formel des kategorischen Imperativs, verstellen könnten (Baum 48). Eine ähnliche These hatte schon Klaus Reich (Kant und die Ethik der Griechen. Tübingen 1935) vertreten, dem sich Baum insbesondere im Essay Kant und Ciceros De officiis vorbehaltlos anschließt.

Die Sonderstellung der Grundlegung unter Kants Arbeiten zur Ethik werde schon äußerlich daran ersichtlich, dass sich ihre Darstellung von allen folgenden Ausarbeitungen zu dieser Thematik, insbesondere der Kritik der praktischen Vernunft (1788) und der Metaphysik der Sitten (1797) unterscheide. Nur in der Grundlegung gebe es ein Nebeneinander von mehreren Formeln des kategorischen Imperativs (47, ähnlich 321), wobei Kant gleich die Warnung hinzufüge, dies geschehe nur, um diese der Anschauung näher zu bringen, und man tue gut daran, wenn man bei der sittlichen Prüfung nur die allgemeine Formel des kategorischen Imperativs zugrunde lege, weil die anderen die Gefahr bergen, den Grundgedanken seiner Moralphilosophie, die formale Prüfung einer Maxime auf die Tauglichkeit zur allgemeinen Gesetzgebung, unkenntlich zu machen (47 f.). Baum drückt daher seine Verwunderung darüber aus, dass in vielen Kant-freundlichen Darstellungen diese besonderen Formeln geradezu als diejenigen angesehen werden, die besonderen Beifall verdienen (48).

Die Abhängigkeit von stoischem Gedankengut mache sich dabei vor allem in den beiden ersten Abschnitten der Grundlegung mit dem Begriff des guten Willens und den Nebenformeln des kategorischen Imperativs bemerkbar. Der gute Wille ist zufolge des Anfangs der Grundlegung nicht durch das, was er bewirkt oder ausrichtet, sondern allein durch sein Wollen gut. Es sei leicht zu erkennen, so Baum, dass Kant damit von Garves Darstellung der stoischen Ethik, wonach nicht der Erfolg, sondern allein der Wille für die moralischen Bewertung einer Handlung maßgeblich ist, abhänge. Damit reformuliere Kant den stoischen Begriff des honestum als des absoluten, im Gegensatz zum utile als bloß relativ Guten (101, ähnlich auch schon 53 ff.). Wie der Begriff des honestum sei aber der des Guten völlig leer und müsste zur Bestimmung des Gegenstandes des guten Willens von einer Untersuchung der Natur des Menschen (was für ihn gut sei) abhängig gemacht werden.

Nach Baum korrigiert Kant diesen Fehler in der Vorrede der Kritik der praktischen Vernunft in seiner Antwort auf eine Rezension von Pistorius. Hermann Andreas Pistorius hatte in seiner Rezension der Grundlegung in der Allgemeinen deutschen Bibliothek vom Mai 1786 kritisiert, um den guten Willen inhaltlich zu bestimmen, müsste ihm eine Beschreibung dessen vorausgehen, was für den Menschen gemäß seiner Natur überhaupt gut ist. Das aber könne, so Baum, nur durch empirische Erfahrung ausgemacht werden. In seiner Antwort auf Pistorius in der Vorrede zur Kritik der reinen Vernunft lehnt Kant zwar den Rückgriff auf empirische Erfahrungen ab, behauptet nun aber, dass nicht der Begriff des Guten das moralische Gesetz, sondern umgekehrt das moralische Gesetz allererst den Begriff des Guten bestimme und möglich mache; denn andernfalls könne der Begriff des Guten nur in Bezug auf das empirische Gefühl der Lust und Unlust und darum nur durch Erfahrung bestimmt werden. Damit werde dann aber die bloße Möglichkeit eines „reinen praktischen Gesetzes" von vornherein aufgehoben (101 ff.).

Auch den im zweiten Abschnitt der Grundlegung entwickelten Nebenformeln des kategorischen Imperativs „Naturgesetz", „Zweck an sich selbst", „Reich der Zwecke als eines Reichs der Natur" liegen nach Baum in Anlehnung an Klaus Reich Sätze zugrunde, die als oberste Moralprinzipien von Kant gerade abgelehnt würden und Kants Lektüre von Garves Cicero geschuldet seien (49 ff.).

Die kantische Naturformel versucht Baum daher als eine Reformulierung des naturae vivere-Prinzips der stoischen Ethik zu lesen. Das Tugendgesetz als ein Naturgesetz vorzustellen, ist charakteristisch für die stoische Ethik und bedeutet nach Cicero, naturgemäß zu leben. Die Kantische Naturgesetzformel sei eine Umdeutung dieser Idee der Natur als eine durch meine Maxime zu stiftenden Ordnung unter vernünftigen Naturwesen. Der Mensch lebe seiner vernünftigen Natur gemäß, wenn er sich durch seine Maxime als Gesetzgeber für das Handeln aller vernünftigen Wesen verstehen könne.

Die Zweck-an-sich-Formel gibt nach Baum die Stellung des Menschen in der Natur an. Ohne jede Begründung werde die Sonderrolle des Menschen gegenüber den Tieren behauptet, aber nicht abgeleitet. Auch dieses Vorgehen habe eine Parallele bei Cicero. Wie bei Cicero zeichne die römisch-rechtliche Stellung des Menschen als Person – als Gegensatz zur Sache – die Rolle des Menschen als vernünftiger Natur gegenüber den Tieren aus (Baum 49 f., 52). Die Zweck-an-sich-selbst-Formel könne aber niemals an die Stelle des formalen Imperativs treten; denn dass es Zwecke an sich selbst gebe, sei die dogmatische Behauptung einer Metaphysik der Natur, die sich nach Kant gerade nicht begründen lasse.

Sowohl in der stoischen Ethik wie in der Grundlegung gehe aus der Verknüpfung der beiden Vorstellungsweisen eine dritte Formel hervor, wonach alle Maximen zu einem Reich der Zwecke als einem Reich der Natur zusammenstimmen sollen (52). Unter einem Reich verstehe Kant dabei ein systematisches Ganzes unter allen gemeinsamen Gesetzen, hier das Gesetz, dass jeder sich selbst und alle anderen niemals bloß als Mittel, sondern jederzeit als Zweck an sich selbst behandeln solle. Da dieses Reich aber auch aus einer gewissen Naturgesetzgebung entspringe, hätten wir es mit einem Reich der Zwecke als einem Reich der Natur zu tun. Bei Cicero heißt dieses Reich „communis humani generis societas", bzw. „communis tamquam humanitas corporis" (Cicero 1976, III 6, 28 bzw. 32). Durch das Gesetz der Natur gilt, der Nutzen eines jeden und aller zusammen ist identisch, den sie nur in der Gemeinschaft und nur füreinander sorgend erlangen können.

Selbst das Grundprinzip der Grundlegung, das Autonomieprinzip, hänge von der Zweck-an-sich-Formel ab. Es ist das Grundprinzip der Grundlegung, weil nur es unbedingte Imperative begründen kann. Alle anderen Prinzipien versuchen den Menschen einem Gesetz zu unterwerfen, das nicht dem eigenen Willen entsprang und dessen Nötigung zu gesetzmäßigem Handeln von etwas anderem als der eigenen praktischen Vernunft ausgeht. Deswegen konnte der Mensch nur vermittelst eines Interesses, eines „Reizes oder Zwang" gebunden sein.

Kant unterscheide seine Philosophie von allen vorhergehenden durch das Autonomieprinzip, das Prinzip, das kein Gesetz verbindlich sein könne, das nicht aus dem eigenen gesetzgebenden Willen hervorgehe. Es bestehe aber kein Zweifel, dass das Autonomieprinzip im zweiten Abschnitt der Grundlegung davon abhänge, dass der Mensch Zweck an sich sei, also von Voraussetzungen die nicht zu Kants eigener Philosophie gehören. Darum versuche Kant es im dritten Abschnitt auf zwei Wegen aus den eigenen Prinzipien zu begründen. Doch auch dieser Versuch scheitere, der erste Versuch Freiheit und Sittengesetz miteinander zu verknüpfen sei zirkelhaft, der zweite, es aus der gemeinen Menschenvernunft und der Annahme, es sei denkbar, dass wir außer zur Sinnenwelt noch zur intelligiblen Welt gehören, mache Freiheit zwar denkbar, beweise aber nicht ihre Realität.

Bleibt zu hoffen, dass dieser Band dazu beiträgt, dass diese Ergebnisse endlich in die Kantrezeption Eingang finden, obwohl dies bisher weder die Publikationen von Klaus Reich noch die Originalbeiträge der hier wiederabgedruckten Arbeiten bewirken konnten.

By Franz Hespe

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Titel:
Manfred Baum: Kleine Schriften 2. Arbeiten zu Kants praktischer Philosophie. Hrsg. von Dieter Hüning. Berlin/Boston: Walter de Gruyter, 2020. 391 Seiten. ISBN 978-3-11-060377-4
Autor/in / Beteiligte Person: Hespe, Franz
Link:
Zeitschrift: Kant-Studien, Jg. 114 (2023-03-08), S. 155-158
Veröffentlichung: Walter de Gruyter GmbH, 2023
Medientyp: unknown
ISSN: 1613-1134 (print) ; 0022-8877 (print)
DOI: 10.1515/kant-2023-2002
Schlagwort:
  • Philosophy
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: OpenAIRE

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