B rungs, A lexander M udroch, V ilem S chulthess, P eter Hrsg. Die Philosophie des Mittelalters. Band IV: 13. Jahrhundert Grundriss der Geschichte der Philosophie Basel Schwabe 2017 1700 € 290,00 978-3-7965-2626-8
Der Grundriss der Geschichte der Philosophie gehört zu den Standardwerken der Philosophiegeschichten und muss in seiner wissenschaftlichen Qualität keine Konkurrenz fürchten. Es gibt im deutschsprachigen Raum keine vergleichbar hochwertige Philosophiegeschichte.
Der Philosoph Friedrich Ueberweg (1826–1876), der seit 1862 eine Professur in Königsberg innehatte, gab seit 1863 die erste Auflage des Grundrisses heraus – damals angelegt auf drei Teile über die vorchristliche Zeit, die patristische und scholastische Zeit sowie die Philosophie der Neuzeit. Die Neubearbeitung erfolgte zwischen 1924 und 1927 unter wechselnden Herausgebern und Bearbeitern. Der Ueberweg – so die geläufige Metonymie – wuchs auf fünf Bände an, wobei die neuzeitliche Philosophie aufgeteilt wurde in die Philosophie bis zum Ende des 18. Jahrhunderts (Band 3) und in die Philosophie des 19. Jahrhunderts und der Gegenwart (Band 4) sowie in die Philosophie des Auslandes vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis auf die Gegenwart (Band 5). Im Jahr 1955 verkaufte der Verlag E. S. Mittler und Sohn in Berlin die Rechte am Grundriss an den Verlag Schwabe in Basel, in dem seit 1971 auch das Historische Wörterbuch der Philosophie verlegt wird. Bis 1983 erschienen Nachdrucke der ersten Neubearbeitung des Grundrisses, seitdem wird an einer weiteren Neubearbeitung unter wechselnden Herausgebern gearbeitet. Zwar war schon früher eine Neubearbeitung in Planung, diese kam aber aufgrund des frühen Todes des Gesamtherausgebers Paul Wilpert (1906–1967) nicht zu Stande. Die Reihe ist bis heute nicht abgeschlossen und wird laufend ergänzt. Im Vergleich zu den früheren Ausgaben des Grundrisses fällt auf, dass die zweite Neubearbeitung zu einer inhaltlich starken Ausweitung führte (in Form einer sehr ausführlichen Beschreibung einzelner Philosophen, Schulen und Epochen sowie einer Betrachtung auch außereuropäischer Philosophien) und als Herausgeber und Bearbeiter jeweils Spezialisten ihres Faches herangezogen werden.[
Auch die Herausgeber des vorliegenden Bandes sind Experten auf ihrem Gebiet: Peter Schulthess ist Professor für Theoretische Philosophie an der Universität Zürich, Alexander Brungs und Vilem Mudroch dort wissenschaftliche Mitarbeiter, wobei Mudroch bereits seit 1994 an verschiedenen Ausgaben des Grundrisses der Geschichte der Philosophie mitarbeitet und Schulthess als Koordinator zusammen mit Ruedi Imbach die Mittelalterbände des Grundrisses betreut.
Der umfangreiche Band zur Philosophie des 13. Jahrhunderts, der in zwei Teilbänden vorliegt, ist inhaltlich in drei Teile gegliedert (anders als andere Bände des Ueberweg): Der erste Teil beschäftigt sich mit den ‚Voraussetzungen' der Philosophie im 13. Jahrhundert: Dazu gehören eine allgemeine Verortung der Philosophie bezogen auf den Philosophiebegriff, aber auch auf das philosophiegeschichtliche Bewusstsein der Zeit. Daneben werden die institutionellen Voraussetzungen erörtert, etwa der Stand der Philosophie an den Universitäten. Schließlich wird im ersten Teil noch auf die Quellenlage mit Übersetzungen und Rezeptionen eingegangen. Der zweite Teil geht auf Autoren und Schulen in verschiedenen ‚Regionen' ein. Zu diesen Regionen gehören: Frankreich, England, Imperium Nord, Imperium Süd mit Kirchenstaat und Königreich Sizilien sowie die Iberische Halbinsel. Bedeutende Figuren der Philosophiegeschichte werden vorgestellt, die wegen ihrer Wirkmächtigkeit von herausragendem Interesse sind, etwa Thomas von Aquin, Roger Bacon, Albert der Große und Dietrich von Freiberg. Daneben werden Philosophen betrachtet, die heute – z. T. auch aufgrund der Quellenlage – etwas weniger bekannt sind (geordnet nach Regionen): Heinrich von Gent, Johannes von Paris, Jakob von Metz (Frankreich), Johannes Peckham, Johannes von Wales, Nikolaus von Ockham (England), Peter von Irland, Brunetto Latini (Imperium Süd, Kirchenstaat und Königreich Sizilien), Petrus Hispanus (Iberische Halbinsel) und weitere. Insgesamt bildet die Auswahl der Philosophen des 13. Jahrhunderts das philosophische Denken der Zeit damit hervorragend ab. Im dritten Teil geht es um ‚Disziplinen und Themen': Nach der Darstellung der „zeitgenössische(n) Diskussion um die Einteilung der Wissensgebiete werden einzelne Disziplinen vorgestellt, nämlich das Trivium, die Naturphilosophie, das Quadrivium, die Metaphysik [...], die praktische Philosophie und schließlich Medizin und Alchemie" (Vorwort, XXIII). Jedes Kapitel schließt mit einer umfangreichen, aus Platzgründen jedoch nicht vollständigen, dafür aber alle relevanten Forschungstitel umfassenden Bibliographie; zudem findet sich am Ende des Doppelbandes ein hilfreiches Sach- und Namenregister.
Es folgt ein Blick in einzelne Kapitel: Das erste Kapitel des ersten Teils befasst sich u. a. mit dem philosophiegeschichtlichen Bewusstsein im 13. Jahrhundert und wurde von P. Schulthess verfasst. Ein gewisses Interesse an der Philosophiegeschichte sei durchaus vorhanden gewesen, allerdings in einem anderen Sinne als heute und eben nicht als „Disziplin, die sich bemüht, mit historisch-kritischer Methode dasjenige zu sichern, was historische Denker [...] gesagt haben" (
Die Kapitel zu einzelnen Autoren im zweiten Teil des Bandes sind immer nach dem gleichen Schema aufgebaut: Zuerst wird die Primärliteratur vorgestellt, es folgt eine biografische Notiz zu allen wichtigen Stationen, bevor einzelne Werke beschrieben werden. Ausführlicher gehen die Verfasser auf die Lehren ein, abschließend auf die Wirkung. Die Einträge zu Roger Bacon (D. Perler) und Dietrich von Freiberg (L. Sturlese) sollen hier kurz vorgestellt werden. In beiden Einträgen wird die Primärliteratur umfassend dargestellt: Es werden nicht nur alle überlieferten Schriften genannt, sondern auch Schriften, bei denen fraglich ist, ob sie den Autoren zugeordnet werden können (Dubia) oder verlorengegangene Schriften. Kritische Werkausgaben sowie ausgewählte Übersetzungen runden die Literaturübersicht ab. Die Sekundärliteratur befindet sich erst am Ende eines jeden Kapitels, ist aber ebenso umfangreich und gibt den Stand der Forschung wieder. Die aktuellsten Beiträge zu Roger Bacon und Dietrich von Freiberg stammen jeweils aus dem Jahr 2013, was offenbar redaktionell bedingt ist. Die biographischen Angaben sind zutreffend, aber knapp, was teilweise auch der Quellenlage geschuldet ist. Äußerst kenntnisreich werden in beiden Einträgen die Werke der Philosophen dargestellt. Dies verwundert nicht, da Perler und Sturlese Experten auf dem Gebiet der mittelalterlichen Philosophie sind und Sturlese etwa als Herausgeber an der kritischen Gesamtausgabe zu Dietrich von Freiberg mitgewirkt hat. Die Darstellung der Lehren spiegelt in beiden Fällen die Gesamtheit der philosophischen Tätigkeit der Philosophen wider. Im Artikel zu Roger Bacon sind dies die Zeichen- und Sprachtheorie, die Naturphilosophie, die Wissenschaftslehre sowie die Alchemie und Astrologie, im Artikel zu Dietrich von Freiberg u. a. die konstitutive Tätigkeit des erkennenden Dialekts, die Intellektphilosophie sowie die Frage nach den getrennten Substanzen. In ihrer Einschätzung zur Wirkung der Philosophen liegen die Verfasser richtig: Bacon gilt entweder als „geheimnisvoller Magier oder als streng empirisch arbeitender Naturwissenschaftler" (
Zu fragen ist, warum einzelne Philosophen, die durchaus bereits im 13. Jahrhundert gewirkt haben, nicht in den vorliegenden Band aufgenommen wurden. Das betrifft etwa Eckhart von Hochheim, der um 1260 geboren wurde und als einer der bedeutendsten Theologen und Philosophen des Mittelalters gilt. Dazu gibt das Vorwort der Herausgeber einen Hinweis: Eckhart von Hochheim und andere Gestalten würden dem 14. Jahrhundert zugeordnet, weil „mit ihrem Wirken und der Rezeption ihrer Werke neue, wesentliche Debatten des 14. Jahrhunderts eröffnet worden waren" (Vorwort, XXII). Das ist auch der Grund dafür, Wilhelm von Auxerre in den Band aufzunehmen, der um 1140/50 geboren wurde und „dessen Summa aurea [...] in einem gewissen Sinn als Kondensat des Denkens des 12. Jahrhunderts gesehen werden" könne und „genau deshalb aber zu einem wichtigen Ausgangspunkt für die philosophischen Bemühungen des 13. Jahrhunderts wurde" (Vorwort, XXII).
Stellvertretend für den dritten Teil des Bandes, in dem Disziplinen und Themen der Philosophie im 13. Jahrhundert behandelt werden, soll die Einleitung zu diesem Teil von P. Schulthess zur Wissenschaftseinteilung besprochen werden. Auch dieser Teil beginnt mit der verwendeten Primärliteratur, die Sekundärliteratur folgt zum Ende des Kapitels: Die aus der Tradition bekannten Einteilungen der Wissenschaften würden auch im 13. Jahrhundert übernommen und teilweise modifiziert. Maßgeblich seien die Einteilungen von Platon, Aristoteles oder auch der Stoa. Platons „Konzept einer Einheitswissenschaft" (1113) werde bei Aristoteles in drei Bereiche unterteilt: theoretisches Wissen, praktisches Wissen, poietisches Wissen. Ziel des theoretischen Wissens sei das Anschauen. Dieses Wissen werde in die Bereiche Erste Philosophie, Mathematik und Physik unterteilt. Das praktische Wissen habe hingegen als Ziel eine Anleitung zur Handlung. Auch dieser Bereich werde aufgefächert, und zwar in die Disziplinen Ethik, Politik und Ökonomie. Nach Aristoteles sei das Ziel der „theoretischen Philosophie [...] die Schau der Wahrheit; Ziel der praktischen Philosophie [...] die Handlung" (1114). Die poietischen Wissenschaften seien hingegen auf das Herstellen von Gegenständen gerichtet, etwa das Handwerk oder auch die Medizin, „insofern sie Gesundheit zustande bringt" (1114). Die Logik stehe bei Aristoteles noch außerhalb der drei Bereiche, weshalb es bereits in der Spätantike Streit gegeben habe, ob sie Teil der Philosophie oder lediglich Werkzeug des Philosophierens sei (1114). Das seit der Spätantike bestehende System der artes liberales sei mit der platonischen Einteilung der Wissenschaft in Dialektik und Mathematik insgesamt besser zu vereinbaren als das System des Aristoteles. Die artes liberales unterscheiden sich bekannterweise in das Trivium (Logik, Grammatik, Rhetorik) und das Quadrivium (Arithmetik, Geometrie, Musik, Astronomie). Um das Verhältnis von ‚ars' und ‚scientia' näher zu bestimmen, diskutiert Schulthess diese Begriffe auf dem Hintergrund der Zeit. Auch hier ergibt sich eine Unterscheidung in zwei Disziplinen, der praktischen (nämlich ‚artes') und theoretischen Philosophie (nämlich ‚scientiae'). Es folgen weitere und spezialisierte Einteilungen der Wissenschaft, die hier nicht einzeln wiedergegeben werden sollen. Der erste Teil des Kapitels endet mit Klassifikationsschriften, die sich näher mit der Einteilung der Wissenschaften befassen, wie Schriften von Robert Grosseteste, Alberich von Reims und insbesondere Robert Kilwardby, der mit seiner in der Mitte des Jahrhunderts entstandenen Schrift De ortu scientiarium die anderen Texte zur Wissenschaftseinteilung „an Gehalt und Ausführlichkeit übertroffen" (1120) habe, weshalb dieser Schrift ein eigenes Unterkapitel gewidmet ist. Er interessiere sich besonders für das „Entstehen einer Wissenschaft" (1126). Zur Wissenschaft gehöre wesentlich, „dass sie ein gezieltes Tun des Menschen ist und nicht lediglich ein Satzsystem" (1126). Er bespreche für „jede Wissenschaft deren Entstehung (ortus), Gegenstand (subiectum), Ziel (finis) und Definition (definitio)" (1126). Eine Wissenschaft entstehe als ‚ars', die an eine unreflektierte Praxis anknüpfe und sie regele: So folge die Wissenschaft der Arithmetik auf die Praxis des Zählens, die Musik auf die Praxis des Singens usw. Insgesamt „hilft Wissenschaft so, Irrtümer zu korrigieren und menschliche Handlungen zu perfektionieren" (1126). Eine Definition, die wissenschaftsgeschichtlich äußerst interessant erscheint und sicherlich auch heute noch nicht an Aktualität eingebüßt hat.
An dieser Stelle muss man über die besonderen Aufgaben einer Philosophiegeschichte sprechen: Sie liefert einerseits als Vergegenwärtigung der eigenen Geschichte Informationen über Epochen und Philosophen, fordert zweitens aber auch zur Verarbeitung des Gelesenen auf, regt zum Weiterdenken an und wird damit wieder zur Philosophie. Diese intensive „Arbeit am Logos" (Steenblock) mache philosophische Bildung überhaupt erst möglich.[
Die philosophische Bildungsstufe, die der Einzelne vor seiner Bekanntschaft [...] mit der Geschichte der Philosophie schon erreicht hat, soll das Verständniss dieser Geschichte ermöglichen, jedoch ebensowohl auch durch das historische Studium erhöht und geläutert werden; danach aber muss wiederum das bereits mittelst der Geschichte und Systematik durchgebildete philosophische Bewusstsein für ein tieferes und wahreres Verständniss der Geschichte sich fruchtbar erweisen [...].[
Zusammengefasst bedeute diese ‚Wechselwirkung' nach Rother, dass eine Philosophiegeschichte den Anspruch nach Erkenntnisgewinn vertreten und dass das Philosophieren immer auch philosophiegeschichtlich fundiert sein müsse.[
Damit zu den Bewertungskriterien, die sich aus den Ansprüchen Ueberwegs für alle Bände des Grundrisses, also auch für den vorliegenden Band, ergeben:
- Eine Philosophiegeschichte solle alles inhaltlich Relevante kurz, aber präzise wiedergeben.
- Sie solle selbst an der Forschung mitarbeiten.
- Sie solle ihrem didaktischen Auftrag gerecht werden.
Alle genannten Ansprüche erfüllt der Band zur Philosophie im 13. Jahrhundert in exzellenter Weise: Das, was für die Philosophie im 13. Jahrhundert wesentlich ist, wird in kurzer Form, aber prägnant wiedergegeben. Durch die Mitarbeit internationaler Experten wird sichergestellt, dass nicht allein der Forschungsstand referiert, sondern dieser auch erweitert wird. Nicht zuletzt ist auch die Darstellung durch die strukturierte und übersichtliche, aber eben auch ausgewählte Form didaktisch aufbereitet, sodass auch diese letzte Anforderung erfüllt ist. Insgesamt wäre sicherlich auch Friedrich Ueberweg hocherfreut über die Entwicklung des Grundrisses und auch die ältere Einschätzung Hans-Georg Gadamers trifft voll und ganz auf den vorliegenden Band zu: „Ein Handbuch von Weltruf [...]."[
By Stefan Düfel, Reviewer
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