Wehofsits, Anna Anthropologie und Moral. Affekte, Leidenschaften und Mitgefühl in Kants Ethik Walter de Gruyter Berlin/Boston 1 162 [Quellen und Studien zur Philosophie 127] 2016 978-3-11-045553-3
Bekanntlich hat sich Kant zeit seines Lebens intensiv mit Fragen der Anthropologie auseinandergesetzt. Dennoch wurde die Erörterung der Relevanz, die dieser Auseinandersetzung und deren Ergebnisse zukommt, in der Zeit des Neukantianismus, aber auch nach der Entstehung einer institutionalisierten Kant-Forschung eindeutig vernachlässigt. Freilich gab es auch markante Ausnahmen, wie etwa der 1966 in der Heimsoeth-Festschrift erschienene Aufsatz Friedrich Kaulbachs, Kaulbach, Friedrich: „Weltorientierung, Weltkenntnis und pragmatische Vernunft bei Kant". In: Kritik und Metaphysik. Studien. Heinz Heimsoeth zum achtzigsten Geburtstag. Berlin 1966, 60−75. und die Rezeption dieser Ausnahmen sowie weitere Faktoren - wie etwa die von Reinhard Brandt und Werner Stark besorgte, 1997 erfolgte Veröffentlichung der einschlägigen Vorlesungen - haben dazu beigetragen, dass sich ab Ende des 20. Jahrhunderts reges Interesse an der Anthropologie Kants gezeigt hat.
Zu den wichtigsten Untersuchungen, die seitdem erschienen sind und sich dieser Thematik widmen, gehört die hier zu besprechende Studie. Sie fängt mit einer vorzüglich orientierenden Einleitung (1−9) an, in der zwei Projekte der Ethik Kants von einander unterschieden werden: „das berühmte Projekt einer Moralbegründung a priori" einerseits und „das anwendungsorientierte Projekt einer moralischen Anthropologie" andererseits (
Es spricht für die Gewissenhaftigkeit von Wehofsits, dass sie gesteht, „dass Kant sein Projekt einer moralischen Anthropologie in keiner seiner Schriften systematisch ausarbeitet" und dass sich daher die „Suche nach deren konkreten Leistungen" als „‚Detektivarbeit'" Die Autorin übernimmt hier eine Bezeichnung Robert Loudens (Robert Louden: Kant's Human Being. Essays on his Theory of Human Nature. Oxford/New York 2011, 52). gestaltet (ebd.; vgl. 23). Dies ist an sich nicht problematisch, da es zahlreiche Stellen in Kants Werk gibt, die bei einer Rekonstruktion herangezogen werden können und sich die Autorin auf eine Vielzahl von Untersuchungen stützen kann, die „die Aufwertung empirischer Gefühle in Kants Ethik" vorantreiben (1 f., 5). „Pionierarbeit [...] auf diesem Feld" haben nach Wehofsits „vor allem Marcia Baron und Nancy Sherman geleistet" (Marcia Baron: Kantian Ethics Almost without Apology. Ithaca 1995, und Nancy Sherman: Making a Necessity of Virtue. Aristotle and Kant on Virtue. Cambridge/New York 1997, 5). Indessen sollte diese Rekonstruktion von einer Reflexion über die Gründe begleitet werden, die dazu geführt haben, dass Kant es bei verstreuten Bemerkungen belassen und sein Projekt nicht ausgeführt hat. Dass die in Frage stehende Reflexion in Wehofsits' Buch nicht zu finden ist, Der am besten geeignete Ort dafür wäre das erste Kapitel der Arbeit (10−34), das von der Idee und der Ausführung der moralischen Anthropologie handelt. wird bei seiner Lektüre als eine Lücke empfunden, da es unklar bleibt, welchen Stellenwert Kant selbst den Ergebnissen der in der Studie sorgfältig vorgenommenen Rekonstruktion letztendlich zuschreiben würde. Dies wird an Hand der folgenden Ausführungen deutlich.
Kant unternimmt in seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht eine strikte Unterscheidung zwischen physiologischer und pragmatischer Menschenkenntnis. Erstere „geht auf die Erforschung dessen, was die Natur aus dem Menschen macht", Letztere „auf das, was er als freihandelndes Wesen aus sich selber macht, oder machen kann und soll" (Anth, AA 07: 119; vgl. 13 ff.). Kant wählt also in seiner anthropologischen Stellungnahme den Weg der Abgrenzung der freien Selbstgestaltung des Menschen von jeglichem Naturzusammenhang und geht so weit zu behaupten, dass, da „die Moral [...] an sich selbst eine Praxis in objectiver Bedeutung, als Inbegriff von unbedingt gebietenden Gesetzen, nach denen wir handeln sollen", ist, es daher als „offenbare Ungereimtheit" betrachtet werden muss, „nachdem man diesem Pflichtbegriff seine Autorität zugestanden hat, noch sagen zu wollen, dass man es doch nicht könne" (ZeF, AA 08: 370). Mit anderen Worten: Die Pflicht diktiert dem Menschen, was er tun soll und kann, und natürliche Dispositionen, die das moralische Handeln hemmen oder fördern - d. i. der Gegenstand der moralischen Anthropologie -, spielen dabei letzten Endes eine nebensächliche Rolle.
Auch wenn Kant intensiv versucht hat, nicht nur der intelligiblen, sondern auch der empirischen Welt gerecht zu werden, legt er letzten Endes den Akzent sowohl in seiner theoretischen als auch in seiner praktischen Philosophie eindeutig auf den mundus intelligibilis. Speziell mit Blick auf die Anthropologie kann man sagen, dass der Metaphysiker in Kant nach einem lebenslangen Kampf den Anthropologen in ihm besiegt hat, wodurch sich viele seiner (Denk-)Entscheidungen erklären lassen. Aus diesem Grund etwa widmet er die letzten Energien seines Körpers und seines Geistes der Verfassung des Opus Postumum und nicht der schärferen Konturierung und Vervollständigung seiner Anthropologie. Dies gilt sowohl für die pragmatische als auch für die moralische Anthropologie. Mit Blick auf die letztere ist es nun kein stilistischer Zufall, dass in der zentralen Passage aus der Metaphysik der Sitten (MS, AA 06: 217; vgl. 3), die ihre Idee umreißt und oben zum Teil wiedergegeben wurde, von ihr nur im Konjunktiv die Rede ist. Wehofsits räumt zwar ein, dass die Anthropologie „fragmentarisch" bleibt und dass „Idee und Ausführung" nicht übereinstimmen (
Abgesehen von Fragen einer immanenten Kant-Interpretation hat Wehofsits völlig Recht, die systematische Bedeutung des Projekts einer moralischen Anthropologie zu betonen. In der Tat muss jede moralische Entscheidung „unter empirischen Bedingungen getroffen und realisiert werden, die wir nur begrenzt beeinflussen können": „Dazu gehören einerseits Bedingungen unserer biologischen Natur", wie „unser Schlaf- und Nahrungsbedürfnis", und „andererseits soziale Bedingungen, die sich aus den sozialen Strukturen und Praktiken unseres Umfelds ergeben" (
Wehofsits gelingt hier sowie in dem zweiten Teil ihres Buches (95−150), der sich mit dem moralischen Schein im Sinne vorgetäuschter Moralität, der Charakterbildung und der Kultivierung von Mitgefühl befasst, eine bemerkenswerte Rekonstruktion und Diskussion des kantischen Projektes einer moralischen Anthropologie. Ein wichtiges Augenmerk liegt dabei auf der Feststellung von Ambivalenzen und Unstimmigkeiten in Kants Analysen, die entweder von der Autorin fruchtbar gemacht werden, indem sie zeigt, dass sie der Natur der Sache entsprechen, oder als tatsächliche Inkonsequenz Kants kritisiert werden. Besonders zutreffend sind Wehofsits' Ausführungen, wenn sie die Bedeutung des Leibes bei Kant hervorheben. Dies geschieht, wenn sie etwa erwähnt, dass der Affekt des Zorns uns unwillkürlich erröten oder erbleichen lässt (45; vgl. Anth, AA 07: 260), oder wenn sie Kants Bemerkung zitiert, dass „Kinder [...] früh zum freimüthigen, ungezwungenen Lächeln gewöhnt werden" sollten, „denn die Erheiterung der Gesichtszüge hiebei drückt sich nach und nach auch im Inneren ab und begründet eine Disposition zur Fröhlichkeit" (Anth, AA 07, 264: 55). Beide Beispiele zeigen anschaulich, wie die Moral die leiblich-seelische Einheit des Menschen zur Voraussetzung hat.
Insgesamt hat man den Eindruck, dass sich die Autorin durch ihre 2016 mit dem Kant-Förder-Preis der Immanuel Kant-Stiftung, Freiburg prämierte Arbeit nicht nur - und an manchen Stellen nicht primär - als Kant-Forscherin, sondern vor allem als ernstzunehmende Moralphilosophin qualifiziert. Dies gilt auch für das abschließende Kapitel der Untersuchung (151−154), das den Titel „Selbsterkenntnis als Prozess" trägt. Auf die Veröffentlichung von weiteren einschlägigen Ergebnissen der Autorin in der Zukunft darf man gespannt sein.
By Nikolaos Loukidelis
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