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‚Eine auf Dauer gestellte Provokation': Die Philosophie J. H. Jacobis.

Bowman, Brady
In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Jg. 67 (2019-12-01), Heft 6, S. 1024-1034
Online academicJournal

‚Eine auf Dauer gestellte Provokation': Die Philosophie J. H. Jacobis 

Sandkaulen, Birgit. Jacobis Philosophie. Über den Widerspruch zwischen System und Freiheit, Hamburg, Meiner, 2019. 350 S.

Als den „mit Kant gleichzeitigen Reformator in der Philosophie" bezeichnet ihn Fichte. Hegel schreibt ihm zusammen mit Kant das gemeinsame Verdienst zu, die „Notwendigkeit einer völlig veränderten Ansicht des Logischen" begründet und einen „Wendepunkt in der geistigen Bildung der Zeit" herbeigeführt zu haben. Fichte, Gesamtausgabe I,7, hg. v. d. Bayer. Akad. d. Wiss., Stuttgart 1962 ff., 194; Hegel, Gesammelte Werke 15, hg. v. d. Nordrhein-Westfäl. Akad. d. Wiss., Hamburg 1968–2014, 25, u. Brief an Niethammer (26.3.1819), in: Briefe von und an Hegel 2, hg. v. J. Hoffmeister, Hamburg 1952, 213. Friedrich Heinrich Jacobi löste durch seine 1785 publizierte Schrift Über die Lehre von Spinoza eine Kontroverse um das Verhältnis von Rationalität und Freiheit aus, die das geistige Klima entscheidend prägte, in dem die eben erst heraufkommende Generation Kants kritische Philosophie rezipieren sollte. Diese und Jacobis weitere Interventionen in das gebildete Leben wirkten initiativ für das als „Deutscher Idealismus" in die Geschichte eingegangene Ringen um eine Neubegründung der Philosophie, das er auf seinen wichtigsten Etappen als einflussreicher Kritiker begleitete.

Nach dem Urteil bedeutender Zeitgenossen wie Fichte und Hegel gehört Jacobi also zu denen, die sie an der Schwelle ihrer eigenen geistigen Gegenwart zuerst empfingen und hinübergeleiteten; von der seitherigen Forschung ist ihm eine gleichwertige Anerkennung größtenteils versagt geblieben. Dafür symptomatisch ist der Epochenbegriff des Nachkantianismus, der heute wie selbstverständlich zur Bezeichnung der mit Reinhold und Fichte einsetzenden Entwicklungen dient. Jacobis Namen hat man dort, wo man die Ursprünge des Deutschen Idealismus suchen zu sollen meint, verschwinden lassen und Jacobi selbst bestenfalls „nur aus der Perspektive des Anregers wahrgenommen" (18, Hervorh. im Orig.), schlimmstenfalls als Irrationalisten, als religiös inspirierten oder gar christlich-dogmatischen „Glaubensphilosophen" (vgl. 26, 34) abgestempelt. Anstelle einer Auseinandersetzung mit Jacobis Philosophie hat man, wie Birgit Sandkaulen die forschungsgeschichtliche Tendenz pointiert auf einen Nenner bringt, „Jacobis eigene Position kurzerhand mit dem Reflex identifiziert, wie er in der Rezeption [...] als seine vermeintlich eigene Position zur Sprache kam" (18, Hervorh. im Orig.).

Mit ihrem Buch leistet Sandkaulen einen wegweisenden Beitrag zur Berichtigung dieses Missverhältnisses. Weit davon entfernt, im Laufe der von ihm selbst mitausgelösten Entwicklung des idealistischen Systemprogramms absorbiert und darin positiv „aufgehoben" worden zu sein, „bleibt Jacobis Realismus eine auf Dauer gestellte, aus strukturellen Gründen nicht überwindbare Provokation" (167). Diese These belegt und vertieft Sandkaulen in vierzehn zuvor veröffentlichten, hier zum ersten Mal versammelten Aufsätzen, die sie unter zwei großen Überschriften („Leitmotive" resp. „Bezüge") zu einer thematisch gegliederten Folge angeordnet hat. Die im ersten Teil zusammengeführten Texte (Nr. 1–8) arbeiten die mit Jacobis „authentischem Anliegen" (19) verbundenen Motive, Ansätze und Thesen heraus, um die Originalität und Aktualität seiner Position in Auseinandersetzung mit seiner philosophischen Umwelt kenntlich und einer angemessenen Würdigung zugänglich zu machen. Zugleich bilden sie ideell die Grundlage, auf der die im zweiten Teil versammelten Texte (Nr. 9–14) prüfen, inwiefern die Systemphilosophen Fichte, Schelling und Hegel zu Recht beanspruchen, Jacobis Impulse unverfälscht aufgenommen und integriert zu haben. Hierzu fällt Sandkaulens Urteil negativ aus.

Von einigen wenigen, unvermeidlichen Überschneidungen und situationsbezogenen Hinweisen abgesehen, merkt man den Texten nicht an, dass sie unabhängig voneinander in verschiedenen Kontexten entstanden sind, so sehr fügen sie sich inhaltlich, gedanklich, stilistisch ineinander. Ihrer Überschrift entsprechend setzen die Aufsätze des ersten Teils die Thesen und Topoi leitmotivisch zueinander ins Verhältnis, die Jacobis Denken sein spezifisches Profil verleihen. Die ersten beiden Texte (Nr. 1–2) befassen sich schwerpunktmäßig mit dem Gedanken einer präreflexiven, durch keine Begriffe adäquat nachzukonstruierenden Gewissheit, die Jacobi als „Glauben" bzw. „Gefühl" und „Offenbarung" bezeichnet und die seinen berühmten „Sprung", den Salto mortale aus dem deduktiven System Spinozas motiviert. Das Neuartige an Sandkaulens Deutung kommt in diesen gleichsam einleitenden Texten bereits zur Geltung: Die Beweggründe von Jacobis Rationalitätskritik liegen in der zentralen Bedeutung, die er dem „personalen Handlungsbewusstsein" (50) zuschreibt, und seiner daraus erfolgenden Bindung der „Evidenzbasis [...] an die Praxis des Lebens" (48).

Die spezifisch jacobische „Handlungsmetaphysik" (46), die Sandkaulen hier einführt, bildet die Grundlage sowohl seiner Rationalitätskritik als auch seiner religionsphilosophischen Überzeugungen, insbesondere im Hinblick auf die Idee einer „verständigen persönlichen Ursache der Welt" (36). Ihre begrifflichen Konturen treten in den darauffolgenden Texten (Nr. 3–6) mit zunehmender Deutlichkeit hervor, vor allem im Hinblick auf Jacobis Konzeption von Geist und Vernunft (Nr. 3) und der Rolle der moralischen Gefühle beim ethischen Handeln (Nr. 4); auf seine Rehabilitation des Personenbegriffs gegenüber dem „mentalitätsgeschichtlichen" Befund eines grundsätzlichen Verdachts, unter den seine Zeitgenossen die persönliche Individualität stellen (105, vgl. 242); und – in dem einzigen Jacobis literarischem Schaffen gewidmeten Text (Nr. 6) – im Hinblick auf die ethische Signifikanz des personalen „Wer-Seins" im Kontext der Freundschaft. Die beiden letzten Aufsätze dieses Teils sind mit 32 bzw. 28 Seiten die umfangreichsten und m. E. die an historischen und systematischen Implikationen reichsten, wenn man sie im Kontext der um sie herum geordneten Texte betrachtet. (Von Umfang und Anordnung her bilden sie wohl nicht zufällig die Mitte des ganzen Buches.) Sie rücken Jacobis praktischen Realismus in besonderer Weise in den Vordergrund. Es bietet sich deshalb an, zunächst einmal ihren Inhalt eingehender zu besprechen, um dann in ihrem Lichte die Beiträge der vorangehenden Texte zu würdigen.

In dem Aufsatz „‚Ich bin und es sind Dinge außer mir'. Jacobis Realismus und die Überwindung des Bewusstseinsparadigmas" (Nr. 7) entwickelt Sandkaulen die bei Jacobi angelegte Konzeption einer „basale[n] Form des Selbstgewahrseins" (164), das, indem es allen Organismen zukommt, in einer ontologisch tieferen, dem Bewusstsein vorausliegenden Schicht des individuellen Fürsichseins gründet. Im Gegensatz zu den theoretizistisch ausgerichteten Spielarten des Außenweltrealismus, etwa in Gestalt des sog. direkten Realismus (153), verbindet sich diese Konzeption bei Jacobi mit einem in der Erfahrung des Handelns begründeten praktischen Realismus, dem zufolge „Selbst- und Welterfahrung [...] ursprünglich und untrennbar verbunden" (141) sind. Anstatt den epistemischen Bezug auf „Dinge außer mir" inferenziell auf den Begriff der Kausalität zu gründen oder transzendental mit der Eigenschaft der Räumlichkeit überhaupt zu identifizieren, sieht Jacobi vielmehr die Begriffe von Raum, Zeit und Kausalität bereits in dem Grundsachverhalt der „Interaktion von verkörperten Individuen" (158, vgl. 145–150, 156–158) angelegt.

Die These vom praktischen Ursprung des Kausalitätsbegriffs (156) ist folgenreich. Neben der Konzeption der Natur als „Wirkungszusammenhang lebendiger Organismen" (160), mit der Jacobi Kants Thematisierung der biologischen Natur in der Kritik der Urteilskraft um mehrere Jahre zuvorkommt (ebd.), seien vor allem folgende drei, mit der Unvertretbarkeit der erstpersonalen Perspektive verbundenen kritischen Implikationen hervorgehoben. Zu Jacobis Stellung zum Naturalismus:

Weil Fürsichsein unvertretbar ist und sich so prinzipiell jeder Erklärung entzieht, begreifen wir uns nicht besser oder schlechter, wenn wir menschliches Leben als eine graduelle Entwicklung aus der Natur verstehen. Wohl aber gewinnen wir aus der Perspektive unseres Fürsichseins ein qualitativ angemesseneres Verständnis der Natur, wenn sie uns dazu führt, sie als lebendig und jeweils selber in einem inneren Fürsichsein fokussiert zu verstehen (165–166)

Im Hinblick auf das Anerkennungsverhältnis:

Unerträglich aus Sicht der nachkantischen Systematisierung ist die Irreduzibilität und Unvertretbarkeit des erstpersonalen Fürsichseins in seiner Relation zu Anderem, die nicht zuletzt auch der Beziehung der Anerkennung zugrunde liegen muss und nicht umgekehrt aus ihr entspringen kann (166)

Eine dritte Implikation betrifft Kants Idee der Kausalität aus Freiheit, die Kant „einem ‚intelligiblen Charakter' im Sinne eines absolut spontanen und außerhalb aller Zeit erfolgenden Beginnens zuschreibt und vom ‚empirisch' determinierten Charakter abhebt" (159). Kants Auffassung von Handlungskausalität bedeutet mithin eine „Binnenaufspaltung unserer selbst" (ebd.), die sich mit der Wirklichkeit der erstpersonalen Handlungsperspektive nicht vereinbaren lässt.

Die kritischen Implikationen von Jacobis „entschiedenem Realismus" stehen im Vordergrund des Textes „Das ‚leidige Ding an sich'. Kant – Jacobi – Fichte" (Nr. 8), der Mängel in Fichtes idealistischer Rezeption dieser Kritik ebenfalls thematisiert. Jacobis kritisches Fazit gegen den transzendentalen Idealismus wird häufig zitiert: Er habe „ohne jene Voraussetzung [sc. der Dinge an sich] in das System nicht hineinkommen, und mit jener Voraussetzung darinn nicht bleiben" (JWA 2.1, 109, Hervorh. im Orig.) können. Einer gängigen Auffassung zufolge soll Jacobis Vorwurf auf die nach Kants eigener Lehre illegitime und darum inkonsistente Anwendung der Kategorie der Kausalität auf die Dinge an sich als mutmaßliche Ursachen der sinnlichen Affektion zielen (173). Jacobis Punkt ist jedoch, wie Sandkaulen zeigt, ein ganz anderer; er betrifft vielmehr das metaphysische und erkenntnistheoretische Fundament der Kritischen Philosophie (150–151). Denn Jacobis Einwand bezieht seine eigentliche Kraft aus der praktizistisch verfassten Gleichursprünglichkeit und Untrennbarkeit von Spontaneität und Rezeptivität, von Selbst- und Welterfahrung. Aus ihr folgt, dass sowohl das Bewusstsein meiner selbst als auch die Vorstellungen von Raum, zeitlicher Sukzession und kausaler Interaktion mit Realem außer mir eine in der Erfahrung des Handelns ursprünglich gegebene Einheit bilden (154–162).

Die praktische Konstitution und die Struktur des Realitätsbezugs implizieren, dass die Vorstellung von Dingen, die im räumlichen Sinne außer mir sind, untrennbar von – weil gleichen Ursprungs mit – der Vorstellung von Dingen ist, die im ontologischen Sinn von mir unabhängig sind und mich in kausaler Interaktion affizieren. Indem Kant diese beiden an sich untrennbaren Vorstellungen von Raum und Kausalität voneinander trennt, bewirkt er eine unvermeidbare Inkohärenz in seiner Konzeption des Zusammenhangs zwischen sinnlicher Affektion und Erscheinung von Realem und infolgedessen auch in der transzendentalidealistischen Theorieanlage im Ganzen (182). Jacobis „entschiedener", d. h. praktischer Realismus beinhaltet dagegen die Anerkennung der Sinnlichkeit als eines „medialen Zwischen" (188, Hervorh. im Orig.), eines Welt und Subjekt aufeinander beziehenden Mittels. „Dass allein diese mediale Struktur für die ursprüngliche Voraussetzung von Realem einstehen kann, ist Jacobis bedeutsame These" (189). Darum vermag er auch der „affektionstheoretischen Voraussetzung Kants einen Sinn abzugewinnen, der sich transzendentalphilosophisch [...] nicht mehr artikulieren lässt" (190).

Blickt man vom Standpunkt des praktischen Realismus aus auf die vorausgegangenen Aufsätze zurück, tritt der systematische Zusammenhang mit noch deutlicheren Konturen hervor. Das in keiner Relation aufgehende, sondern allen Verhältnissen – das repräsentationale Bewusstsein eingeschlossen – als Bedingung vorauszusetzende Fürsichsein macht das lebendige Individuum aus. Den Personalitätsbezug arbeitet Sandkaulen im Text „Dass, was oder wer? Jacobi im Diskurs über Personen" (Nr. 5) heraus. Vom personalen „Was-Sein" – d. h. die durch Interaktion mit anderen Individuen gebildete relationale Identität der Person – unterscheidet sie die „freie Identität" des Wer-Seins: „Wer jemand ist: das geht in dem, was er ist, nicht auf – und zugleich ist es etwas anderes als nur die Anzeige eines nackten Dass, eines bloß unbestimmten Seins, das sich zu den Bestimmungen des Was wie die Voraussetzung eines Substrats verhielte" (111, Hervorh. im Orig.).

So der Kern von Jacobis Kritik an der neuzeitlichen „Philosophie der Subjektivität", die deshalb nicht als „Philosophie der Person" (95) gelten darf, weil sie unter Ausblendung des Wer-Seins anstrebt, die Personalität als bloße Spezifikation einer an sich allgemeinen Struktur der Subjektivität abzuleiten, indem sie sie auf das bloße Was-Sein reduziert. Jacobi hingegen begreift das „existentielle Selbstsein der Person" nicht als Resultat, sondern als eine „wesentlich singuläre, durch und durch individuelle Existenz", die „in dieser Singularität des ‚Unvergleichbaren' schlechthin anzuerkennen ist" (111). Als „Geist" eines Menschen ist es das Wer-Sein, wodurch „er der ist, der er ist, dieser Eine und kein anderer" (WL: JWA 3,26; zit. in Sandkaulen, 111, Hervorh. im Orig.).

Diese anti-universalistische Konzeption hat wichtige ethische Implikationen zum einen im Hinblick auf die Würde der Person (ebd.), die in der gesamten Epoche der klassischen deutschen Philosophie von latent anti-personalistischen Einstellungen tangiert ist, die in dem Verdacht gegen das unaufhebbar Individuelle der Persönlichkeit zum Ausdruck kommen (vgl. 95–106). Auch darum bleibt „Jacobis Position trotz ihrer ungeheuren Wirkung ein Stein des Anstoßes [...]. Denn eine Wissenschaft war hier von jeher storniert, wenn denn im Namen der Person ihr Selbstsein respektiert sein soll" (117).

Zum anderen ergeben sich Implikationen für das Verständnis menschlicher Freiheit, wie es Sandkaulen vor allem im Aufsatz „Zwischen Spinoza und Kant: Jacobi über die Freiheit der Person" (Nr. 4) expliziert. Ihr kritischer Standpunkt gegenüber Spinoza, Kant und Hegel, die in je unterschiedlicher Weise das Allgemeine vor dem Individuellen privilegieren, fußt auf Jacobis praktischem Realismus und der darin implizierten organisch-interaktiven Naturkonzeption. Wenn zur Einführung des Begriffs einer „vernünftigen Begierde" und zur Rehabilitation der moralischen Gefühle gegenüber dem Intellektualismus der kantischen Ethik Sandkaulen an die „reine Selbsttätigkeit" appelliert, die vom „lebendigen Beziehungsgeflecht von Existenz und Koexistenz, von Tun und Leiden" immer schon vorausgesetzt wird, erkennt man ohne Weiteres dieselbe Grundtatsache, die in den anderen Texten unter den Begriffen „Fürsichsein", „Wer-Sein" oder „Geist" firmiert.

Doch an gegenwärtiger Stelle wird des Weiteren auch deutlich, dass das Wer-Sein seinerseits durch eine Fähigkeit zur Distanzierung vom Interesse der Selbsterhaltung bedingt ist: „Unser personales Selbstverständnis [hängt] intrinsisch daran, jemand sein zu wollen, der im Blick auf sein eigenes Handeln und im Blick auf das Handeln anderer zwischen den Interessen des Nützlichen und des Guten unterscheiden kann" (89). Die Realität dieses sittlichen Wollens zeigt sich Jacobi zufolge nicht an der Achtung vor einem universalen, für alle Vernunftwesen in gleicher Weise verbindlichen Moralgesetz, sondern vorzugsweise an moralischen Gefühlen wie dem der Ehre, in denen das Wer-Sein handlungsleitend und motivierend wird: „Wer seine Ehre in etwas setzt, ist mit seinem ganzen persönlichen Selbstsein engagiert, er steht aus freien Stücken für eine Lebensführung ein" (89–90).

Gegenüber Kant bedeutet dies zwar eine Ausweitung des Begriffs der Autonomie, insofern als die in der Individualität des Geistes wurzelnden, seine Handlungen motivierenden Triebe hier nicht schon grundsätzlich als heteronome Faktoren gelten. Aber zugleich markiert es eine wichtige Grenze der Autonomie: Suggeriert Kants Gedanke einer „intelligiblen Tat," wir hätten uns gleichsam in einer ewigen „Selbstkreation" (vgl. 265) selbst zur Selbstbestimmung zu bestimmen, betont Sandkaulen mit Jacobi, dass die Unverfügbarkeit der Person auch in Beziehung auf sich selbst gilt: „Wir kommen nicht hinter uns selbst zurück – von unserer Verantwortung für das, was wir den beiden Trieben [sc. nach Selbsterhaltung und dem Guten] zufolge tun, entbindet uns dies keineswegs" (93).

Die Fähigkeit zur Distanzierung vom Interesse der Selbsterhaltung hängt mit dem Bewusstsein eigener Endlichkeit eng zusammen, das Sandkaulen im Aufsatz „Zu den Figuren von Geist und Seele im Denken Jacobis" (Text Nr. 3) – einem der gewichtigsten des Buches – erläutert. Das spezifisch menschliche Vermögen, „als endliches Wesen ein Selbstverhältnis unterhalten zu können" (69), basiert auf dem, was Jacobi die „substantive Vernunft" nennt. Im Gegensatz zu dem diskursiven, instrumentellen und somit wesentlich relational verfassten Vermögen der adjektiven Vernunft ist die substantive ein intuitives Vermögen zur Vergegenwärtigung des Unbedingten (62). Nur dadurch wird das von Jacobi Geist genannte Selbstverhältnis möglich:

[I]n das Bewusstsein unserer Endlichkeit ist immer schon eine [Vorstellung des Unbedingten] eingegangen, die aus dem Bedingten als solchem nicht entspringen kann, aus der aber auch umgekehrt das Bedingte keineswegs ‚wissenschaftlich' abgeleitet werden soll, sondern die die Basis oder Voraussetzung dafür bildet, als endliches Wesen ein Selbstverhältnis unterhalten zu können. Dieses basale Selbstverhältnis [...] nennt Jacobi Geist (69, Hervorh. im Orig.)

Der substantiven Vernunft schreibt Jacobi „eine eigene Evidenz zu" (64), die sich von der diskursiven Erkenntnis der Art nach unterscheidet:

Die Vergewisserung des Geistes im [...] Modus des unmittelbaren Wissens ist Ausdruck für das allein in der Innenperspektive zugängliche basale Selbstverhältnis einer Person. Diesen Modus der Vergewisserung [...] kann man als solchen durchaus mit dem Motiv der intuitiven Evidenz in Verbindung bringen, das [...] hier mit der metarationalen Dimension des nous oder des intellectus assoziiert wird (72, Hervorh. im Orig.)

Dass Jacobi die so verstandene intellektuelle Evidenz nicht epistemisch, sondern praktisch in der Erfahrung des Handelns fundiert, ist hier von entscheidender Wichtigkeit. Die Erfahrung meiner eigenen Endlichkeit entsteht mir zusammen mit der Erfahrung meiner Freiheit im „Bewusstsein eines frei entworfenen, intentionalen Anfangenkönnens" (74), beides aber ist bedingt durch das Bewusstsein des Unbedingten. „Die ursprüngliche Vorstellung des Unbedingten, die auf der Erfahrung der Freiheit basiert, hier aber von der Vereinigung mit dem Faktum unserer Endlichkeit nicht abzulösen ist, verweist so je schon auf ein schlechthin Unbedingtes, eine absolute Ursache, auf einen Gott, der Geist ist" (75; vgl. 31, 51).

Der Zusammenhang von Handlungsmetaphysik und Theismus verdient deshalb besondere Aufmerksamkeit, weil Jacobis Bekenntnis zu einem persönlichen Gott sowie seine Verwendung von Begriffen wie „Glaube" und „Offenbarung" ihm häufig den Ruf eines christlich-dogmatischen Denkers eingetragen haben – zu Unrecht, wie Sandkaulen in dem Aufsatz „Fürwahrhalten ohne Gründe. Eine Provokation philosophischen Denkens" (Nr. 2) argumentiert. Jacobi zielt „nicht auf dergleichen wie ein Axiom, sondern, der lebendigen Praxis des Glaubens entsprechend, auf die unmittelbare Gewissheit von Sein, auf das ursprüngliche Erschlossensein oder die ‚Darstellung' von Realität" (42). Weit davon entfernt, seine philosophischen Überzeugungen auf positive Dogmen der Religion zu gründen, versteht Jacobi Metaphysik und positive Religion gleichermaßen als Leistungen „einer ursprünglichen religiösen Energie", die von der „Manifestation eines Unbedingten in unserem Handlungsbewusstsein" (53) freigesetzt wird.

Die Freilegung von Jacobis „authentischer Position" (19), wie sie in den Aufsätzen des ersten Teils des Buches insgesamt erfolgt, wirft neues Licht auf Jacobis spinozakritische „Doppelphilosophie", mit der er zur Berühmtheit gelangt ist und die das Thema des ersten Aufsatzes bildet (Nr. 1). Jacobis oft zitierte Bestimmung des „größten Verdienstes des Forschers" als die Enthüllung und Offenbarung von Dasein (vgl. JWA 1,1,29; zitiert in Sandkaulen, 26) deutet Sandkaulen von der Einsicht her, dass das „Aufdecken" der einzig mögliche Modus ist, in dem uns die praktisch-existenziellen, in diskursive Relationalität nicht restlos zu überführenden „Fundamente unseres Lebens" zugänglich werden (ebd.). Allerdings wird von daher auch verständlich, inwiefern das im Spinozismus paradigmatisch verkörperte Bestreben, das Fundierungsverhältnis von theoretisch-diskursiver (adjektiver) Vernunft und praktisch-intuitiver (substantiver) Vernunft umzukehren, unweigerlich dazu tendiert, jene Fundamente zu verzerren, zu verfälschen und sodann als unrettbare Illusion hinzustellen.

Von hier aus erschließt sich der Sinn von Jacobis Unterscheidung zwischen rationalitätsinterner Widerlegung und rationalitätskritischem Widerspruch. Mit seinem Vorwurf, Spinoza habe den Begriff der Ursache, der praktischen Ursprungs ist, mit dem logischen Begriff des Grundes verwechselt und sei dadurch in die sein gesamtes System erschütternde Paradoxie einer „ewigen Zeit" (28) verfallen, beabsichtigt Jacobi keine Widerlegung in seinem Sinne. Er sucht vielmehr freizulegen, wie das Systemdenken eben dieselben Fundamente menschlicher Praxis implizit in Anspruch nehmen muss, die es im Prozess der Rationalisierung verfälscht (30–31). Durch seine kritische Strategie zur „Verteidigung unseres Welt- und Selbstverständnisses, von der die Erfahrung der Zeit nicht abgetrennt werden kann," nimmt Jacobi „offenkundig das Anliegen der modernen Existenzphilosophie in wesentlichen Aspekten vorweg" (29).

Unter diesem Gesichtspunkt kann man die im zweiten Teil des Buches unter der Überschrift „Bezüge" versammelten Aufsätze ebenfalls betrachten, die sich kritisch mit Jacobis Rezeption durch seine systemphilosophischen Zeitgenossen Fichte, Schelling und Hegel auseinandersetzen. Kernthemen der kritischen Reaktion gegen den Deutschen Idealismus im zwanzigsten Jahrhundert finden sich hier wieder – allerdings mit der besonderen Pointe, dass die idealistischen Systementwürfe ihrem eigenen Selbstverständnis nach aus dem Bemühen hervorgegangen sind, Jacobis rationalitäts- und systemkritischen Einreden gerecht zu werden und seine Impulse in eine grundlegend neue Konzeption von Vernunft und Freiheitssystem zu übersetzen (vgl. 201–203). Sandkaulen richtet ihre Aufmerksamkeit hier also nicht ausschließlich und auch nicht primär auf Jacobis Kritik der idealistischen Systemphilosophie, sondern auf den von ihren Hauptvertretern erhobenen Anspruch, die am Ursprung der Bewegung virulenten, mit dem Namen Jacobis verbundenen Probleme bewältigt zu haben.

Virtuos entfaltet Sandkaulen in diesen kritischen Aufsätzen eine Hermeneutik des Verdachts, deren Motive sich aus ihrer rekonstruktiven Freilegung von Jacobis Philosophie im ersten Teil ergeben. Mit textanalytischem Feingefühl spürt sie die begrifflichen Verwerfungen, Verformungen und Auslassungen, die Kunstgriffe und rhetorischen Verblendungen auf, die mit dem Versuch einhergegangen sind, Jacobis Philosophie für sich zu vereinnahmen, ohne sich seiner Provokation aufrichtig und ernsthaft zu stellen. Die Aufsätze zu Fichte (Nr. 9 und 10) zeichnen nach, wie Fichte im vermeintlichen Geiste Jacobis in immer neuen Anläufen versucht, den Standpunkt der Spekulation mit dem des lebensweltlichen Handelns zu verbinden, aber dabei Jacobis wesentliches Anliegen – die Anerkennung personaler Individualität – durch eine Philosophie anonymer Subjektivität verdrängt. Schellings scheinbare Hinwendung zu einem personalistischen Neuansatz in der Freiheitsschrift, deren Problemstellung wesentlich durch Jacobis Systemkritik vorgegeben wird, prüft Sandkaulen anhand der dort eingeführten Unterscheidung von Grund und Existenz und kommt zum Ergebnis, Schelling habe die bereits bei Spinoza fehlerhafte Vermischung der Begriffe von Grund und Ursache wiederholt und darum die konkrete personale Existenz verfehlt; sein Versuch, durch Rückgriff auf Kants bereits im ersten Teil des Buches mehrfach kritisierten Begriff einer „intelligiblen Tat" die Individualität vor dem Untergang in einer anonymen Substanz zu bewahren, vermöge nicht zu überzeugen (Nr. 11). Hegels Polemik gegen Jacobis Auffassungen von Zeit und Endlichkeit in Glauben und Wissen dechiffriert Sandkaulen vor dem Hintergrund von Schellings Identitätsphilosophie und zeigt, wie beide Idealisten nach und nach bewogen werden, ihre Stellung zur Zeitlichkeit in eine jacobi-freundlichere Richtung zu revidieren, ohne freilich ihre transzendentalidealistischen, am Systematizitätsideal orientierten Vorannahmen zu überdenken (Nr. 12).

Am schlechtesten von allen kommt Hegel weg, dessen Einstellung zu Jacobi mehr als einmal im Laufe seiner Karriere zwischen Affirmation und Polemik changierte. Im einleitenden „Vorbegriff" zur sog. Kleinen Logik der Enzyklopädie diskutiert er Jacobi unter dem Titel „Dritte Stellung des Gedankens zur Objektivität" als exemplarischen Vertreter des Standpunkts des „unmittelbaren Wissens". Sandkaulens akribische Lektüre dieses Textes (Nr. 13) führt sie zu dem Ergebnis, es handle sich hier keineswegs „um eine seriöse Auseinandersetzung mit Jacobi [...], weil Hegel diese Debatte ausschließlich als Mittel" (299) dazu betreibe, die Vorentscheidungen zu verschleiern, auf denen seine vorgeblich voraussetzungslose spekulative Logik tatsächlich beruhe. Hegels „instrumentelle Vereinnahmung" (302) geht mit der „epistemischen Neutralisierung und Verharmlosung Jacobis" (314) einher. „Indem Hegel aufwendig versichert, dass Jacobis Position [...] nicht die geringste Herausforderung in sich birgt, bestätigt er eben dies, dass sie sehr wohl, und zwar die zentrale Herausforderung für Hegel darstellt" (290).

Lässt Sandkaulen das Buch mit einer Würdigung von Jacobis epochemachendem Widerspruch gegen Spinoza beginnen, so beschließt sie es mit einer Abrechnung mit Hegels Anspruch, in seiner Wissenschaft der Logik die „einzige und wahrhafte Widerlegung Spinozas" (GW 21: 15) geliefert und dadurch die Aufgabe, zu deren Bewältigung die Idealisten infolge des Pantheismusstreits einst angetreten waren, erfüllt zu haben (Nr. 14). Von dem im Verlauf der vorausgegangenen Texte erarbeiteten Standpunkt aus erkennt man diesen Anspruch als grundlos. Weit davon entfernt, Spinoza zu widerlegen, bediene sich Hegel lediglich „der Kraft des Spinozanischen Entwurfs [...], um ihm in Wahrheit von Anfang an eine Denkbewegung einzuschreiben, die Spinozas Philosophie nicht ‚enthüllt', sondern in ihren Grundanliegen systematisch verfremdet" (333). Indem Hegel gegen den handlungsmetaphysischen Realismus Jacobis zugunsten eines zur „Onto-Logik" depotenzierten „post-metaphysischen" (335, Hervorh. im Orig.) Denkens optiert, immunisiert er sich gleichsam gegen das, worauf es in der Philosophie ankommen soll und Spinoza wie Jacobi selbst auch tatsächlich angekommen ist. „Demgegenüber," schreibt Sandkaulen in ihrem „abschließenden Plädoyer", „hege ich von Grund auf die Überzeugung, dass sich die Faktizität der Wirklichkeit im Denken nicht restlos hintergreifen lässt und die ontische Erfahrung eigener Endlichkeit dem logischen, wie immer schlüssig herbeigeführten Gedanken einer Identität von Unendlichem und Endlichem bleibend entgegensteht" (ebd.).

Ihr Bekenntnis zu Jacobis Philosophie ist es, was Sandkaulens Buch unter allen bisherigen Monografien zum Thema einzigartig macht. Nach einer vergleichbar autoritativen, originellen, sachaufschließenden Studie zu Jacobi wird man zwar auch lange suchen müssen: Wer über seine zentralen Gedanken, über die sie verbindenden Anschauungen und Gründe oder über deren Verhältnis zur klassischen deutschen Philosophie klärende Auskunft begehrt, findet sie in diesem Buch; schon darum sei es den Leserinnen und Lesern unbedingt empfohlen! Aber Sandkaulen philosophiert mit Jacobi – und das erst verleiht den hier versammelten Aufsätzen ihre Qualität und Besonderheit. Sie wollen einer Provokation philosophischen Denkens wieder Gehör verschaffen, deren eigentliche Bedeutung zu vernehmen Jacobis Zeitgenossen noch nicht bereit waren, und zwar trotz der immensen Wirkung, die sie bei ihnen dennoch zeitigte.

Jener Provokation liegen ein Existenzialismus, ein Personalismus und ein praktischer Realismus in ganz eigener Ausprägung zum Grunde, ohne dass sie Jacobi selber mit dem vollen Grad an Klarheit und Deutlichkeit zum Ausdruck verholfen hätte, derer sie an sich fähig sind. Sie in ihrem Gehalt und inneren Zusammenhang hervortreten zu lassen, ist eine philosophische Leistung, die über die hermeneutische Rekonstruktion hinausgeht. Hierzu trägt Sandkaulens aussagekräftige Zusammenstellung der Aufsätze entschieden bei: Was in dem einen Text Prämisse ist, wird im anderen zur Konklusion; man gelangt auf unterschiedlichen Wegen zu verwandten Einsichten und über dem Vor- und Rückwärtslesen entsteht eine von der Reihenfolge unabhängige Gesamtschau. Dadurch regt die Lektüre allerdings auch zu Fragen an, die am adäquatesten wohl nur im Rahmen einer systematischen Abhandlung zu behandeln sein werden. Davon betreffen einige die systematischen Implikationen, etwa für eine veränderte Konzeption von Autonomie (Selbstbestimmung), eine im jacobischen Sinn realistische Theorie der moralischen Gefühle oder eine auf der Grundlage der Handlungserfahrung ausgearbeitete philosophische Anthropologie und Theologie. Andere betreffen die unausgeschöpften Potentiale von Jacobis Philosophie im Hinblick auf die Existenzialismen, Personalismen und Realismen des 20. und 21. Jahrhunderts. An nicht wenigen Stellen fühlt man sich durch die Lektüre zu Vergleichen etwa mit Heidegger, Scheler, Levinas, mitunter auch mit Autoren der analytischen Tradition wie Strawson angeregt und fragt sich, wie man im Geiste Jacobis weiterdenkend auch diese Positionen teils kritisch, teils konstruktiv weiterdenken könnte, teils auch über sie hinaus denken müsste. Wie kein zweites zeigt Sandkaulens Buch, was und wieviel mit Jacobi zu denken erst unserer Gegenwart vorbehalten ist.

By Brady Bowman

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Titel:
‚Eine auf Dauer gestellte Provokation': Die Philosophie J. H. Jacobis.
Autor/in / Beteiligte Person: Bowman, Brady
Link:
Zeitschrift: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Jg. 67 (2019-12-01), Heft 6, S. 1024-1034
Veröffentlichung: 2019
Medientyp: academicJournal
ISSN: 0012-1045 (print)
DOI: 10.1515/dzph-2019-0075
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: English
  • Document Type: Article

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