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Jenseits des Dualismus zwischen tierischer Natur und geistiger Natur: Kants Mensch „in zwiefacher Qualität" und Schillers „ganzer Mensch".

Falduto, Antonino
In: Kant-Studien, Jg. 111 (2020-06-01), Heft 2, S. 248-268
Online academicJournal

Jenseits des Dualismus zwischen tierischer Natur und geistiger Natur: Kants Mensch „in zwiefacher Qualität" und Schillers „ganzer Mensch" 

In my contribution, I discuss the important role of moral anthropological questions in the development of Schiller's theoretical thought. I underline the fact that Schiller's philosophical questions in Jena are much closer to those he confronted in Stuttgart – much closer than is considered to be the case in contemporary Schiller scholarship. I show how this continuity becomes evident when we take into consideration the moral anthropological topics that continued to interest Schiller throughout his life. To ground my argument, I show that the concept of the"whole human being" (i. e. the concept of a human considered in its entirety, as both sensible and rational) constitutes the continuous characteristic of Schiller's philosophical considerations.

Keywords: Kant; Schiller; Moral Anthropology; Human Entirety; homo phaenomenon/homo noumenon; Human Nature

„Was können wir heute aus Schiller gewinnen?"  Der zehnte Band der Kant-Studien, von Hans Vaihinger und Bruno Bauch herausgegeben, widmet sich größtenteils der Figur Friedrich Schillers als Philosoph. Neben dem Text von Eucken (Eucken, Rudolph: „Was können wir heute aus Schiller gewinnen". In: Kant-Studien 10, 1905, 253–260) erscheinen unter anderem eine Darstellung Schillers als Theoretischer Philosoph von F. A. Schmid (Schmid, Friedrich Alfred: „Schiller als theoretischer Philosoph". In: Kant-Studien 10, 1905, 261–285), eine Rekonstruktion des philosophischen Einflusses Schillers auf Goethe von J. Cohn (Cohn, Jonas: „Das Kantische Element in Goethes Weltanschauung: Schillers philosophischer Einfluß auf Goethe". In: Kant-Studien 10, 1905, 286–345), ein Aufsatz über Schillers Idee der Freiheit von B. Bauch (Bauch, Bruno: „Schiller und die Idee der Freiheit". In: Kant-Studien 10, 1905, 346–372), eine Recherche über Schillers frühe philosophische Entwicklung von H. Vaihinger (Vaihinger, Hans: „Zwei Quellenfunde zu Schillers philosophischer Entwickelung". In: Kant-Studien 10, 1905, 373–389) und ein Text von W. Windelband über Schillers transzendentalen Idealismus (Windelband, Wilhelm: „Schillers transscendentaler Idealismus". In: Kant-Studien 10, 1905, 398–411). Rudolf Eucken, Professor für Philosophie in Jena und Nobelpreisträger für Literatur, stellte sich schon 1905 in einem Friedrich Schiller gewidmeten Band der Kant-Studien diese Frage. Über hundert Jahre nach dem Erscheinen von Euckens Text sollte man sich dieser Frage aus einer philosophischen Perspektive erneut widmen, zumal die Erforschung der Schriften Schillers im Rahmen philosophischer Untersuchungen im letzten Jahrzehnt eine vielversprechende Renaissance erlebt. Frederick Beiser hat zu diesem neuen Interesse vor allem im englischsprachigen Raum zweifellos viel beigetragen. In seiner Studie Schiller as Philosopher versucht er, Schillers philosophische Entwicklung zu rekonstruieren.  Vgl. Beiser, Frederick C.: Schiller as Philosopher: A Re-Examination. Oxford 2008. Seine Bemühungen werden begrüßt,  Vgl. unter anderem die Sondernummer der philosophischen Zeitschrift Inquiry – An Interdisciplinary Journal of Philosophy Band 51 (1), 2008, in der vier auf Beisers Werk Bezug nehmende Autoren Schillers philosophische Relevanz erneut behandelt. Es handelt sich um Baxley, Anne Margaret: „Pleasure, Freedom and Grace: Schiller's "Completion" of Kant's Ethics". In: Inquiry 51 (1), 2008, 1–15; Moggach, Douglas: „Schiller, Scots and Germans: Freedom and Diversity in The Aesthetic Education of Man". In: Inquiry 51 (1), 2008, 16–36; Houlgate, Stephen: „Schiller and the Dance of Beauty". In: Inquiry 51 (1), 2008, 37–49; Waibel, Violetta L.: „How Shall We Read Schiller Today?" In: Inquiry 51 (1), 2008, 50–62. Weiterhin kommentiert Beiser diese Versuche im genannten Band – siehe: Beiser, Frederick: „Schiller as Philosopher: A Reply to My Critics". In: Inquiry 51 (1), 2008, 63–78. Ein aktueller Versuch, Schillers Texte aus einer philosophischen Perspektive zu bewerten, findet sich auch in einem von del Rosario Acosta López und Powell herausgegebenem Band: Aesthetic Reason and Imaginative Freedom: Friedrich Schiller and Philosophy. Hrsg. von María del Rosario Acosta López und Jeffrey L. Powell. New York 2018, der aber ausschließlich dem Verhältnis zwischen Politik und Ästhetik gewidmet ist. allerdings gilt das größte Interesse in der Schiller-Forschung immer noch der Ästhetik.  Siehe dazu Guyer, Paul: A History of Modern Aesthetics. Volume I: The Eighteenth Century. Cambridge/New York 2014, 466–493. Diese Bemühungen um Schillers Ästhetik sind nur die letzten einer Reihe von prominenten Versuchen, die speziell auf die Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen fokussieren, wie man durch einen Blick auf die Sekundärliteratur feststellen kann.  Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. Erstmals veröffentlicht in: Die Horen, Eine Monatsschrift. Hrsg. von Friedrich Schiller. Teil 1, 1795, 7–48; Teil 2, 1795, 167–210; Teil 6, 1795, 45–124. Zu den Augustenburger Briefen siehe: Briefe von Schiller an Herzog Christian von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg über ästhetische Erziehung, in ihrem ungedruckten Urtexte herausgegeben von A. L. J. Michelsen. In: Deutsche Rundschau 7, 1875, 67–81, 273–284, 400–413; 8, 1876, 253–268. Zu den Ästhetischen Briefen, siehe Böhm, Wilhelm: Schillers „Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen". Halle an der Saale 1927; Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung. Hrsg. von Jürgen Bolten. Frankfurt am Main 1984; Friedrich Schiller: Über die Ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. Text, Materialien, Kommentar. Hrsg. von Wolfgang Düsing. München/Wien 1981; Lichtenstein, Ernst: „Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung zwischen Kant und Fichte". In: Archiv für Geschichte der Philosophie 39, 1939, 102–114, 274–294; Murray, Patrick T.: The Development of German Aesthetic Theory from Kant to Schiller: A Philosophical Commentary in Schiller's „Aesthetic Education of Man". Lewiston/Queenston/Lampeter 1994; Pott, Hans-Georg: Die schöne Freiheit. Eine Interpretation zu Schillers Schrift „Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen". München 1980. Doch Schiller als Philosoph hat seinen Leserinnen und Lesern eine vielschichtige philosophische Vision anzubieten, die er abseits der Ästhetik entwickelt hat und die von der Forschung erst noch anerkannt werden muss.  Vgl. dazu Houlgate, Stephen: "Schiller and the Dance of Beauty". In: Inquiry 51 (1), 2008, 37–49. Im Folgenden unternehme ich einen ersten Versuch in diese Richtung. Insbesondere mit Schillers Ausführungen moralanthropologischer Art, so lautet meine These, können wir in seinem gesamten theoretischen Werk einen roten Faden finden, dessen nähere Betrachtung sich lohnt. Moralanthropologische Themen stehen durchgehend im Mittelpunkt von Schillers Reflexionen und diese Konstante bringt mich zur These einer Leitfrage in seinem theoretischen Werk, die lautet: Ist die Überwindung des Dualismus der doppelten Natur vom Menschen als sinnlich-vernünftigem Wesen überhaupt möglich?

Bei der Beantwortung der schon erwähnten Frage über die philosophische Aktualität Schillers notierte Eucken im zitierten Aufsatz:

Vom Ganzen der Menschheit dürfen wir auch heute sagen, dass es Kunst und Moral, ästhetische und ethische Kultur miteinander festhalten will [...]. Schiller hält uns [...] eine charaktervolle Lösung vor, bei der Moral und Kunst eng zusammengehören, ja einander gegenseitig fordern.  Eucken, Rudolf: „Was können wir heute aus Schiller gewinnen?" In: Kant-Studien 10, 1905, 253–260, hier 258.

In Anlehnung an Euckens Überlegungen widme ich mich im Folgenden der Behandlung der Ganzheit des Menschen bei Schiller und zwar anhand einiger moralanthropologischer Aspekte seines Denkens. Ich beabsichtige, einige Aspekte der Herausforderung Schillers für die Moralphilosophie zu erläutern, indem ich einerseits seiner Gedanken zur Überwindung des Dualismus zwischen tierischer und geistiger Natur des Menschen rekonstruiere, und andererseits die Überwindung des Dualismus zwischen sinnlichem und vernünftigem Wesen im Menschen darlege. Um die Fragestellung Schillers zu charakterisieren und die philosophische Signifikanz seines Versuchs hervorzuheben, werde ich Schillers Lösungsansatz außerdem mit Kants Darstellung einer doppelten Natur des Menschen, sowohl noumenaler als auch zugleich phänomenaler Art, kontrastieren. Ich beabsichtige hiermit, die Differenz zwischen Schillers früherer Gedanken und seinen späteren philosophischen Lösungsversuchen im Lichte seiner kantischen Lektüre zu erhellen. Dieser Unterschied zwischen zwei Momenten der Reflexionen des Literaten wird meist missverstanden, sooft Schillers philosophische Relevanz ausschließlich aufgrund seiner Kant-Lektüre wahrgenommen und bloß unter die Lupe der kantischen Philosophie genommen wird, ohne stattdessen die Unabhängigkeit der philosophischen Bildung des jungen Eleven Schiller an der Karlsschule in Betracht zu ziehen, und somit seine Theoretisierung jenseits der kantischen Lektüre zu interpretieren. Um die Linie dieser Entwicklung aufzuzeigen, werde ich mich den beiden genannten, verschiedenen Perioden der intellektuellen Entwicklung Schillers, und insbesondere zweien seiner Schriften widmen, die bislang in der philosophischen Forschung erstaunlich wenig Beachtung gefunden haben. Ich werde zunächst die dritte medizinische Dissertation Schillers, d. h. den Versuch über den Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner Geistigen von 1780, und danach die Briefe an Körner aus den frühen 90er Jahren, die so genannten Kallias-Briefe, für meine Analyse heranziehen.  Für die 1780 angefertigte, dritte medizinische Dissertation Schillers, den Versuch über den Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner Geistigen, vgl. Band XX. Philosophische Schriften. Erster Teil. Hrsg. von Benno von Wiese unter Mitwirkung von Helmut Koopman im Rahmen der Nationalausgabe Schillers, d. h.: Schillers Werke, Nationalausgabe. Begründet von Julius Petersen, fortgeführt von Lieselotte Blumenthal, Benno von Wiese und Siegfried Seidel. Hrsg. im Auftrag der Stiftung Weimarer Klassik und des Schiller-Nationalmuseums in Marbach von Norbert Oellers. Weimar 1962, 37–75. Was die Kallias-Briefe betrifft, verkörpert dieser Zyklus den anfänglichen Nukleus einer Fragment gebliebenen Abhandlung über die Schönheit, die erst 1847 durch die vierbändige Ausgabe von Schillers Briefwechsels mit Körner bekannt wurde. Dieser Zyklus wird nicht als eigener Text im Rahmen der gennannten Schiller-Nationalausgabe editiert. Im Rahmen dieser Ausgabe findet man Schillers Briefwechsel mit Körner: Die relevanten Briefe des so genannten Kallias-Zyklus wurden von Schiller zwischen dem 21. Dezember 1792 und dem 1. März 1793 datiert. Einfachheitshalber wird der Kallias-Zyklus nach folgender Ausgabe zitiert: Schiller, Friedrich: Kallias oder über die Schönheit – Über Anmut und Würde. Hrsg. von Klaus L. Berghahn. Stuttgart 1971 – zitiert im Folgenden als Schiller, Kallias; der Versuch wird aus der Frankfurter Ausgabe zitiert, d. h.: Schiller, Friedrich: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 8: Theoretische Schriften. Hrsg. von Rolf-Peter Janz unter Mitarbeit von Hans Richard Brittnacher, Gerd Kleiner und Fabian Störmer, Frankfurt a. M. 1992, 119–163 – zitiert im Folgenden als Schiller, Versuch.

Es sei hier noch erwähnt, dass das anhaltende Interesse Schillers an moralanthropologischen Fragen und an dem Thema der Ganzheit des einen Menschen auch in späteren Schriften zu finden ist, zum Beispiel in der Schrift Über Anmut und Würde (1793 erschienen), in den so genannten Augustenburger Briefen (ebenso 1793 verfasst) und in den Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795 in den Horen erschienen). Nichtsdestotrotz würde die Nachverfolgung des Themas auch in den soeben genannten Werken den Rahmen meines Beitrags sprengen, so dass ich mich stattdessen auf die dritte medizinische Dissertation und die Kallias-Briefe konzentriere und gelegentlich auf die weiteren Schriften zurückgreifen werde. Der Grund dieser Wahl ist nicht chronologischer Natur: Vielmehr hat die dritte Dissertation Schillers nur weniges Interesse in der philosophischen Forschung erweckt. Die Arbeiten von Wolfgang Riedel, Walter Hinderer, und, zuletzt, von Carina Middel, zu dieser Schrift sind als Ausnahmen hervorzuheben.  Riedel, Wolfgang: Die Anthropologie des jungen Schiller. Zur Ideengeschichte der medizinischen Schriften und der „Philosophischen Briefe". Würzburg 1985; Hinderer, Walter: Von der Idee des Menschen. Würzburg 1998; Riedel, Wolfgang: „Die anthropologische Wende: Schillers Modernität". In: Friedrich Schiller und der Weg in die Moderne. Hrsg. von Walter Hinderer. Würzburg 2006, 143–163; Middel, Carina: Schiller und die Philosophische Anthropologie des 20. Jahrhunderts. Ein ideengeschichtlicher Brückenschlag. Boston/New York 2017. Die Briefe an Körner werden generell noch weniger studiert, und wenn, nur im Kontext von Schillers Kant-Studien und Schillers Ästhetik. Das ist auch in den besser recherchierten Studien von Luigi Pareyson, Ronald Miller, und, zuletzt, von Frederick Beiser der Fall.  Pareyson, Luigi: Etica ed estetica in Schiller. Milano 1983; Miller, Ronald D.: Schiller and the Ideal of Freedom: A Study of Schiller's Philosophical Works with Chapters on Kant. Oxford 1970 (zuerst 1959); Beiser, Frederick C.: Schiller as Philosopher: A Re-Examination. Oxford 2008. Im Unterschied zu den genannten Forschungsergebnissen beabsichtige ich erstmals, die dritte Dissertation und die Kallias-Briefe im Kontext von Schillers Moralanthropologie in Zusammenhang zu bringen, um somit auch Schillers autonome philosophische Entwicklung jenseits seiner Kant-Inspiration darzulegen. Im Gegensatz zu den in der Forschung vorhandenen Interpretationsvorschlägen ist es daher mein Ziel zu zeigen, wie diese Schriften thematisch verbunden sind, und zwar aufgrund der moralanthropologischen Interessen Schillers, die in diesen Texten gleichermaßen deutlich gemacht werden, und die unabhängig von der Kant-Erfahrung Schillers zum Vorschein kommen. Ich schlage somit vor, eine Art moralanthropologische Brücke zu schlagen zwischen einerseits den frühen Jahren Schillers, das heißt, vom Ende der 70er bzw. Anfang der 80er Jahre an der Karlsschule in Stuttgart, und andererseits der Jenaer Zeit seiner Kant-Lektüre, das heißt zum Anfang der 90er Jahre. Nach meiner Interpretation besteht der rote Faden dieser heterogenen Entwicklungsstadien der Reflexionen Schillers in seinem Interesse an moralanthropologischen Fragen, an dem Thema der Ganzheit des Menschen und an der Möglichkeit einer Überbrückung des Dualismus zwischen geistlicher und tierischer bzw. vernünftiger und sinnlicher Natur des Menschen. Das Aufzeigen dieser Verbindung wird Aufschluss über die Rolle Immanuel Kants in den theoretischen Lösungsversuchen Schillers geben. Denn, ungeachtet der in der Forschung unumstrittenen These, dass Kant der Philosoph ist, der Anlass zu Schillers Überlegungen bezüglich der Überwindung des Dualismus zwischen Natur und Freiheit gegeben hat und Anstoß für seine ästhetischen Lösungen war, wird meine Interpretation die unterschätzte Präsenz des Themas des Dualismus in den philosophischen, anthropologischen und medizinischen Diskussionen an der Karlsschule, die Schillers intellektuelle Gestaltung geprägt haben, und die unabhängig vom Werk Kants und dessen Lektüre entstehen, zeigen.

Um meine Ziele zu erreichen, gliedere ich meine Argumentation in folgende Schritte: Zunächst präsentiere ich die intellektuelle Atmosphäre der Hohen Karlsschule in Stuttgart, an der Schiller als Mediziner promoviert. Zweitens werde ich mich der dritten medizinischen Dissertation Schillers widmen, d. h. dem Versuch über den Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen, um die moralanthropologischen Fragen darzustellen, die in dieser Schrift eine wichtige Rolle spielen. Drittens werde ich durch die Behandlung der Kallias-Briefe eine neue Form des Dualismus in Betracht ziehen, die den Dualismus zwischen geistiger und tierischer Natur des Menschen im Werk Schillers ersetzt. Im Laufe dieser Analyse beziehe ich mich auf die Kluft zwischen homo phaenomenon und homo noumenon, die den Kant-Studien Schillers geschuldet ist. Zum Schluss werde ich eine mögliche Lösung des Dualismus-Problems der Kallias-Briefe durch die Betrachtung einiger Textstellen aus der Schrift Über Anmut und Würde präsentieren. Ich werde zusammenfassend verdeutlichen, wieso nicht ein Bruch, sondern eher viele Affinitäten zwischen der ersten Phase der intellektuellen Entwicklung Schillers in der Karlsschule und der Phase seiner Kant-Studien in Jena bestehen, und dass trotz dieser Kontinuität die ursprünglichen Interessen Schillers an der Ganzheit des Menschen weniger seiner Kant Lektüre, sondern eher der Lektüre der Texte anderer Philosophen an der Karlsschule geschuldet sind. Zusammengefasst werde ich die These vertreten, dass uns die Moralphilosophie und insbesondere moralanthropologische Fragen in die Lage versetzen können, die Kontinuität in der intellektuellen Entwicklung Schillers zu begreifen.

1 Die Hohe Karlsschule

Es ist bekannt, dass Friedrich Schiller promovierter Mediziner war.  Die unter den vielen Schiller-Biographien am gründlichsten recherchierte, die zugleich auch einen präzisen Einblick in den zeitgenössischen Kontext bietet, ist von Peter-André Alt: Schiller. Leben – Werk – Zeit. Band 1: 1759–1791; Band 2: 1791–1805. München 2000. Die Hohe Karlsschule in Stuttgart, an der Schiller sein medizinisches Studium abschloss, ähnelte „der Ritterakademie alten Typs, wie sie seit dem Ende des 16. Jahrhunderts als Eliteuniversität für adelige Zöglinge eingeführt war".  Alt, Peter-André: Schiller. Leben – Werk – Zeit. Band 1. München 2000, 83. Von anderen Instituten unterschied sie sich dadurch, dass „sie auch für Bürgerkinder zugänglich" war.  Ibid.

Johann Christoph Friedrich Schiller trat in die Karlsschule auf Befehl von Herzog Karl Eugen und gegen den Widerstand seiner Eltern ein und nahm zunächst ein Jurastudium auf, bevor er zwei Jahre später zum Studium der Medizin wechselte und zugleich Unterricht in Philosophie nahm. Zu den Lehrern, die den jungen Schiller am meisten beeinflussten, zählte der 23jährige Dozent Jakob Friedrich Abel, der die Neugestaltung der Philosophie an der Karlsschule in diesen Jahren übernahm.  Zum Leben und Wirken Abels vgl. das Lemma „Jakob Friedrich von Abel" von Kevin Harrelson in: The Bloomsbury Dictionary of Eighteenth Century German Philosophers. Hrsg. von Manfred Kuehn und Heiner F. Klemme. London/New York 2016, 3–4. „Noch in der Zeit der Kant-Studien, zu Beginn der 90er Jahre, zehrt Schiller, wie er dankbar bekennt, von der Substanz, die ihm Abels Unterricht verschaffte".  Alt, Peter-André: Schiller. Leben – Werk – Zeit. Band 1. München. 2000, 119. Abels Schwerpunkte im Unterricht waren die sensualistische Moralphilosophie, der Empirismus, der Materialismus und die Psychologie. Was die Moralphilosophie angeht, besaßen die Briten ein starkes Gewicht in Abels Unterricht. Mit Sicherheit hat Schiller Fergusons Institutes of Moral Philosophy (1769) in der Übersetzung Garves (1772) studiert.  Vgl. dazu Falduto, Antonino: „Schottische Aufklärung in Deutschland: Christian Garve und Adam Fergusons Institutes of Moral Philosophy". In: Christian Garve (1742–1798). Hrsg. von Udo Roth und Gideon Stiening. Berlin/Boston (für September 2020 angekündigt). Dennoch war insbesondere Ernst Platners Schrift Anthropologie für Aerzte und Weltweise (1772), in den Vorlesungen Abels zentral.  Einen ersten Überblick des Lebens und Wirkens Platners (samt weiterführender bibliographischen Angabe) kann man dem Lemma „Ernst Platner" von Helmut Kaffenberger in: The Bloomsbury Dictionary of Eighteenth Century German Philosophers. Hrsg. von Manfred Kuehn und Heiner F. Klemme. London/New York 2016, 591–594, entnehmen. Aufgrund seiner sehr starken anthropologischen Interessen wurde Abel ein wichtiger Gesprächspartner der Mediziner an der Karlsschule. Insbesondere der für theoretische Fragen aufgeschlossene Mediziner Johann Friedrich Consbruch sah in Abel einen Gesprächspartner, mit dem er über Fragen der empirischen Psychologie und der modernen Anthropologie diskutieren konnte.  Vgl. Alt, Peter-André: Schiller. Leben – Werk – Zeit. Band 1. München 2000, 118.

Im Rahmen dieser grob dargestellten akademischen Situation entstehen die medizinischen Abschlussarbeiten von Schiller. Im Plural, also „Abschlussarbeiten", weil Schiller insgesamt drei Arbeiten an der Medizinischen Fakultät einreicht. Die erste medizinische Abschlussarbeit, Philosophie der Physiologie, im Herbst 1779 eingereicht, wurde von seinen akademischen Lehrern abgelehnt. Das Thema dieser Arbeit, das auch das Thema der dritten Schrift sein wird, ist das Hauptproblem der vom cartesianischen Dualismus zwischen res cogitans und res extensa geprägten Menschenlehre des 18. Jahrhunderts. Schiller geht der Frage nach, welche Beziehung zwischen Körper und Geist im menschlichen Organismus herrscht. Das ist eine Frage, die Überlegungen aus der theoretischen Medizin, aber zugleich auch aus der Anthropologie und der Psychologie einbezieht.  Vgl. dazu Hinderer, Walter: Von der Idee des Menschen. Würzburg 1998, 21–22; Luserke-Jacqui, Matthias: „Schriften aus der Karlsschulzeit (1774–1780)". In: Schiller-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hrsg. von Matthias Luserke-Jacqui, unter Mitarbeit von Grit Dommes. Stuttgart/Weimar 2005, 339–343; Middel, Carina: Schiller und die Philosophische Anthropologie des 20. Jahrhunderts. Ein ideengeschichtlicher Brückenschlag. Boston/New York 2017, 205–217.

Schiller schreibt zu Beginn seiner ersten Abschlussarbeit, nachdem er das Universum als „Werk eines unendlichen Verstandes" beschreibt, dass der Mensch den Plan Gottes entdecken muss – und dieser Plan sieht für die Menschen Vollkommenheit vor, die mit Vergnügen verbunden ist, so dass die „Summe der größten Vollkommenheiten [...] Glückseligkeit" ist.  Vgl. Johann Christoph Friedrich Schiller: Philosophie der Physiologie. In: Band XX. Philosophische Schriften. Erster Teil. Hrsg. von Benno von Wiese unter Mitwirkung von Helmut Koopman. Weimar 1962, 10–29. In: Schillers Werke – Nationalausgabe. Begründet von Julius Petersen, fortgeführt von Lieselotte Blumenthal, Benno von Wiese und Siegfried Seidel. Hrsg. im Auftrag der Stiftung Weimarer Klassik und des Schiller-Nationalmuseums in Marbach von Norbert Oellers. Philosophie der Physiologie wird aus der Frankfurter Ausgabe zitiert, d. h.: Schiller, Friedrich: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 8: Theoretische Schriften. Hrsg. von Rolf-Peter Janz unter Mitarbeit von Hans Richard Brittnacher, Gerd Kleiner und Fabian Störmer. Frankfurt a. M. 1992, 37–58. Hier siehe insbesondere Schillers Philosophie der Physiologie, 37–38. Indem Schiller davon ausgeht, dass ein Plan Gottes im Universum existiert und dass der Mensch in diesem Plan seine Gottähnlichkeit durch die Vollkommenheit realisieren muss, geht er einen Schritt weiter und verbindet die Vollkommenheit mit dem Vergnügen, so dass die geistliche Natur des Menschen mit seiner empfindenden Natur vollständig harmonieren soll. Diese Suche nach Harmonie klingt fast wie ein Imperativ moralphilosophischer Natur. Eine Mittelkraft macht diese Harmonie möglich und die Liebe vervollkommnet die menschliche Gattung jenseits des Individuums, indem sie „der schönste, edelste Trieb in der Menschlichen Seele, die große Kette der empfindenden Natur" ist und „nichts anders als die Verwechselung meiner Selbst mit dem Wesen des Nebenmenschen" repräsentiert.  Schiller: Philosophie der Physiologie, zit., 38. Sowohl die Einheit des Menschen als auch die notwendige Präsenz des Anderen und die Kooperation mit dem Nebenmenschen, die zu einer Art Selbstidentifizierung mit dem Anderen führt, sind moralphilosophische Themen, die Schiller sehr nah liegen. Diese Konzepte, die wir bereits in dieser ersten Abschlussarbeit vorfinden, bleiben auch in der späteren Reflexion Schillers präsent. Die Wechselwirkung zweier Naturen im Menschen wird aber in der ersten medizinischen Dissertation sowohl durch eine Mittelkraft physiologischer Natur als aber auch und hauptsächlich durch ein moralisches Prinzip der Liebe gegenüber Anderen ermöglicht. Dennoch bleibt die Schrift Philosophie der Physiologie noch zu sehr metaphysisch-spekulativ, und teilweise leider philosophisch sehr obskur. Eine physiologische Exaktheit fehlt außerdem vollständig, so dass die drei zuständigen medizinischen Gutachter die Dissertation ablehnen.

Schiller muss noch ein weiteres Jahr an der Akademie verweilen. Er reicht erst im Herbst 1780 zwei weitere Vorschläge ein, die Themata zu einer Streitschrift, die lauten:

I. Über den großen Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen;

II. Über die Freiheit und Moralität des Menschen.

Eine weitere, von Schiller auf Latein geschriebene Abschlussarbeit über den Unterschied entzündlicher und fauliger Fieber ist inzwischen ebenfalls aufgrund kritischer Einwände der Gutachter abgelehnt worden, so dass von der Qualität der dritten Probeschrift das Schicksal des Examenskandidaten abhängt.  Für die 1780 angefertigte, zweite medizinische Dissertation Schillers, De discrimine febrium inflammatoriarum et putridarum, vgl. Band XXII. Vermischte Schriften. Erster Teil. Herausgegeben von Herbert Meyer im Rahmen der Nationalausgabe Schillers (d. h.: Schillers Werke, Nationalausgabe. Begründet von Julius Petersen, fortgeführt von Lieselotte Blumenthal, Benno von Wiese und Siegfried Seidel. Hrsg. im Auftrag der Stiftung Weimarer Klassik und des Schiller-Nationalmuseums in Marbach von Norbert Oellers). Weimar 1958, 31–63. Zu diesem Text vgl. unter anderem die Studie von Schuller, Marianne: „Körper. Fieber. Räuber. Medizinischer Diskurs und literarische Figur beim jungen Schiller". In: Physiognomie und Pathognomie. Zur literarischen Darstellung von Individualität. Festschrift für Karl Pestalozzi zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Wolfram Groddeck und Ulrich Stadler. Berlin/New York 1994, 153–168. Die drei Gutachter entscheiden sich für das eher physiologische Thema und nicht für die Erläuterungen über Freiheit und Moralität. Schon die Tatsache aber, dass Schiller über ein so stark moralphilosophisch geprägtes Thema dissertieren möchte, ist im Kontext meiner Darlegung ohne Zweifel bemerkenswert.

2 Schillers dritte medizinische Dissertation: Versuch über den Zusammenhang der tierischen Na...

Mit dem Thema seiner dritten Abschlussarbeit hat Schiller erneut die Möglichkeit, sich der wechselseitigen Beeinflussung von Körper und Geist zu widmen. In der dritten Dissertation, d. h. in dem Versuch über den Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen, im November 1780 vorgelegt, beleuchtet Schiller den psychophysischen Apparat des Menschen. Er sucht nach einer „Mittellinie der Wahrheit" zwischen den verschiedenen Lehrmeinungen der Geist-Seele-Debatte.  Vgl. Schiller: Versuch, Einleitung, 123. Er vermittelt zwischen den eher materialistischen Positionen, die den Geist nur als Funktion des Körpers wahrhaben wollen und deren Modell La Mettries L'homme machine (1748) ist, und den spiritualistischen bzw. animistischen Positionen, die die Unabhängigkeit des Geistes von physischen Bedingungen verteidigen und deren Modell Stahls Physiologie ist. Somit firmiert der Mediziner Schiller in der Geschichte seines Fachs als Vorläufer einer „ganzheitlichen" Methode.  Vgl. dazu Riedel, Wolfgang: Die Anthropologie des jungen Schiller. Zur Ideengeschichte der medizinischen Schriften und der „Philosophischen Briefe". Würzburg 1985, 4 f.

Schillers Konzept einer medizinisch-philosophischen Synthese ist aber keine Einzelerscheinung.  Zur philosophischen Frage nach der „Ganzheit" des Menschen siehe u. a.: Borchers, Stefan: Die Erzeugung des ‚ganzen Menschen'. Zur Entstehung von Anthropologie und Ästhetik an der Universität Halle im 18. Jahrhundert. Berlin/New York 2011; Die Wissenschaft vom Menschen in Göttingen um 1800. Hrsg. von Hans Erich Bödeker, Philippe Büttgen und Michel Espagne. Göttingen 2008; Der ganze Mensch – die ganze Menschheit. Völkerkundliche Anthropologie, Literatur, Ästhetik. Hrsg. von Stefan Hermes und Sebastian Kaufmann. Berlin/Boston 2014; Nowitzki, Hans-Peter: Der wohltemperierte Mensch. Aufklärungsanthropologien im Widerstreit. Berlin/New York 2003. Für eine präzise Analyse der genannten Konstellation, in der die Überlegungen Feders im Zentrum stehen, siehe: Nowitzki, Hans-Peter/Roth, Udo/Stiening, Gideon: „‚Mit dem Menschen hat es die Philosophie zu thun'. J. G. H. Feder – Von einer ‚Physik des Herzens' zur praktischen Anthropologie". In: Johann Georg Heinrich Feder: Ausgewählte Schriften. Hrsg. von Hans-Peter Nowitzki, Udo Roth und Gideon Stiening. Berlin/Boston 2018, IX–XXXIV; Stiening, Gideon: „‚Ganzer Mensch' statt ‚reiner Vernunft'. Feders Zeitschriftenprojekt Philosophische Bibliothek und seine Rezension der Kritik der praktischen Vernunft". In: Johann Georg Heinrich Feder. Empirismus und Popularphilosophie zwischen Wolff und Kant. Hrsg. von Hans-Peter Nowitzki, Udo Roth und Gideon Stiening. Berlin/Boston 2018, 209–234. Es folgt dem zeitgenössischen Vorbild des philosophischen Arztes: „Der Philosoph müste Arzt, und der Arzt Philosoph seyn", fordert etwa Michael Hißmann in seinen Psychologischen Versuchen (1777).  Zum Leben und Wirken von Michael Hißmann vgl. das Lemma „Michael Hißmann" von Falk Wunderlich in: The Bloomsbury Dictionary of Eighteenth Century German Philosophers. Hrsg. von Manfred Kuehn und Heiner F. Klemme. London/New York 2016, 338–343; sowie: Michael Hißmann (1752–1784). Ein materialistischer Philosoph der deutschen Aufklärung. Hrsg. von Heiner F. Klemme, Gideon Stiening und Falk Wunderlich. Berlin/Boston 2012. Und nach Platner sind auch Körper und Seele voneinander nicht zu isolieren, so dass sich der Arzt „eben so wenig auf jenen einschränken darf, als der Moralist auf diese".  Riedel: Die Anthropologie des jungen Schiller, zit., 12 – aber vgl. auch 16–17 (insbesondere zu Hißman). Schiller übernimmt dieses Programm, indem er in der Einleitung des Versuchs schreibt, dass er sich damit beschäftigt, „den merkwürdigen Beitrag des Körpers zu den Aktionen der Seele, den großen und reellen Einfluß des tierischen Empfindungssystems auf das Geistige in ein helleres Licht zu setzen".  Schiller: Versuch, Einleitung, 123. Er entwickelt das Programm einer psychophysischen Disziplin soweit, dass er die zwei menschlichen Naturen nicht nur zu harmonieren anstrebt, sondern er ist sogar der Überzeugung, dass die „innigste Vermischung der beiden Substanzen" im Menschen herrscht und keine einseitige Vorherrschaft der Seele gegenüber dem Leib möglich ist.  Vgl. Schiller: Versuch, § 18. Zum Anthropologiebegriff notiert Riedel: „In deutscher terminologischer Tradition bedeutet der Begriff „Anthropologie" in der Regel nicht, wie in anderen Sprachen, „Ethnologie", bezeichnet also nicht die (sozialwissenschaftsnahe) Wissenschaft von den menschlichen Kulturen, sondern die (naturwissenschaftsnahe) Wissenschaft von der „Natur" des Menschen". Siehe Riedel, Wolfgang: „Die anthropologische Wende: Schillers Modernität". In: Friedrich Schiller und der Weg in die Moderne. Hrsg. von Walter Hinderer. Würzburg 2006, 143–163, hier 144, Fußnote. Vgl. dazu weiterführend: Riedel, Wolfgang: „Anthropologie und Literatur in der deutschen Spätaufklärung. Skizze einer Forschungslandschaft". In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur. Sonderheft 6: Forschungsreferate 3. 1994, 93–157; Riedel, Wolfgang: „Erster Psychologismus. Umbau des Seelenbegriffs in der deutschen Spätaufklärung". In: Zwischen Empirisierung und Konstruktionsleistung. Anthropologie im 18. Jahrhundert. Hrsg. von Jörn Garber und Heinz Thoma. Tübingen 2004, 1–17. Die Zentralität moralanthropologischer Fragen wird schon in der Einleitung des Versuchs ersichtlich, wenn Schiller schreibt: „Ehe wir die höheren moralischen Zwecke, die mit Beihilfe der thierischen Natur erreicht werden, zu erforschen suchen, müssen wir zuerst ihre physische Notwendigkeit festsetzen".  Schiller: Versuch, Einleitung, 123. Die moralischen Zwecke der Menschen sind maßgebend und gelten zugleich als Ausgangspunkt für die Erforschung der physikalischen Welt. Ein Gedanke wird weiterentwickelt, der im Zentrum der ersten Dissertation stand, nämlich jener der Widerspiegelung der Vollkommenheit Gottes in der zu erreichenden Vollkommenheit der menschlichen Natur. Schiller schreibt dazu:

Alle Anstalten, die wir in der sittlichen und körperlichen Welt zur Vollkommenheit des Menschen gewahrnehmen, scheinen sich zuletzt in den Elementarsatz zu vereinigen: Vollkommenheit des Menschen liegt in der Uebung seiner Kräfte durch Betrachtung des Weltplans; und da zwischen dem Maße der Kraft und dem Zweck, auf den sie wirket, die genaueste Harmonie sein muß, so wird Vollkommenheit in der höchstmöglichsten Thätigkeit seiner Kräfte und ihrer wechselseitigen Unterordnung bestehen. [...] Die Thätigkeit der menschlichen Seele ist [...] an die Thätigkeit der Materie gebunden.  Schiller: Versuch, § 2, 124.

Schiller hatte schon in der ersten medizinischen Dissertation geschrieben, dass die Vollkommenheit des Menschen durch die Betrachtung der Welt als Schöpfung Gottes erreicht wird, und dass diese Vollkommenheit zur Glückseligkeit als Vergnügen führen wird. Jetzt betont er wieder, dass die gleichzeitige und harmonische Übung beider Kräfte, sowohl geistiger als auch materieller Natur, die Menschen vollkommen machen, und dass sich die Harmonie der Ganzheit der Welt in der Harmonie der menschlichen Welt widerspiegeln muss. Die sittliche Welt muss sich mit der körperlichen Welt vereinigen, damit sich der Mensch vervollkommnen kann. Das impliziert die Vereinigung der Tätigkeit der Seele und der Tätigkeit der Materie, das harmonische Zusammenspiel von Geist und Körper.

Diese Idee einer vermischten menschlichen Natur hat ihren Keim in der Idee, dass die Natur „keinen Sprung leidet", denn „alles geht in ihr stufenweise" schreiben Naturwissenschaftler wie Carl von Linné oder Charles Bonnet.  Zu Schillers Verhältnis zu den Naturwissenschaften siehe u. a. Riedel: Die Anthropologie des jungen Schiller, 111–121. Schiller kennt dieses Prinzip und wird es später in den Kallias-Briefen wiederholen: „Die Natur liebt keinen Sprung".  Schiller: Kallias oder über die Schönheit, 53. In der great chain of being ist der Mensch ein Geschöpf aus Körper und Geist, das die Stufe zwischen Tier und Engel ausfüllt.  Vgl. Lovejoys Behandlung der „großen Kette der Wesen" (siehe Lovejoy, Arthur O.: The Great Chain of Being. A Study of the History of an Idea. Cambridge 1936), wofür er sich bekanntlich von Alexander Pope (in kritischer Hinsicht) inspirieren ließ, der in seinem Essay on Man (1734) den Begriff von „vast chain of being" erörtert. Beide Komponenten sind menschlich, weder das Körperliche noch das Geistige darf die Oberhand gewinnen, beide Komponenten vereinigt gilt es zu kultivieren und zu harmonieren, um die Vollkommenheit zu erreichen, die im Weltplan der Schöpfung vorgesehen ist. Zunächst kommt die pars destruens:

Den Philosophen, der die Natur der Gottheit entfaltet und wähnet, die Schranken der Sterblichkeit durchbrochen zu haben, kehrt ein kalter Nordwind [...] zu sich selbst zurück und lehrt ihn, daß er das unselige Mittelding von Vieh und Engel ist. Wider die überhandnehmenden thierischen Fühlungen vermag endlich die höchste Anstrengung des Geistes nichts mehr, die Vernunft wird, so wie sie wachsen, mehr und mehr übertäubt und die Seele gewaltsam an den Organismus gefesselt.  Schiller: Versuch, § 5, 130.

Nach der pars destruens, die gegen die Versuche gerichtet ist, den Mensch als zweigeteiltes Wesen zu interpretieren, kommt die pars construens, und zwar die methodische Erklärung der Notwendigkeit einer harmonischen Lösung. Es ist nicht die Seele, die uns diesen Weg zeigt, sondern eine tierische Empfindung, die den Menschen in die Lage versetzt, zur Vollkommenheit und Harmonie der beiden menschlichen Naturen zu gelangen. Schiller schreibt:

Man versetze die Seele in den Zustand des physischen Schmerzens. [...] Jetzt ist Empfindung da, und [...] so hilft thierische Empfindung das innere Uhrwerk des Geists, [...] in den Gang bringen. Der Uebergang von Schmerz zu Abscheu ist Grundgesetz der Seele. Der Wille ist thätig, und die Thätigkeit einer einzigen Kraft ist hinlänglich, alle übrigen in Wirkung zu setzen.  Schiller: Versuch, § 9, 133 f.

Der menschliche Wille wird von einem tierischen Schmerz in Gang gesetzt. Durch den tierischen Schmerz wird der Seele deutlich, dass sie tätig werden muss, um diese Negativität aufzuheben, die auch sie und nicht nur den Körper bedroht. Das erste Prinzip des Denkenden ist vom Körperlichen verursacht. Das meint Schiller, meiner Lektüre nach, wenn er schreibt: „Der Mensch mußte Thier sein, eh er wußte, daß er ein Geist war [...]. Der Körper [ist] der erste Sporn zur Thätigkeit; Sinnlichkeit die erste Leiter zur Vollkommenheit".  Schiller: Versuch, § 11, 141. Die Sinnlichkeit ist also der erste Beweggrund der Vollkommenheit, insofern die Vollkommenheit erst dann erreicht wird, wenn Seele und Körper harmonieren. Das ist erst möglich, wenn die Seele von der Empfindung in Gang gebracht wird. Die moralphilosophischen Inhalte der Ideen Schillers in dieser medizinischen Schrift sind kaum zu übersehen – und wurden trotzdem von den Interpreten ignoriert. Die Vollkommenheit des Menschen als Ganzheit spiegelt die Vollkommenheit des Universums wider und das Streben nach dieser Harmonie zwischen universeller Vollkommenheit und menschlicher Vollkommenheit ist die Tugend.  Vgl. Schiller: Versuch, § 13, 143: „Wer begreift nun nicht, daß diejenige Verfassung der Seele, die aus jeder Begebenheit Vergnügen zu schöpfen und jeden Schmerz in die Vollkommenheit des Universums aufzulösen weiß, auch den Verrichtungen der Maschine am zuträglichsten sein muß? Und diese Verfassung ist die Tugend." Schiller fasst zusammen:

Die allgemeine Empfindung thierischer Harmonie [sollte] die Quelle geistiger Lust [...] sein. [...] Dies ist die wunderbare und merkwürdige Sympathie, die die heterogenen Principien des Menschen gleichsam zu Einem Wesen macht, der Mensch ist nicht Seele und Körper, der Mensch ist die innigste Vermischung dieser beiden Substanzen.  Schiller: Versuch, § 18, 149.

Mit dem Wort Sympathie greift Schiller auf einen terminus technicus zurück, der sowohl in der zeitgenössischen Medizin als auch in der Moralphilosophie zu finden ist. Was die Moralphilosophie angeht, ist Sympathie die empathische Mitleidenschaft und moralanthropologische Quelle der schottischen Philosophen, die den Zusammenhang in der Gesellschaft befördert; was die Medizin angeht, ist Sympathie das Prinzip, das aus den einzelnen Organen des lebenden Körpers und ihren Funktionen ein unauflösliches Ganzes macht.  Vgl. Riedel: Die Anthropologie des jungen Schiller, 134. Sympathie ermöglicht die Erklärung des untrennbaren Zusammenhangs von tierischer und geistiger Natur des Menschen, die die menschliche Ganzheit ausmacht und zur Harmonie als Vollkommenheit führt.

Tugend, als Verfassung der Seele, die nach Vollkommenheit strebt, ist nicht an sich ausreichend, um die menschliche Vollkommenheit zu erreichen. Moral an sich reicht nicht aus. Der Mensch soll sich auch durch Vergnügen zur Vollkommenheit verhelfen. Somit versetzt ein einheitliches und ganzheitliches Menschenbild Schiller in die Lage, die menschliche Vollkommenheit zu erklären: Moralanthropologie statt bloßer Moralphilosophie oder bloßer Medizin.

3 Ein neuer Dualismus, den es zu überwinden gilt: Die Kluft zwischen homo phaenomenon und hom...

Wenn wir die Termini der dritten medizinischen Dissertation in Schillers Sprache der Jenaer Zeit übersetzen wollen, müssen wir zunächst die behandelten Begriffe neu durch die Brille Kants lesen. Wir werden sehen, dass nun statt Körper und Seele oder statt tierischer und geistiger Natur das vernünftige Wesen und das sinnliche Wesen im Menschen thematisiert und einander gegenübergestellt werden. Dies macht aber für die Lösung Schillers keinen großen Unterschied, denn er schlägt in den 90er Jahren für die Überwindung des kantischen Dualismus von homo phaenomenon und homo noumenon die gleiche Lösung vor, wie in der medizinischen Dissertation für die Überwindung des Dualismus von Körper und Seele. Auch nach den Kant-Studien in Jena verhilft Schiller die Idee der Ganzheit des Menschen aus der neuen Dichotomie. Um die neuen Termini der Diskussion zu verstehen, muss man zunächst den menschlichen Dualismus aus Schillers neuer kantischer Perspektive erläutern.

Einige Jahre sind vergangen, Schiller ist nicht mehr an der Karlsschule in Stuttgart, sondern an der Universität Jena, in dieser Zeit eines der wichtigsten Zentren für die Verbreitung der kantischen Philosophie. 1787 erhält Karl Leonhard Reinhold eine Professur für Philosophie in Jena und nicht zuletzt durch seine Popularität und sein Engagement für die kantische Philosophie wird die Stadt zum Zentrum der deutschen Philosophie dieser Jahre. Bekanntlich nimmt Schiller 1789 eine Professur in Jena an. Um das Jenaer Panorama noch zu vervollständigen, muss man erwähnen, dass 1794 auch Fichte eine Professur in Jena erhält, die er bis 1799 innehat, d. h. bis er nach dem Ausbruch des Atheismusstreits die Stadt verlassen muss. 1801 kommt noch Hegel in die Universitätsstadt, wo er als Privatdozent arbeitet und mit den Protagonisten der kantischen moralphilosophischen Debatte wirkt.  Zum Frühkantianismus an der Universität Jena siehe Wundt, Max: Die Philosophie an der Universität Jena in ihrem geschichtlichen Verlaufe. Jena 1932; Der Aufbruch in den Kantianismus. Der Frühkantianismus an der Universität Jena von 1785–1800 und seine Vorgeschichte. Hrsg. von Norbert Hinske, Erhard Lange und Horst Schröpfer. Stuttgart/Bad Cannstatt 1995; Nuzzo, Angelica: „Metamorphosen der Freiheit in der Jenenser Kant-Rezeption (1785–1794)". In: Evolution des Geistes: Jena um 1800. Natur und Kunst, Philosophie und Wissenschaft im Spannungsfeld der Geschichte. Hrsg. von Friedrich Strack. Stuttgart 1994, 484–518; Lazzari, Alessandro/Bondeli, Martin: „Kants Gegner". In: Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie des 18. Jahrhunderts. Band 5: Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation – Schweiz – Nord- und Osteuropa. 1. Halbband. Hrsg. von Helmut Holzhey und Vilem Mudroch. Basel 2014, 1121–1151; Marti, Hanspeter: „Vermittlungsinstanzen des aufklärerischen Gedankenguts und seiner Kritik". In: Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie des 18. Jahrhunderts. Band 5: Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation – Schweiz – Nord- und Osteuropa. 1. Halbband. Hrsg. von Helmut Holzhey und Vilem Mudroch. Basel 2014, 26–39.

In Jena lösen die kantischen Texte bei Schiller vor allem die Lust auf die Suche nach einer ihn zufriedenstellenden Theorie des Schönen aus. Diese wird zunächst in einem lebendigen Briefwechsel mit Christian Gottfried Körner zum Thema der Schönheit dokumentiert, die so genannten Kallias-Briefe (1793). Die Suche nach Objektivität in der Ästhetik zeigt nicht die erhofften Resultate, so dass sie in den Augustenburger Briefen und in den Briefen über die ästhetische Erziehungdes Menschen weitergeführt wird.  Zu den Augustenburger Briefen siehe Briefe von Schiller an Herzog Christian von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg über ästhetische Erziehung, in ihrem ungedruckten Urtexte herausgegeben von A. L. J. Michelsen. In: Deutsche Rundschau, Band VII, 1875, 67–81; 273–284; 400–413; Band VIII, 1876, 253–268. Außerdem: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, erstveröffentlicht in: Die Horen, Eine Monatsschrift. Hrsg. von Friedrich Schiller, Teil 1, 1795, 7–48; Teil 2, 1795, 167–210; Teil 6, 1795, 45–124. Eine wichtige Station in diesem Prozess ist auch der Aufsatz Über Anmut und Würde. Die Überwindung des Dualismus vom Sinnlichen und Vernünftigen im Menschen ist mit Schillers Theorie einer neuen Ästhetik untrennbar verbunden.

Betrachten wir das Dualismus-Problem näher. Es ist das wichtigste Problem, das die ersten Leser Kants in der kantischen Philosophie finden. Kant legt den Dualismus von vernünftiger und sinnlicher Natur des Menschen an vielen Stellen seines Werkes dar, so in den auch von Schiller rezipierten Werken Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und der zweiten Kritik, wo die Wirkung des Sittengesetzes der Vernunft auf die sinnliche Natur des Menschen jeweils präzise erläutert wird. Die ersten vier Paragraphen der Tugendlehre bieten jedoch die klarste kantische Darstellung der „zwiefachen Qualität" des Menschen:

Der Mensch betrachtet sich in dem Bewußtsein einer Pflicht gegen sich selbst, als Subject derselben, in zwiefacher Qualität: erstlich als Sinnenwesen, d. i. als Mensch (zu einer der Thierarten gehörig); dann aber auch als Vernunftwesen (nicht blos vernünftiges Wesen, weil die Vernunft nach ihrem theoretischen Vermögen wohl auch die Qualität eines lebenden körperlichen Wesens sein könnte), welches kein Sinn erreicht und das sich nur in moralisch-praktischen Verhältnissen, wo die unbegreifliche Eigenschaft der Freiheit sich durch den Einfluß der Vernunft auf den innerlich gesetzgebenden Willen offenbar macht, erkennen läßt.  MS, TL, § 2, AA 06: 418.05–13.

In den ersten Paragraphen der Tugendlehre (die allerdings, Schiller beim Schreiben der Kallias-Briefe nicht kennen konnte, da die Tugendlehre erst einige Jahre später erschien) wird Kants Dualismus am ersichtlichsten.  Zu den ersten Paragraphen der Tugendlehre, siehe Dieter Schönecker, Dieter: „Kant über die Möglichkeit von Pflichten gegen sich selbst (Tugendlehre §§ 1-–3): Eine Skizze". In: Kant als Bezugspunkt philosophischen Denkens. Festschrift für Peter Baumanns zum 75. Geburtstag. Hrsg. von Hubertus Busche und Anton Schmitt. Würzburg 2010, 235–260; Denis, Lara: „Freedom, primacy, and perfect duties to oneself". In: Kant's Metaphysics of Morals. A Critical Guide. Hrsg. von Lara Denis. Cambridge/New York 2010, 170–191; Timmermann, Jens: „Duties to Oneself as Such (TL 6: 417–420)". In: Kant's Tugendlehre. A Comprehensive Commentary. Hrsg. von Andreas Trampota, Oliver Sensen und Jens Timmermann. Berlin/Boston 2013, 207–220. Es ist bemerkenswert, dass sich die Analysen auf die ersten drei Paragraphen konzentrieren, auch wenn Kant eine wichtige Schlussfolgerung erst in § 4 ausspricht: „Das verpflichtete sowohl als das verpflichtende Subject ist immer nur der Mensch". MS, TL, § 4, AA 06: 419.01–02. Die kantische Strategie sieht vor, dass zwei Welten oder zwei menschliche Naturen, sozusagen, zu betrachten sind, nämlich das sinnliche Wesen einerseits und das vernünftige Wesen andererseits. Der konkrete, vom Moralgesetz ausgeübte Zwang wird, in diesem Kontext, als Brücke zwischen den zwei Wesen zu behandeln. Nach dieser Darstellung ist das Moralgesetz für Menschen, als Gesetz der Freiheit, in der phänomenalen Welt nötigend. Die Freiheit eines sich selbst gegebenen Moralgesetzes lässt in der Naturkausalität einen neuen Anfang zu. Die Vernunft zwingt die Sinnlichkeit und der Mensch, als sinnliches Wesen, wird vom Menschen als vernünftiges Wesen gezwungen, moralisch zu handeln:

Der Mensch nun als vernünftiges Naturwesen (homo phaenomenon) ist durch seine Vernunft, als Ursache, bestimmbar zu Handlungen in der Sinnenwelt, und hiebei kommt der Begriff einer Verbindlichkeit noch nicht in Betrachtung. Eben derselbe aber seiner Persönlichkeit nach, d. i. als mit innerer Freiheit begabtes Wesen (homo noumenon) gedacht, ist ein der Verpflichtung fähiges Wesen und zwar gegen sich selbst (die Menschheit in seiner Person) betrachtet, so: daß der Mensch (in zweierlei Bedeutung betrachtet), ohne in Widerspruch mit sich zu gerathen (weil der Begriff vom Menschen nicht in einem und demselben Sinn gedacht wird), eine Pflicht gegen sich selbst anerkennen kann.  MS, TL, § 3, AA 06: 418.14–23.

Die moralischen Aspekte sind in Kants zwei-Welten-Theorie sehr prominent, wie die zitierten Textstellen zeigen und wie Schiller als genauer Leser des kantischen Werks nicht zu unterschätzen vermag. In den Kallias-Briefen behandelt er genau die moralischen Konsequenzen des dargestellten menschlichen Dualismus. In diesen Briefen wird die Bedeutung der Begriffe moralphilosophischer Natur in der Ästhetik sofort deutlich, wenn wir Schillers Definition des Schönheitsbegriffes in Betracht ziehen. Er schreibt bekanntlich: „Schönheit [...] ist nichts als Freiheit in der Erscheinung".  Schiller: Kallias, 18. Und, indem er diese Definition vorlegt, unterscheidet er zwischen Freiheit aus einer praktisch-moralischen Perspektive und Freiheit aus einer ästhetischen Perspektive:

Entdeckt nun die praktische Vernunft bei Betrachtung eines Naturwesens, daß es durch sich selbst bestimmt ist, so schreibt sie demselben [...] Freiheitähnlichkeit oder kurzweg Freiheit zu. Weil aber diese Freiheit dem Objecte von der Vernunft nur geliehen wird [...] und Freiheit selbst nie als solche in die Sinne fallen kann – kurz – da es hier bloß darauf ankommt, daß ein Gegenstand frei erscheine, nicht wirklich ist: so ist diese Analogie eines Gegenstandes mit der Form der pr(aktischen) Vernunft nicht Freiheit in der That, sondern bloß Freiheit in der Erscheinung, Autonomie in der Erscheinung.  Schiller: Kallias, 17.

Es scheint uns, als ob ein schöner Gegenstand frei wäre, als ob er sogar aufgrund eines Gesetzes handeln würde, das er sich selbst gegeben hat. Das Charakteristikum des Gegenstandes ist sein – wie Schiller sagt – „Nichtvonaußenbestimmtsein".  Vgl. insbesondere Schillers Brief an Körner vom 23. Februar 1793 im Rahmen des Kallias-Zyklus.

Der Selbstzwang, wie wir ihn nach Kant in einer moralischen Handlung finden, ist mit Schillers Theorie nicht vereinbar. Die Definition des Schönen ist der Grund einer unüberwindlichen Distanz zwischen Ethik und Ästhetik, wie Schiller in den Kallias-Briefen schreibt. Denn nicht nur natürliche Handlungen eines Gegenstandes, sondern auch menschliche Handlungen können aus einer ästhetischen Perspektive betrachtet werden. Das Problem wird im Fall der moralischen Handlungen eines Menschen am evidentesten. Schiller schreibt: „Wird die Form des Nichtvernünftigen durch Vernunft bestimmt [...], so erleidet seine reine Naturbestimmung Zwang, also kann Schönheit nicht statthaben",  Schiller: Kallias, 28. und er fügt hinzu: „Gerade also wenn die Vernunft ihre Autonomie ausübt (die nie in der Erscheinung vorkommen kann), so wird unser Auge durch eine Heteronomie in der Erscheinung beleidigt".  Ibid.

Das ist das Problem der doppelten Natur des Menschen. Der Mensch ist einerseits vernünftig – und kann sich somit ein Gesetz geben, das der Autonomie seiner Handlung Anlass gibt. Andererseits ist der Mensch aber zugleich auch sinnlich, so dass sich dieses Gesetz der Vernunft in den Phänomenen als Zwang äußert. Die sinnliche Natur des Menschen ist nicht mehr frei in der moralischen Handlung: Sie kann nicht mehr frei scheinen. Infolgedessen notiert Schiller:

Offenbar hat die Gewalt, welche die praktische Vernunft bei moralischen Willensbestimmungen gegen unsere Triebe ausübt, etwas Beleidigendes, etwas Peinliches in der Erscheinung. Wir wollen nun einmal nirgends Zwang sehen, auch nicht, wenn die Vernunft selbst ihn ausübt; auch die Freiheit der Natur wollen wir respektiert wissen, weil [...] es uns, denen Freiheit das Höchste ist, ekelt (empört), daß etwas dem anderen aufgeopfert werden und zum Mittel dienen soll.  Schiller: Kallias, 32.

Schillers Schlussfolgerung ist glasklar: „Daher kann eine moralische Handlung niemals schön sein, wenn wir der Operation zusehen, wodurch sie der Sinnlichkeit abgeängstigt wird".  Ibid.

4 Schlussbemerkungen

Schiller wird im Kontext der Kallias-Briefe zu keiner vollständigen Lösung dieses Dualismus kommen. Trotzdem sieht man auch in den Kallias-Briefen, die ästhetischen Themen gewidmet sind, wie bereits in den medizinischen Dissertationen, und insbesondere in dem analysierten Versuch, dass bei Schillers theoretischen Überlegungen immer wieder moralphilosophische Fragen auftauchen, und dass diese moralphilosophischen Fragen in Bezug auf den Dualismus einer doppelten menschlichen Natur formuliert werden.

Der Dualismus zwischen geistiger und tierischer Natur der dritten medizinischen Dissertation eignet sich in den Kallias-Briefen eine kantische Ausformulierung an. Der in den Kallias-Briefen neu definierte Dualismus wird skizzenhaft durch eine Lösung überwunden, die jener ähnelt, die wir schon in der dritten Dissertation gesehen haben. Die Lösung besteht in dem Rekurs auf eine menschliche Natur, die nicht zweigeteilt, sondern einheitlich und ganzheitlich ist.

Über die Ganzheit des Menschen wird in einer bestimmten Art und Weise auch in den Kallias Briefen reflektiert, wenn Schiller schreibt, dass die Person, die moralisch handelt, „sich selbst ganz dabei [vergisst] und »seine Pflicht mit einer Leichtigkeit erfüllt, als wenn bloß der Instinkt aus ihm gehandelt hätte«. Also wäre eine moralische Handlung alsdann erst eine schöne Handlung", setzt Schiller fort,

Wenn sie aussieht wie eine sich von selbst ergebende Wirkung der Natur. Mit einem Worte: eine freie Handlung ist eine schöne Handlung, wenn die Autonomie des Gemüts und Autonomie in der Erscheinung koinzidieren.  Schiller: Kallias, 28.

Diese Lösung, die Schiller in den Kallias-Briefen nur skizziert, wird in weiteren Schriften verfolgt, unter anderem in der Schrift Über Anmut und Würde, in der Schiller seiner Idee einer Schönen Seele präsentiert, die das Sinnliche dem Intelligiblen im Menschen gleichsetzt.  „Die schöne Seele muss sich [...] im Affekt in eine erhabene verwandeln und das ist der untrügliche Probierstein, wodurch man sie von dem guten Herzen oder der Temperamentstugend unterscheiden kann". Schiller, Friedrich: Über Anmut und Würde. Zuerst erschienen in: Neue Thalia, Band 3, 1793. Zitiert aus: Schiller, Friedrich: Kallias oder über die Schönheit – Über Anmut und Würde. Hrsg. von Klaus L. Berghahn. Stuttgart. 1971, 118 f. Die friedliche Harmonie zwischen vernünftiger und sinnlicher Natur im Menschen, scheint nun dank des Zusammenfallens der beiden Naturen des Menschen erreicht zu sein. Wir finden in einer Schönen Seele eine personifizierte qualitativ andere Natur, die keine Zusammensetzung von Sinnlichem und Vernünftigem, sondern eine sinnlich-vernünftige Natur ist. Wenn das Sinnliche zugleich das Vernünftige ist, ist das Moralgesetz verbindlich, wirkt aber nicht als Zwang. Die vermeintliche Ekelhaftigkeit der moralischen Handlung wird durch die Ganzheit des Menschen überwunden. Sinnlichkeit und Vernunft sind in der neuen Natur beide enthalten. Der Mensch ist nicht mehr zweigeteilt, keine Zusammensetzung von zwei verschiedenartigen Elementen, sondern eine einzige, natürlich-vernünftige Einheit. Zu diesen Überlegungen in Über Anmut und Würde siehe: Baxley, Anne Margaret: „The Beautiful Soul and the Autocratic Agent: Schiller's and Kant's 'Children of the House'". In: Journal of the History of Philosophy 41 (4), 2003, 493–514. Oder auch in den Briefen über die ästhetischeErziehung des Menschen, in denen wir die menschliche Ganzheit wiederfinden, und zwar in der Definition des Spieltriebes  „Der Spieltrieb wird also damit umgehen, die Einheit der Idee in der Zeit zu vervielfältigen; das Gesetz zum Gefühl zu machen; oder was eben soviel ist, die Vielheit in der Zeit in der Idee zu vereinigen; das Gefühl zum Gesetz zu machen." Schiller, Friedrich: Über die Ästhetische Erziehung in einer Reihe von Briefen. Hrsg. und kommentiert von Stefan Matuschek. Frankfurt am Main 2009, 58. und in der Definition des Menschen, der „nur da ganz Mensch [ist], wo er spielt".  Schiller: Über die Ästhetische Erziehung in einer Reihe von Briefen, zit., 64. In den Briefenüber die ästhetische Erziehung des Menschen kommen außerdem einige Gedanken wieder, die schon in der dritten medizinischen Dissertation zu finden sind: Insbesondere der Einfluss Fergusons durch die Übersetzung Garves spielt in dieser Schrift eine Rolle, aber auch die Idee der Sympathie als Element für die soziale Interpretation des Menschen und den Zusammenhalt der Gesellschaft. Es ist dennoch klar, dass die tentative Lösung Schillers sehr unkantisch ist: Man darf vernünftige und sinnliche Bestimmungen nicht gleichsetzen.

Was können wir also tun? Sollen wir einfach den Hiatus zwischen Ethik und Ästhetik akzeptieren? Oder uns eher fragen: Wen kümmert es, wenn eine moralische Handlung hässlich ist? Ist es nicht einfach ein kategorialer Fehler von Schiller, zu denken, dass Ethik und Ästhetik eine gewisse Nähe oder Ähnlichkeit vorweisen sollten? Bleibt der Mensch nicht, letztendlich, immer ein zweigeteiltes Wesen? Nun gut, uns und Kant muss das Problem kümmern. Denn die Schönheit ist ein Symbol der Sittlichkeit, wie die achtsamen Leser der Kritik der Urteilskraft wissen  Vgl. KU, § 59, AA 06: 351–354.  – und Schiller war einer von ihnen! Und wie Kant in der Tugendlehre wiederholt, bereitet das Schöne die „Stimmung der Sinnlichkeit" vor, die die Moralität befördert.  Vgl. MS, TL, § 17, AA 06: 443.01–25. Schiller hatte also Recht, sich um den Hiatus zwischen Ethik und Ästhetik zu kümmern, und sich für den ganzen Menschen zu interessieren.  Kant selber versucht, diese Frage in der Religion zu adressieren, und zwar in der Fußnote, in der er Schillers Einwände in Betracht zieht. Hier sind seine Bemerkungen dazu: „Die Majestät des Gesetzes [...] flößt Ehrfurcht ein [...], welche [...] ein Gefühl des Erhabenen unserer eigenen Bestimmung erweckt, was uns mehr hinreißt als alles Schöne." RGV, AA 06: 23, Fußnote. Kant scheint das Problem durch eine kategoriale Wendung und Unterscheidung zwischen Schönem und Erhabenem überwinden zu wollen. Das Problem der „Häßlichkeit" einer moralischen Handlung ist von der als zweigeteilt dargestellten menschlichen Natur verursacht. Diese Zweiteilung gilt es zu überwinden, die Ganzheit des Menschen ist zu erreichen. Die Untersuchungen der Kallias-Briefe, diesmal aus einer kantischen Perspektive, sind deswegen als eine klare Fortsetzung der Untersuchung über die Ganzheit des Menschen zu verstehen, die Schiller schon in den medizinischen Dissertationen – noch unabhängig von seiner späteren Kant-Lektüre – am Herzen liegt. Durch die Betrachtung dieser Themen können wir den roten Faden finden, der sich durch sämtliche theoretische Überlungen Schillers zieht. Dieser rote Faden ist der einer Moralanthropologie.

Acknowledgments

Diese Veröffentlichung wurde durch ein Feodor-Lynen-Forschungsstipendium der Alexander von Humboldt-Stiftung unterstützt. Für die sprachliche Verbesserung des Textes bin ich Sandra Vlasta dankbar.

By Antonino Falduto

Reported by Author

Titel:
Jenseits des Dualismus zwischen tierischer Natur und geistiger Natur: Kants Mensch „in zwiefacher Qualität" und Schillers „ganzer Mensch".
Autor/in / Beteiligte Person: Falduto, Antonino
Link:
Zeitschrift: Kant-Studien, Jg. 111 (2020-06-01), Heft 2, S. 248-268
Veröffentlichung: 2020
Medientyp: academicJournal
ISSN: 0022-8877 (print)
DOI: 10.1515/kant-2020-0016
Schlagwort:
  • HUMAN behavior
  • MORAL development
  • STUTTGART (Germany)
  • Subjects: HUMAN behavior MORAL development
  • homo phaenomenon/homo noumenon
  • Human Entirety
  • Human Nature
  • Kant
  • Moral Anthropology
  • Schiller
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: English
  • Document Type: Article
  • Geographic Terms: STUTTGART (Germany)
  • Author Affiliations: 1 = Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Seminar für Philosophie, Emil-Abderhalden-Str. 26/27, D-06108 Halle (Saale), Deutschland

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