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Die proklische Diotima: Philosophie, Religion und das Weibliche.

Schultz, Jana
In: Bochumer Philosophisches Jahrbuch für Antike und Mittelalter, Jg. 22 (2019), Heft 1, S. 75-98
Online academicJournal

Die proklische Diotima: Philosophie, Religion und das Weibliche  1. Einleitung

Die durch Platons Symposium bekannte Figur der Diotima hat durch ihre Lehre vom Intermediären eine Bedeutung erlangt, die weit über die platonischen Werke hinausweist. Dabei erläutert sie das Intermediäre nicht nur theoretisch, sondern ist selbst eine vermittelnde Kraft, die Sokrates in die erotisch verstandene Philosophie einführt und dadurch mit dem Intelligiblen verbindet. Mein Aufsatz möchte einen Beitrag zum Verständnis der Diotima-Figur in der platonischen Tradition leisten, indem er die Diotima in den uns von Proklos erhaltenen Schriften untersucht.

Diotima tritt in Proklos' Schriften als das Idealbild der Philosophin und der Priesterin auf. Im achten Essay zu Platons Politeia, in dem Proklos die Argumentation von Theodoros von Asine für die gleiche Tugend von Männern und Frauen wiedergibt, wird Diotima zu den pythagoreischen Philosophinnen gerechnet:[1]

ἡ μὲν οὖν κατ' εἶδος τῆς ἀρετῆς *** ἀνέπεισε τὸν Σωκράτη κοινὴν ποιῆσαι τὴν παιδείαν· ταύτην δὲ εὗρεν λαβὼν ἀπὸ τῶν πραγμάτων, ὅτι τινὲς γυναῖκες ζῶσι τὴν ἀνδρῶν ἀρετήν. καὶ τοῦτο Τιμαίῳ γνώριμον καὶ εὐπαράδεκτον, εἰδότι τοὺς βίους τῶν Πυθαγορείων γυναικῶν, τῆς Θεανοῦς, τῆς Τιμύχας, τῆς Διοτίμας αὐτῆς.[2] Die formale *** der Tugend überzeugte also Sokrates, die Erziehung gemeinsam zu machen. Aber er hat diese gefunden, indem er die Tatsachen erfasste, nämlich dass einige Frauen die Tugenden der Männer leben. Und dies ist dem Timaios wohlbekannt und leicht ersichtlich, wenn er sich das Leben der pythagoreischen Frauen vor Augen führt, der Theano, der Timycha und der Diotima selbst.[3]

Gleichzeitig hebt Proklos Diotimas Expertentum in Bezug auf alle mit dem Priestertum verbundenen Künste hervor. Beispielsweise wird sie als verständig in Bezug auf die niederen und die höheren Formen der Theurgie gezeichnet (Procl. In R. 2.337.14–16).

Im Folgenden soll zunächst (1) untersucht werden, in welcher Beziehung die beiden Rollen der Diotima, d.h. die Priesterin und die Philosophin, zueinander stehen. Dabei soll gezeigt werden, dass Diotima in Proklos' Schriften als ein Sinnbild für das gemeinsame Wirken von Religion und Philosophie auftritt, wobei sie zugleich zwei Ebenen der religiösen und philosophischen Praktiken verkörpert, die an der conditio humana orientierten und auf vermittelnde Instanzen angewiesenen Praktiken und die Transzendierung des menschlichen Zustandes und der vermittelnden Instanzen durch die Vereinigung mit der höchsten Ursache. Anschließend (2) soll dargelegt werden, wie sich Diotimas Weiblichkeit zu ihrer Rolle als Philosophin und Priesterin verhält. Die Untersuchung wird zeigen, dass Diotima für ein Ideal steht, dass den Aufstieg zum Göttlichen nicht an die ‚Vermännlichung' der Seele bindet, sondern an eine Art von ‚Androgyn-Werden', das heißt an einer Harmonisierung der männlichen und weiblichen Elemente der Seele.

2. Diotima als Priesterin und Philosophin

Diotima erscheint in den von Proklos erhaltenen Schriften sowohl als eine Figur, die sich in ihren religiösen und philosophischen Praktiken auf das Dämonische und Intermediäre konzentriert (Procl. In Parm. 663.19–22; Procl. In Alc. 64.9–19), wie auch als eine Figur, die nach gelungenem Aufstieg mit dem Höchsten vereinigt ist (Procl. Theol. Plat. 1.111.7–24). Wie ich im Folgenden zeigen werde, versinnbildlicht Diotima in diesen beiden Kontexten zwei Stufen sowohl der religiösen wie auch der philosophischen Praktiken.[4]

Diotima verkörpert durch ihr Expertentum in Bezug auf das Dämonische die an der conditio humana orientierten Praktiken im Bereich der Philosophie und im Bereich der Religion. Proklos verweist hauptsächlich im Kommentar zu Platons Alcibiades auf Diotima, einem Dialog, dessen σκοπός Proklos als das Sein des Menschen bestimmt:

Καὶ ποῦ φήσομεν οὕτως ἀλλαχοῦ δείκνυσθαι τὴν οὐσίαν ἡμῶν ἥτις ἐστί; ποῦ δὲ τὸν ἄνθρωπον ἐζητῆσθαι καὶ τὴν ἀνθρώπου φύσιν;[5] Und wo sonst [sc. außer im Alcibiades] sollen wir sagen, dass unsere Essenz, wie sie ist, auf diese Weise aufgezeigt wird. Wo sonst wird nach dem Menschen und der Natur des Menschen geforscht?[6]

Bedeutung erlangt dieses Thema für Proklos dadurch, dass die Erkenntnis der eigenen Natur notwendige Bedingung für die Philosophie (Procl. In Alc. 1.3–5) und für den Aufstieg zum Göttlichen im Allgemeinen ist (Procl. In Alc. 5.6–14).

Die geforderte Selbsterkenntnis bezieht Proklos dabei nicht primär darauf, sich selbst als Seele zu erkennen (wie es Platon im Alcibiades 129e9–130a2 darlegt), sondern auf die Erfassung der Stellung des Menschen innerhalb der hervorgehenden Ketten, die Proklos ontologisches System vertikal durchziehen. Denn nur wenn der Mensch seinen Platz im ontologischen System erfasst, kann er erkennen, worin sein Gut besteht. Doch da der Bereich der Seele in Proklos' Metaphysik stark ausdifferenziert ist, genügt es nicht, sich allein als Seele (im Unterschied zu Intellekt und Körper) zu verstehen, sondern der Mensch muss auch erkennen, was ihn von den höheren Seelen unterscheidet, d.h. von den göttlichen, engelhaften, dämonischen und heroischen Seelen:

Διὸ νοῦ μέν ἐστιν ἐν αἰῶνι τὸ τέλειον, ψυχῆς δὲ ἐν χρόνῳ· καὶ ψυχῆς μὲν κατὰ νοῦν τὸ ἀγαθόν, σώματος δὲ κατὰ φύσιν· καὶ αὖ πάλιν θεῶν μὲν ἄλλη τελειότης, ἀγγέλων δὲ ἄλλη καὶ δαιμόνων, ψυχῶν δὲ ἄλλη μερικῶν.[7] Denn die Vollkommenheit des Geistes ist in der Ewigkeit, die der Seele in der Zeit. Und das Gut der Seele ist gemäß dem Intellekt, das des Körpers aber gemäß der Natur. Und noch einmal, die eine Vollkommenheit ist die der Götter, eine andere aber die der Dämonen, eine andere die der individuellen Seelen.

Entsprechend kritisiert Proklos Alcibiades auch nicht allein für seine doppelte Ignoranz, d.h. dafür, dass er zu wissen glaubt, was er nicht weiß,[8] sondern auch für seine Unkenntnis in Bezug auf die menschliche Natur:

Δεύτερον τὸ τῆς ὑπερβολῆς μέγιστον ἔτι κατηγόρημα τοῦ λέγοντος· τὸ γὰρ μηδενὸς εἰς μηδὲν δεῖσθαι τῆς ἀνθρωπίνης οὐ στοχάζεται φύσεως καὶ τῆς ἀσθενείας τοῦ γένους ἡμῶν, [...]. Ἔδει δὴ οὖν αὐτὸν μὴ μέχρι τοσούτου μέγα φρονεῖν ὥστε τοὺς ὅρους ὑπερβαίνειν τῆς ἀνθρωπίνης φύσεως.[9] Zweitens erhebt auch sein Übermut schwere Anklage gegen den Sprechenden. Denn das ‚niemanden in keiner Angelegenheit brauchen' berücksichtigt nicht die menschliche Natur und die Schwäche unserer Art [...]. Er [sc. Alcibiades] sollte deshalb nicht in einem solchen Maß großherzig sein, dass es die Grenzen der menschlichen Natur übersteigt.

Im Gegensatz zu Alcibiades wird Diotima als Expertin in Bezug auf den Menschen und seine Stellung innerhalb des Kosmos beschrieben:

Εἰ δὴ ταῦτα ὀρθῶς λέγοιμεν, οὐδεὶς ἂν ἀποδέξαιτο τοὺς τὴν λογικὴν ψυχὴν τὴν ἡμετέραν δαίμονα ποιοῦντας· ὁ μὲν γὰρ δαίμων ἕτερος ἀνθρώπου, καθάπερ ἥ τε Διοτίμα λέγει μέσους τιθεμένη τοὺς δαίμονας θεῶν καὶ ἀνθρώπων καὶ ὁ Σωκράτης ἐνδείκνυται ἀντιδιαστέλλων τῷ ἀνθρωπείῳ τὸ δαιμόνιον (οὐκ ἀνθρώπειον γάρ φησι τὸ αἴτιον, ἀλλά τι δαιμόνιον ἐναντίωμα), ὁ δὲ ἄνθρωπος ψυχή ἐστι σώματι χρωμένη, ὡς δειχθήσεται.[10] Wenn wir aber diese Dinge richtig sagten, dann wird niemand die Ansicht derer akzeptieren, die die rationale Seele zu unserem leitenden Dämon machen. Denn der Dämon ist anders als der Mensch, wie es auch Diotima sagt, wenn sie die Dämonen zwischen den Göttern und den Menschen platziert, und auch Sokrates zeigt dies, wenn er das Dämonische vom Menschlichen trennt (‚Nicht Menschlich', sagt er, ‚ist diese Ursache, sondern irgendetwas Dämonisches hindert mich'), der Mensch aber ist eine Seele, die einen Körper nutzt, wie gezeigt werden wird.[11]

Aus diesem Wissen heraus ist Diotima eine Expertin für den gesamten Bereich der Dämonen, beispielsweise wird sie von Proklos als Autorität für die Rangordnung innerhalb des dämonischen Bereichs angeführt (Procl. In Alc. 72.14–26).[12] Besonders wichtig ist ihr Wissen um die zentrale Bedeutung intermediärer Instanzen in der Konstituierung von Einheit, und zwar nicht nur bezogen auf Menschen und Götter, sondern bezogen auf die aus dem Einen hervorgehende Realität als Ganzes:

Καὶ διὰ τοῦτο συμπαθῆ καὶ τὰ ἔσχατα τοῖς πρώτοις ἐστί· τῶν τε γὰρ πρώτων εἰσὶν ἐν τοῖς ἐσχάτοις ἐμφάσεις καὶ τῶν ἐσχάτων ἐν τοῖς πρώτοις τὰ αἴτια προείληπται τά τε μέσα γένη τῶν δαιμόνων συμπληροῖ τὰ ὅλα καὶ συνδεῖ καὶ συνέχει τὴν κοινωνίαν αὐτῶν, μετέχοντα μὲν τῶν θεῶν, μετεχόμενα δὲ ὑπὸ τῶν θνητῶν. εἰ τοίνυν λέγοι τις τὰ κέντρα τῆς τοῦ παντὸς διακοσμήσεως ἐν τοῖς δαίμοσι πήξασθαι τὸν τῶν ὅλων δημιουργόν, οὐκ ἂν ἁμάρτοι τῆς περὶ αὐτῶν ἀληθείας· ἐπεὶ καὶ ἡ Διοτίμα ταύτην αὐτοῖς ἀποδέδωκε τὴν τάξιν, τὴν συνδετικὴν τῶν θείων καὶ τῶν θνητῶν, τὴν διαπόρθμιον τῶν ἄνωθεν ὀχετῶν, τὴν ἀναγωγὸν τῶν δευτέρων ἁπάντων εἰς τοὺς θεούς, τὴν συμπληρωτικὴν τῶν ὅλων κατὰ τὴν τῆς μεσότητος συνοχήν.[13] Deshalb also besteht Sympathie zwischen den letzten und den ersten Entitäten. Denn es existieren Reflexionen der ersten Entitäten in den letzten und die Ursachen der letzten Entitäten sind in den ersten bereits enthalten, die mittleren Klassen der Dämonen vervollständigen das Ganze und verbinden es und halten die Gemeinschaft dieser [sc. der ersten und letzten Entitäten] zusammen, wobei sie an den Göttern partizipieren, aber von den Sterblichen partizipiert werden. Wenn also irgendjemand sagen sollte, dass der Schöpfer des Ganzen das Zentrum der Einrichtung der gesamten kosmischen Ordnung in den Dämonen befestigt hat, der verfehlt die Wahrheit über die Dämonen nicht. Denn auch Diotima spricht ihnen diesen Rang zu, der die Götter und die Sterblichen verbindet, der die von oben kommenden Ströme vermittelt, alle sekundären Entitäten zu den Göttern erhebt und das Ganze durch die Kontinuität des Intermediären vervollständigt.

Diotimas Wissen über das Intermediäre ist eng mit ihrer philosophischen und ihrer priesterlichen Tätigkeit verbunden, da beide Tätigkeiten – aus der menschlichen Position heraus – nur via die vermittelnden Instanzen Erfolg haben können. Insofern der Philosoph nicht schon als wissend verstanden wird, und das heißt als intellektuell schauend, sondern als nach Wissen suchend, ist er mit den Ideen als den Objekten des Wissens nicht direkt verbunden, sondern diese stellen sich ihm nur als Objekte des Begehrens dar (Procl. Theol. Plat. 1.105.5–12). Das Band zwischen dem Begehrenden und dem Objekt des Begehrens wird durch den Eros etabliert:

ἔτι δὲ καὶ αὐτὸς ὁ ἔρως δαίμων μέγας, ὥς φησιν ἡ Διοτίμα, καθ' ὅσον δὴ τὴν μεσότητα συμπληροῖ πανταχοῦ τῶν τ' ἐραστῶν καὶ τῶν σπευδόντων ἐπ' ἐκεῖνα διὰ τοῦ ἔρωτος. τὸ γὰρ ἐραστὸν τὴν πρώτην ἔχει τάξιν, τὸ δὲ ἐρῶν ἐκείνου τὴν τρίτην, τὸ δὲ μέσον ἀμφοῖν ὁ ἔρως συμπληροῖ συνάγων καὶ συνδέων ἀλλήλοις τό τε ἐφετὸν καὶ τὸ ἐφιέμενον ἐκείνου καὶ πληρῶν ἀπὸ τοῦ κρείττονος τὸ καταδεέστερον.[14] Und auch der Eros selbst ist ‚ein großer Dämon', wie es Diotima sagt, insofern er überall die Mittelstellung ausfüllt zwischen den Objekten der Liebe und denen, die aufgrund der Liebe nach ihnen streben. Denn das Geliebte nimmt die erste Stelle ein, das, was jenes liebt, nimmt die dritte Selle ein, der Eros aber füllt die Mitte zwischen ihnen aus, wobei er das Begehrenswerte und das, was jenes begehrt, zusammenführt und miteinander verbindet und das Schwächere mit dem Stärkeren füllt.

Dabei ist der Eros in Proklos' System nicht auf den dämonischen Bereich beschränkt, sondern nimmt seinen Ursprung im intelligiblen Intellekt und prozediert von dort aus in alle niederen Realitätsebenen (Procl. In Alc. 65.7–16). Doch er ist dem dämonischen Bereich besonders verbunden, da der dämonische Bereich als Ganzes die vermittelnde Natur des Eros verkörpert, weshalb Proklos den Eros in Bezug auf den dämonischen Bereich nicht als einen Dämon unter vielen, sondern als das Grundprinzip des gesamten Bereichs beschreibt (Procl. In Alc. 67.7–10).

Philosophen sind also, sofern sie nach Wissen streben, auf die vermittelnden Kräfte des dämonischen Bereichs angewiesen, da sie sich nur durch den Eros mit den Ideen als den Objekten ihres Begehrens verbinden können. Ebenso kann sich derjenige, der religiöse Rituale ausführt, aus der menschlichen Position heraus nicht direkt mit dem höchsten Gott (d.h. dem Einen) verbinden, sondern nur via die vermittelnden Instanzen. So betont Proklos in Bezug auf das Beten, dass dieses die Seele in kleinen Schritten hinaufführt (Procl. In Ti. 1.213.3–6). Und da der Betende seinen Weg durch alle Ebenen nehmen muss, ist die Kenntnis der hierarchischen Ordnung und der Natur und Funktion der verschiedenen Ebenen eine Grundvoraussetzung für seinen Erfolg:

Ἡγεῖται δὲ τῆς τελείας καὶ ὄντως οὔσης εὐχῆς πρῶτον ἡ γνῶσις τῶν θείων τάξεων πασῶν, αἷς πρόσεισιν ὁ εὐχόμενος· οὐ γὰρ ἂν οἰκείως προσέλθοι μὴ τὰς ἰδιότητας αὐτῶν ἐγνωκώς.[15] Perfektes und wahres Gebet wird wie folgt durchgeführt: Zuerst liegt Wissen über alle Ordnungen der Götter vor, denen sich der Betende verbindet. Denn der Betende kann sich diesen nicht angemessen annähern, wenn er ihre spezifischen Eigenschaften nicht kennt.[16]

Philosophische und religiöse Praktiken zeigen sich somit als Praktiken, die die Menschen aus ihrer relativ niedrigen Stellung heraus nutzen, um, vermittelt durch intermediäre Instanzen wie die Dämonen, eine Verbindung mit dem Göttlichen zu erreichen. Diotima wird somit nicht als Priesterin und Philosophin im Sinne einer Person gezeichnet, die zwei separate Rollen innehat, sondern als eine Person, die nach der Verbindung mit dem Göttlichen via die intermediären Instanzen strebt und dabei sowohl philosophische wie auch religiöse Praktiken verwendet.

Doch Diotima symbolisiert auch die Transzendierung des menschlichen Zustandes und der an diesem Zustand orientierten Praktiken durch die Vereinigung mit dem Göttlichen. In Bezug auf die Philosophie betont Proklos, dass Diotimas Ziel letztlich darin liegt, den Zustand des Suchens nach Weisheit zu überwinden und tatsächlich weise zu werden, d.h. die intellektuelle Schau der Ideen zu vollführen:[17]

Λέγω δὲ ὅτι ἡ μὲν ἐν Συμποσίῳ Διοτίμα τὸ σοφὸν πλῆρες εἶναι βούλεται τοῦ γνωστοῦ, καὶ οὐ ζητεῖν οὐδὲ θηρᾶν ἀλλ' ἔχειν τὸ νοητόν· θεῶν οὐδεὶς φιλοσοφεῖ οὐδὲ ἐπιθυμεῖ σοφὸς γενέσθαι, ἔστι γάρ. Οὐκοῦν τὸ μὲν φιλόσοφον ἀτελές ἐστι καὶ ἐνδεὲς τῆς ἀληθείας, τὸ δὲ σοφὸν πλῆρες καὶ ἀνενδεές, καὶ πᾶν ὃ βούλεται παρὸν ἔχει, καὶ οὐδὲν ποθοῦν ἀλλ' ἐφετὸν καὶ ὀρεκτὸν τῷ φιλοσόφῳ προκείμενον.[18] Ich sage aber, dass Diotima im Symposium wünscht, was weise ist, d. h. mit dem Intelligiblen erfüllt ist, und nicht zu suchen und zu jagen, sondern das Intelligible zu besitzen: ‚Keiner der Götter philosophiert oder erstrebt, weise zu werden, sondern er ist es'. Somit ist das, was philosophisch ist, unvollkommen und ermangelt der Wahrheit, aber das, was weise ist, bedarf nichts, und alles, was es wünscht, ist ihm präsent, und es begehrt nichts, sondern es ist begehrenswert und ist als das Objekt des Begehrens vor den Philosophen gestellt.[19]

Die intellektuelle Schau der Ideen zeichnet sich dadurch aus, dass die Seele in diesem Zustand nicht mehr, wie im diskursiven Denken, nach und nach die ihre Essenz konstituierenden λόγοι entfaltet,[20] sondern durch die Rückwendung zum Intellekt von diesem mit dem Intelligiblen erfüllt wird.[21]

Der in der Schau der Ideen inbegriffene Aufstieg setzt voraus, dass die Seele sich dem Intellekt annähert, indem sie sich von ihrer menschlichen Position löst, d.h., indem sie nicht als Seele handelt, die einen (irdischen) Körper nutzt, sondern als reine, von allem Materiellen losgelöste Seele. Sie macht sich, soweit es ihr möglich ist, den höheren Seelen gleich. Als eine solche ‚reine Seele' benötigt die Seele nicht länger die Vermittlung der Dämonen, sondern hat unmittelbaren Zugang zum Intellekt, wie es die beiden Positionen zeigen, die Sokrates in Bezug auf Alcibiades einnimmt:

Εἰ δὲ δεῖ συνάπτειν τὰς ἐπιβολὰς ἀμφοτέρας, διττόν μοι νόει τὸν Ἀλκιβιάδην, καὶ ὡς ψυχὴν ἁπλῶς καὶ ὡς ψυχὴν σώματι χρωμένην. Οὐ γάρ ἐστι ταὐτὸν τούτων ἑκάτερον, ὥσπερ οὐδὲ ὁ κυβερνήτης καὶ ὁ ἄνθρωπος καθ' αὑτὸν οὐδὲ ὁ ἡνίοχος καὶ τὸ ὑποκείμενον· καὶ ὅλως τὸ ἀμέθεκτον ἕτερόν ἐστι τοῦ μεθεκτοῦ καὶ τὸ καθ' αὑτὸ τοῦ μετ' ἄλλου συνθεωρουμένου καὶ τὸ ἐξῃρημένον τοῦ πρὸς ἕτερόν τινα σύνταξιν λαχόντος. Ἐπειδὴ τοίνυν ὁ Ἀλκιβιάδης νοεῖται διχῶς, καὶ ὡς ψυχὴ καὶ ὡς σώματι χρωμένη ψυχή, καθ' ὅσον μέν ἐστι ψυχὴ τὴν τοῦ νοῦ σώζει πρὸς αὐτὸν ἀναλογίαν ὁ Σωκράτης, καθ' ὅσον δὲ σώματι χρωμένη ψυχὴ τὴν τοῦ ἀγαθοῦ δαίμονος.[22] Wenn man aber beide Bestimmungen zusammen nehmen muss, so erfasse ich Alcibiades als zweifach, sowohl als einfache Seele wie auch als Seele, die einen Körper nutzt. Denn diese beiden Dinge sind nicht dasselbe, sowie auch der Steuermann und der Mensch selbst und der Wagenlenker und das Zugrundeliegende nicht dasselbe sind. Und das Unpartizipierte ist gänzlich anders als das Partizipierte, und was an sich ist, ist anders als das, was zusammen mit einem anderen erfasst wird, und das Transzendente ist anders als das, was seine Stellung zusammen mit irgendeinem anderen erhält. Da nun Alcibiades in beiden Hinsichten verstanden wird, sowohl als Seele wie auch ‚als den Körper gebrauchende Seele', und insofern er Seele ist, bewahrt Sokrates in analoger Weise die Stellung des Intellekts in Bezug auf ihn, sofern er aber eine den Körper gebrauchende Seele ist, die des guten Dämons.[23]

Um mit dem Einen in Kontakt zu treten, muss die Seele schließlich auch die intellektuelle Tätigkeit transzendieren, was allein durch den Glauben (πίστις, Procl. Theol. Plat. 1.112.3) möglich ist.[24] Auch dieses höchste Ziel der philosophischen Praktiken symbolisiert Diotima, wenn sie lehrt, alle anderen Dinge zu verachten und allein nach dem Guten zu streben:

Οὔτε γὰρ τὸ καλὸν οὔτε τὸ σοφὸν οὔτε ἄλλο τῶν ὄντων οὐδὲν οὕτω πιστόν ἐστιν ἅπασι τοῖς οὖσι καὶ ἀσφαλὲς καὶ πάσης ἀμφιβολίας καὶ διῃρημένης ἐπιβολῆς καὶ κινήσεως ἐξῃρημένον ὡς τὸ ἀγαθόν. Διὰ γὰρ τοῦτο καὶ ὁ νοῦς τῆς νοερᾶς ἐνεργείας πρεσβυτέραν ἄλλην καὶ πρὸ ἐνεργείας ἕνωσιν ἀσπάζεται· [...] Καὶ τί δεῖ τὴν ψυχὴν λέγειν; Ἀλλὰ καὶ τὰ θνητὰ ταῦτα ζῷα, καθάπερ πού φησιν ἡ Διοτίμα, πάντων ὑπερφρονεῖ τῶν ἄλλων, καὶ τῆς ζωῆς αὐτῆς καὶ τοῦ ὄντος, πόθῳ τῆς τοῦ ἀγαθοῦ φύσεως, καὶ μίαν ἅπαντα ταύτην ἀκίνητον ἔχει καὶ ἄρρητον ἔφεσιν τοῦ ἀγαθοῦ, τῶν δὲ ἄλλων ἕκαστα κἂν παρίδοι καὶ δεύτερα ποιήσαιτο καὶ ἀτιμήσειε τὴν τεῦξιν.[25] Denn weder das Schöne noch die Weisheit noch ein anderes Charakteristikum des Seins ist so des Glaubens würdig und so feststehend gegenüber allem Seienden und so entfernt von jeder Ambiguität und jedem geteilten Erfassen und jeder Bewegung wie das Gute. Deshalb nimmt auch der Intellekt mit Freude eine andere Art der Vereinigung an, die bedeutsamer ist als die intellektuelle Tätigkeit und der Tätigkeit vorausgeht. [...] Und was muss man über die Seele sagen? Denn auch die sterblichen Tiere, wie es Diotima sagt, verachten alle anderen Dinge, auch das Leben selbst und das Sein, in ihrem Verlangen nach der Natur des Guten, und alle Dinge haben dieses unerschütterliche und unaussprechliche Streben nach dem Guten, sie übersehen alles andere, setzen es als sekundär und schätzen den Erwerb desselben gering.[26]

Und auch die religiösen Praktiken sind zwar mit Blick auf die conditio humana auf die Dämonen (Procl. In Prm. 663.19–22) und auf die niederen Gottheiten als vermittelnde Instanzen angewiesen (Procl. In Ti. 1.136.10–14).[27] Doch letztlich erreichen auch sie ihre Erfüllung erst, wenn eine Vereinigung mit dem Einen stattfindet. Dafür ist es auch hier nötig, alles zu niederen Realitätsebenen Gehörige hinter sich zu lassen. So betont Proklos, dass die hochstehenden Götter nicht für ihre niedrigen Werke gefeiert werden dürfen, wenn ein Aufstieg angestrebt wird (Procl. Theol. Plat. 2.65.5–15).[28] Diotima steht somit nicht nur für die auf die vermittelnden Instanzen gerichteten philosophischen und religiösen Praktiken, die den Menschen aus seiner relativ niedrigen Position heraus mit den höheren Ordnungen verbinden, sondern auch für die Transzendierung der menschlichen Stellung und der mit dieser verbundenen Praktiken durch die Vereinigung mit dem Höchsten.

Philosophische und religiöse Praktiken sind dabei nicht zwei alternative Wege zum Aufstieg, sondern sie bedürfen und durchdringen einander. So sind auf höhere Gottheiten gerichtete religiöse Praktiken nicht ohne ein philosophisch fundiertes Wissen über die höheren Realitätsebenen möglich (procl. In Prm. 669.24–26).[29] Gleichzeitig kann die mystische Schau, die die Ebene des Intellekts übersteigt, nicht allein durch den Erwerb von philosophischem Wissen erreicht werden, sondern bedarf des Engagements in religiösen Ritualen, um die Empfänglichkeit der Seele für die von den Göttern ausgehenden Erleuchtungen herzustellen.[30]

Insgesamt steht Diotima somit sowohl für die enge Verbindung zwischen religiösen und philosophischen Praktiken bei Proklos wie auch für zwei Stufen dieser Praktiken, nämlich die an der conditio humana orientierte und die das Menschliche übersteigende Stufe. Dabei darf die erste Stufe nicht als ein bloßer Zwischenschritt betrachtet werden, der seine Notwendigkeit verliert, sobald die zweite Stufe erreicht ist. Zwar transzendiert die Seele in der Vereinigung mit dem Höchsten alle religiösen und philosophischen Praktiken, doch nicht in dem Sinne, dass die Seele dabei ihre Verbindung zu den Realitätsebenen zwischen sich und dem Einen verliert. Im Gegenteil, ihre Verbindung mit dem Einen hat ihr Fundament in der Rückwendung zu allen Ebenen, die vor dem Einen liegen, und in den vermittelnden Tätigkeiten der Entitäten dieser Ebenen.[31] Im Folgenden soll untersucht werden, wie sich Diotimas Weiblichkeit hierzu verhält.

3. Diotima und das Weibliche

Wie im ersten Teil dieses Beitrags gezeigt wurde, verkörpert Proklos' Diotima das Ideal der Verbindung der philosophischen und religiösen Praktiken auf zwei Ebenen, nämlich auf der an der conditio humana orientierten Stufe, die auf vermittelnde Instanzen angewiesen ist, und auf der den menschlichen Zustand und die vermittelnden Instanzen transzendierenden Stufe der Vereinigung mit den höchsten Entitäten. Im Folgenden soll untersucht werden, auf welche Weise Diotimas Rolle als Priesterin und Philosophin mit ihrer Weiblichkeit verbunden ist.

Um dieser Frage nachgehen zu können, ist zunächst ein kurzer Blick auf die Frage nach der Weiblichkeit in Proklos' ontologischem System im Allgemeinen nötig. Alle seienden Entitäten sind für Proklos Mischungen aus Grenze und Unbegrenztheit (bzw. Kraft). Weibliche Entitäten definiert Proklos als Mischungen, in denen die Unbegrenztheit dominiert, während männliche Entitäten durch einen Überhang der Grenze bestimmt sind:

Καὶ πρὸ τοῦ ἄρρενος οὖν καὶ τοῦ θήλεος ἡ δύναμις καὶ ἐν ἀμφοῖν καὶ μετ' ἀμφότερα. Διὰ πάντων γὰρ διήκει τῶν ὄντων καὶ πᾶν τὸ ὂν δυνάμεως μετέχει, καθάπερ φησὶν ὁ Ἐλεάτης ξένος. Πανταχοῦ μὲν γὰρ ἡ δύναμις, ἀλλὰ μᾶλλον τὸ θῆλυ μετέχει τῆς κατ' αὐτὴν ἰδιότητος καὶ τὸ ἄρρεν τῆς κατὰ τὸ πέρας ἑνώσεως.[32] Und die Kraft ist also vor dem Männlichen und dem Weiblichen, und sie ist in beiden und mit beiden. Denn die Kraft erstreckt sich auf alle seienden Entitäten, und alles Sein hat an der Kraft teil, wie es der Fremde aus Elea sagt. Denn die Kraft ist überall, aber das Weibliche hat stärker an der eigentümlichen Natur der Kraft teil, und das Männliche hat stärker an der Einheit gemäß der Grenze teil.

Als von der Grenze bestimmte Entitäten erfüllen die männlichen Entitäten primär vereinheitlichende Funktionen, während die weiblichen Entitäten aufgrund der Dominanz der Unbegrenztheit primär vervielfältigend tätig sind. Sie verursachen den Hervorgang der sekundären Entitäten (Procl. In Ti. 1.220.4–10).[33]

Ebenso wie die Entitäten im intelligiblen Bereich, z. B. die Gottheiten, so sind auch die Seelen bei Proklos unabhängig von ihrer Inkarnation durch die Dominanz der Grenze oder der Unbegrenztheit essentiell männlich und weiblich bestimmt:[34]

ἆρ' οὐχὶ καὶ ἐν αὐταῖς εἶναι ταῖς ψυχαῖς καὶ εἶναι καὶ τούτων τὰς μὲν ἀρρενωπούς, τὰς δὲ θηλυπρεπεῖς; καὶ πῶς οὐχὶ καὶ τοῦτο ἀναγκαῖον; εἰ γὰρ ἔστι μὲν καὶ ἐν θεοῖς πρώτως, ἔστι δὲ καὶ ἐν τοῖς αἰσθητοῖς ἐσχάτως, δεῖ δήπου καὶ ἐν τοῖς μέσοις εἶναι. πόθεν γὰρ ἡ μέχρι τοῦ αἰσθητοῦ πρόοδος αὐτοῖν ἢ διὰ τῆς μέσης οὐσίας;[35] Und ist es nicht auch unter den Seelen selbst so, dass einige von ihnen männlich sind, andere aber weiblich? Und wie könnte dies nicht notwendig der Fall sein? Denn wenn diese [Unterscheidung] primär zu den Göttern gehört, aber zuletzt zu den wahrnehmbaren Entitäten, dann ist es sicher notwendig, dass sie auch zu den intermediären Entitäten gehört, denn woher anders könnte der Hervorgang der beiden [Geschlechter] bis hin zu den wahrnehmbaren Entitäten erfolgen als durch die intermediären Substanzen?[36]

In der Essenz der Seele manifestieren sich die Grenze im Selben und die Unbegrenztheit im Anderen (Procl. In Ti. 2.258.11–14). Seelen sind weiblich, wenn in der Mischung aus dem Sein, dem Selben und dem Anderen, die ihre Essenz ausmacht, das Andere dominiert, wobei diese Dominanz relativ zu den Mischungen der männlichen Seelen betrachtet werden muss. So sind menschliche Seelen im Vergleich zu den göttlichen und dämonischen Seelen im Allgemeinen stärker von der Andersheit bestimmt (Procl. In Ti. 2.138.27–139, 4), doch betrachtet man nur den Bereich der menschlichen Seelen, so ist die Andersheit in den weiblichen Seelen dominanter als in den männlichen.[37] Doch die auf diese Weise essentiell weiblich und männlich bestimmten Seelen werden nicht zwangsläufig in einem ihren Geschlecht entsprechenden Körper geboren. Vielmehr können weibliche Seelen sich einen männlichen Körper wählen und umgekehrt (Procl. In Ti. 3.293.14–19).[38]

Vor diesem Hintergrund der Bestimmung von Männlichkeit und Weiblichkeit in Proklos' ontologischem System stellen sich im Hinblick auf Diotima zwei Fragen, erstens ob Proklos sie in Bezug auf ihre Seele als männlich oder weiblich versteht und zweitens, wie sich ihr Geschlecht (im Hinblick auf Körper und Seele) zu ihrer Rolle als Priesterin und Philosophin verhält.

Wie zu Beginn des Beitrags gezeigt wurde, wird Diotima von Proklos als Beispiel dafür angeführt, dass Frauen dieselben Tugenden wie Männer erreichen können (Procl. In R. 1.248.21–27). In seinem Kommentar zu Platons Timaios argumentiert Proklos anhand von Diotima zudem dafür, dass der weibliche Körper einen direkten Aufstieg der Seele zum Intelligiblen nicht verhindert, so dass ein tugendhaftes Leben Frauen nicht – wie es in Platons Timaios (42b2–d2) angedeutet wird – zur vermeintlich ‚höheren' Inkarnation als Mann führt, sondern zur hyperkosmischen Schau der Ideen:

εἰ γὰρ αἳ μὲν οὐδέποτε ζήσουσι καθαρτικῶς, οἳ δὲ ἀποκαταστατικοὺς πολλάκις ποιοῦνται βίους, οὐκέτι κοιναὶ λέγοιντ' ἂν αὐτοῖς αἱ ἀρεταί. πρὸς δὲ καὶ ἄτοπον τὸν μὲν Σωκράτην παρὰ τῆς Διοτίμας τὰ ἐρωτικὰ μαθόντα δι' αὐτὴν ἀναπέμπεσθαι πρὸς τὸ αὐτοκαλόν, τὴν δὲ Διοτίμαν αὐτήν, τὴν ἀναγωγὸν καὶ τὴν σοφίᾳ διαφέρουσαν, μὴ τυγχάνειν τοῦ αὐτοῦ τῆς ζωῆς εἴδους, διότι σῶμα περιέφερε γυναικεῖον.[39] Wenn aber die Frauen niemals auf reinigende Weise leben würden, die Männer sich aber oft ein Leben einrichten würden, dass auf die Rückkehr gerichtet ist, so könnten die Tugenden von ihnen nicht länger als ihnen gemeinsam bezeichnet werden. Außerdem wäre es merkwürdig wenn Sokrates, nachdem er die erotische Kunst von Diotima gelernt hat, durch diese Kunst zum Schönen selbst geführt werden würde, aber Diotima selbst, die hinaufführt und sich durch Weisheit auszeichnet, diese Form des Lebens verfehlt, weil sie einen weiblichen Körper herumträgt.[40]

Doch in diesen Passagen wird Diotima aufgrund ihres Körpers als Frau angesprochen, was uns keine sichere Auskunft darüber gibt, ob Diotima für Proklos auch von ihrer Seele her weiblich ist. Da Proklos keine direkte Aussage zu dieser Frage macht, können wir uns einer Antwort nur indirekt annähern, indem wir Diotimas Tätigkeit als Priesterin und Philosophin im Hinblick auf diese Frage betrachten.

Da weibliche Seelen durch das Andere und männliche Seelen durch das Selbe bestimmt sind, hilft es unserer Untersuchung, zunächst einen Blick auf die Funktion zu werfen, die der Kreis des Selben und der Kreis des Anderen in der Seele erfüllen. Wie es Proklos im Kommentar zu Platons Timaios darlegt, schauen die Seelen mit dem Kreis des Selben die höheren Ursachen, vor allem die Ideen, während sie mit dem Kreis des Anderen auf den Bereich des Wahrnehmbaren gerichtet sind (Procl. In Ti. 3.339.2–7). Dadurch imitieren sie die doppelte Aktivität der Götter, die ebenfalls auf ihre höheren Ursachen ausgerichtet sind und zugleich Vorsehung für die niederen Entitäten ausüben:

αὐτὸ δὲ τοῦτο ζητητέον ἐξ ἀρχῆς, διὰ τί κάτεισιν εἰς τὰ σώματα ἡ ψυχή. ὅτι βούλεται μιμεῖσθαι τὸ προνοητικὸν τῶν θεῶν, καὶ διὰ τοῦτο πρόεισιν εἰς τὴν γένεσιν ἀφεῖσα τὴν θεωρίαν· διττῆς γὰρ οὔσης τῆς θείας τελειότητος, τῆς μὲν νοερᾶς, τῆς δὲ προνοητικῆς, καὶ τῆς μὲν ἐν στάσει, τῆς δ' ἐν κινήσει, τὸ μὲν μόνιμον αὐτῶν καὶ τὸ νοερὸν καὶ τὸ ἀκλινὲς ἀπεικονίζεται διὰ τῆς θεωρίας, τὸ δὲ προνοητικὸν καὶ τὸ κινητικὸν διὰ τῆς γενεσιουργοῦ ζωῆς.[41] Aber dies muss man von Beginn an untersuchen, warum dies geschieht, dass die Seele in die Körper herabsteigt. Es geschieht, weil sie die Vorsehung der Götter imitieren möchte, und deshalb steigt sie ins Werden herab, wobei sie die Kontemplation verlässt. Denn, gegeben dass die göttliche Vollkommenheit zweifach ist, die eine intellektive, die andere aber vorhersehend, und die eine sich in der Ruhe, die andere in der Bewegung befindet, so drückt sich das Einheitliche, das Intellektive und das Beständige der Götter durch die Kontemplation [der Seele] aus, die Vorsehung aber und die Bewegung durch das auf das Werden bezogene Leben.

Sofern sich Diotima als Priesterin und Philosophin um die Erfassung des Intelligiblen bemüht, scheint es plausibel anzunehmen, dass Diotima ihr Leben besonders am männlichen Teil der Seele, also dem Kreis des Selben, ausrichtet. Dies muss nicht zwangsläufig heißen, dass ihre Seele essentiell männlich ist und sich bloß einen weiblichen Körper gewählt hat, da die menschliche Seele – anders als die höheren Entitäten – in der besonderen Situation ist, in ihren Tätigkeiten nicht vollkommen durch ihre Essenz bestimmt zu sein, sondern sich für die Ausrichtung ihrer Tätigkeit auf das Intelligible oder auf das Wahrnehmbare entscheiden zu können (Procl. De Mal. 20.3–12).[42] Doch dies würde zumindest bedeuten, dass Diotima, soweit dies möglich ist, nach einer ‚Vermännlichung' ihrer Seele durch Tätigkeiten strebt, die am Kreis des Selben orientiert sind. Und in der Tat betont die proklische Diotima, dass die Grenze höher als die Unbegrenztheit zu werten ist:

Λέγομεν τοίνυν ὅτι τὸ κάλλος καὶ τὸ μέγεθος ἐν ταῖς πρωτίσταις ἀνεφάνη τάξεσι τῶν θεῶν, τὸ μὲν ἐραστὰ πάντα τὰ θεῖα ποιοῦν καὶ ἐφετὰ τοῖς δευτέροις, τὸ δὲ ὑπερέχοντα τῶν ὅλων καὶ ἐξῃρημένα τῶν οἰκείων γεννημάτων, καὶ τὸ μὲν τῷ πέρατι συγγενὲς ὂν ὡς εἶδος εἰδῶν καὶ ὡς ἐπανθοῦν ἅπασι τοῖς νοητοῖς εἴδεσι, τὸ δὲ τῷ ἀπείρῳ κατὰ τὸ ἀπερίληπτον καὶ τὸ πάντα περιλαμβάνον καὶ κρατητικὸν τῶν πάντων, διὸ δὴ καὶ ἡ Διοτίμα τῷ μὲν κάλλει τὴν πρωτίστην δέδωκεν ἀξίαν, τῷ δὲ μεγέθει τὴν δευτέραν·[43] Wir sagen also, dass die Schönheit und die Größe in den allerersten Ordnungen der Götter offenbar werden, wobei die Schönheit alles Göttliche liebenswert und begehrenswert für sekundäre Entitäten macht, die Größe aber etabliert das Göttliche über dem Ganzen und macht es gegenüber den eigenen Produkten transzendent, und das eine ist mit der Grenze verwandt, als Form der Formen und als das, was vor allen intellektiven Formen blüht, das andere aber ist der Unbegrenztheit verwandt gemäß dem, dass es unfassbar ist und alles umfasst und das Ganze dominiert. Deswegen hat auch Diotima der Schönheit den primären Wert gegeben, der Größe aber den sekundären.

Insgesamt scheint es somit als wäre Diotima in ihrer Rolle als Priesterin und Philosophin darum bemüht, sich ganz am Intelligiblen auszurichten und ihre Seele durch diese Tätigkeit zu vermännlichen. Man könnte Diotima als ein Beispiel für das Männlich-Werden der Seele durch die richtige Fokussierung lesen, d. h. durch eine Fokussierung auf das Intelligible statt auf das Wahrnehmbare und Körperliche, wie es auch Porphyrios seiner Ehefrau Marcella ans Herz legt:

μήτε οὖν εἰ ἄρρην εἶ μήτε εἰ θήλεια τὸ σῶμα πολυπραγμόνει, μηδὲ γυναῖκα ἴδῃς σαυτήν, ὅτι μηδ' ἐγώ σοι ὡς τοιαύτῃ προσέσχον. φεῦγε τῆς ψυχῆς πᾶν τὸ θηλυνόμενον, ὡς εἰ καὶ ἄρρενος εἶχες τὸ σῶμα περικείμενον.[44] Weder wenn Du nun Mann bist, noch wenn Frau, kümmere Dich zu viel um Deinen Leib, und erblicke in Dir nicht eine Frau, wenn doch auch ich dir nicht als solcher Aufmerksamkeit zugewendet habe. Fliehe alles, was dich seelisch verweiblicht, wie wenn du einen männlichen Leib an dir hättest.[45]

Diese Überlegung berücksichtigt aber nicht die Bedeutung, die dem intermediären Bereich in Diotimas religiösen und philosophischen Tätigkeiten zukommt. Das Intermediäre ist bei Proklos stark mit dem Weiblichen assoziiert. In den triadischen Strukturen, die Proklos' ontologisches System durchziehen, erfüllt die Kraft als weibliches Prinzip und als Manifestation der Unbegrenztheit die Funktion, den Hervorgang aus dem monadisch-väterlichen Prinzip am Gipfel der Triade anzuregen, so dass das dritte Element der Triade als ‚Nachkomme' entsteht. Zugleich verbindet die Kraft den Nachkommen mit dem Vater und ermöglicht seine Rückwendung (Procl. Theol. Plat. 3.90.3–5). Besonders eindrücklich zeigt sich die Doppelfunktion der weiblichen Entitäten als trennend (vervielfältigend) und verbindend in der Beschreibung der Göttin Rhea, die die intermediäre Position innerhalb der intellektiven Triade Kronos-Rhea-Zeus einnimmt:[46]

καὶ γὰρ τὴν τῆς ζωῆς ἁπάσης ἄπειρον χύσιν ὑφίστησιν ἡ θεὸς αὕτη καὶ τὰς ἀνεκλείπτους ἁπάσας δυνάμεις, καὶ κινεῖ πάντα κατὰ τὰ μέτρα τῶν θείων κινήσεων, καὶ ἐπιστρέφει πρὸς ἑαυτὴν πάντα ἑδράζουσα ἐν ἑαυτῇ ὡς σύστοιχος τῷ Κρόνῳ.[47] Denn diese Göttin bringt den unbegrenzten Strom allen Lebens hervor und alle unaufhörlichen Kräfte und sie bewegt alles gemäß den Maßen der göttlichen Bewegungen und sie wendet alles zu sich selbst zurück und sie etabliert es in sich als koordiniert mit Kronos.[48]

Und da sich auch der dämonische Bereich wesentlich durch seine intermediäre Position zwischen den Göttern und den Menschen auszeichnet, ist auch dieser mit dem Weiblichen assoziiert. So hebt Proklos hervor, dass das Dämonische primär aus der lebenspendenden Göttin Rhea entspringt:

οἱ μὲν τοίνυν δαίμονες τὴν πρώτην ὑπόστασιν λαχόντες ἀπὸ τῆςζωογόνου θεᾶς κἀκεῖθεν οἷον ἐκ πηγῆς τινὸς ἀπορρέοντες οὐσίαν ἔλαχον ψυχικήν. Die Dämonen also, die ihre primäre Existenz von der lebenspendenden Göttin bekommen und von dort, wie aus irgendeiner Quelle, entströmen, erhalten eine seelische Essenz. (Procl. In Alc. 68.4-6)

Zudem betont er, dass der Eros erst ab dem Punkt auftritt, ab dem auch Trennung besteht, d.h. ab dem intelligiblen und zugleich intellektiven Bereich. Die Trennung aber ist mit dem Weiblichen assoziiert, da sie durch die Andersheit hervorgerufen wird (Procl. Theol. Plat. 4.80.1–5), die ein weibliches Prinzip ist (Procl. Theol. Plat. 4.82.4–7). Der Eros existiert somit nur, insofern auch das Weibliche existiert, da erst durch die vervielfältigende und trennende Tätigkeiten der weiblichen Prinzipien voneinander verschiedene Entitäten entstehen, die durch die Kraft des Eros verbunden werden können, der als Dämon und intermediäres Prinzip selbst in enger Beziehung zum Weiblichen steht:

Τὰ μὲν οὖν νοητὰ διὰ τὴν ἄφραστον ἕνωσιν οὐ δεῖται τῆς ἐρωτικῆς μεσότητος· ὅπου δὲ ἡ ἕνωσις καὶ ἡ διάκρισις τῶν ὄντων, ἐκεῖ καὶ ὁ ἔρως μέσος ἐξέφηνε· συνδετικὸς γάρ ἐστι τῶν διῃρημένων καὶ συναγωγὸς τῶν τε μετ' αὐτὸν καὶ τῶν πρὸ αὐτοῦ καὶ ἐπιστρεπτικὸς ἐπὶ τὰ πρῶτα τῶν δευτέρων καὶ ἀναγωγὸς καὶ τελεσιουργὸς τῶν ἀτελεστέρων.[49] Die intelligiblen Entitäten brauchen also aufgrund ihrer unaussprechlichen Einheit die erotische Vermittlung nicht. Wo es aber Einheit und Trennung der seienden Entitäten gibt, dort kommt auch Eros als Mittler zum Vorschein. Denn er ist verbindend für das, was geteilt ist, und er führt das zusammen, was nach ihm kommt und was vor ihm ist, und für das Sekundäre ist er umwendend hin zum Primären und er ist hinaufführend und perfektionierend für das, was nicht perfekt ist.

Die zentrale Funktion, die der dämonische Bereich in Diotimas philosophischen und religiösen Praktiken einnimmt, zeigt, dass Diotima gerade nicht dadurch Priesterin und Philosophin ist, dass sie sich ganz auf das Männliche in ihrer Seele konzentriert. Vielmehr macht sie sich das Weibliche und Intermediäre in ihrer Seele zunutze – denn auch der Kreis des Anderen hat ja eine intermediäre Position zwischen dem Kreis des Selben und dem Nicht-Rationalen inne –, um eine Verbindung mit dem Dämonischen herzustellen und mit Hilfe dieser intermediären Dämonen zu den höheren Ursachen aufzusteigen.

Diotima steht als Priesterin und Philosophin somit nicht für die Geringschätzung des Weiblichen gegenüber dem Männlichen, sondern für die produktive Verbindung dieser beiden Elemente. Zwar sind ihre Tätigkeiten letztlich auf eine Erfassung der Ideen und des Göttlichen ausgerichtet, was mit dem Kreis des Selben verbunden ist. Doch Diotima erreicht dies nicht dadurch, dass sie sich von den weiblichen Elementen ihrer Seele abwendet und diese so ‚vermännlicht', sondern dadurch, dass sie die intermediäre Kraft des Weiblichen wirken lässt. Anhand der Figur der Diotima zeigt Proklos, dass Philosophie und Religion als Wege zum Intelligiblen und Göttlichen nicht dem Männlichen allein zugeordnet sind, während das Weibliche bloß für den Abstieg in den Bereich des Körperlichen und Werdenden steht. Vielmehr scheint ein erfolgreicher Aufstieg zum Göttlichen beider Elemente zu bedürfen. Dieses von Diotima vermittelte Bild lässt sich durch drei weitere Beobachtungen in Proklos' Texten stützen.

Erstens wird auch Sokrates, Diotimas Schüler in der erotischen Kunst, als ein Mensch beschrieben, der sich nicht allein auf den Kreis des Selben und die Schau des Intelligiblen stützt, sondern auch im Hinblick auf das Weiblich-Vermittelnde tätig ist. Zwar wird Sokrates als ein stark auf die Kontemplation fixierter Mensch beschrieben, und seine Beziehung zu Alcibiades wird aufgrund ihrer Ausrichtung auf den Aufstieg als ‚männlich' (ἀρρενωπὸν) (Procl. In Alc. 25.24) bezeichnet. Doch er übt auch eine Art von Vorsehung für Alcibiades aus, indem er ihn zum Streben nach Tugend und Weisheit ermutigt. Die Ausübung von Vorsehung ist eine Tätigkeit, die mit dem Kreis des Anderen und somit mit dem Weiblichen in der Seele assoziiert ist (Procl. In Ti. 3.324.4–12).[50] Des Weiteren wird Sokrates als eine Person gezeichnet, die sich der Verbindung des Männlichen und des Weiblichen in der Seele bewusst ist und weder für sich selbst noch für Alcibiades eine Negierung des Weiblichen anstrebt, sondern eine Harmonisierung dieser Elemente. Dies macht Proklos daran fest, dass er Alcibiades nicht nur mit dem Namen seines Vaters, sondern auch mit dem Namen seiner Mutter anspricht:

Ἡ δὲ αὖ ἐκ τῶν δύο πατέρων ἀνάκλησις ὅλην αὐτοῦ τὴν ζωὴν συλλέγει καὶ οἰκειοῖ τῷ Σωκράτει· καὶ γὰρ τῆς ψυχῆς τὸ μέν ἐστιν οἷον ἄρρεν, τὸ δὲ οἷον θῆλυ.[51] Und die Nennung durch die Namen beider Eltern fasst sein [sc. Alcibiades'] ganzes Leben zusammen und bringt es mit Sokrates in Übereinstimmung. Denn auch in der Seele ist das eine wie das Männliche, das andere aber wie das Weibliche.

Zweitens nutzen nicht nur Diotima und Sokrates das Weiblich-Intermediäre, um zu höheren Realitätsebenen aufzusteigen, sondern auch die Götter unterhalb des Intelligiblen benötigen die Hilfe weiblicher Prinzipien, um in Kontakt mit höheren Ursachen zu treten. Denn die weiblichen Prinzipien im metaphysischen Bereich halten dadurch, dass sie den unaufhörlichen Hervorgang garantieren, die Verbindung zwischen dem Niederen und dem Höheren aufrecht. So beschreibt Proklos mit Bezug auf die Chaldäischen Orakel, dass der Demiurg nur dank der Nacht Zugang zum intelligiblen Paradigma gewinnt, das er für die Erschaffung des Kosmos benötigt:[52]

πρὶν δὲ ἅψηται τῆς ὅλης πραγματείας, ἐπὶ θεῶν παρακλήσεις καὶ εὐχὰς τρέπεται, μιμούμενος καὶ ταύτῃ τὸν τοῦ παντὸς ποιητήν, ὃς πρὸ τῆς ὅλης δημιουργίας εἴς τε τὸ χρηστήριον εἰσιέναι λέγεται τῆς Νυκτὸς κἀκεῖθεν πληροῦσθαι τῶν θείων νοήσεων καὶ τὰς τῆς δημιουργίας ἀρχὰς ὑποδέχεσθαι καὶ τὰς ἀπορίας ἁπάσας, εἰ θέμις εἰπεῖν, διαλύειν καὶ δὴ καὶ τὸν πατέρα παρακαλεῖν εἰς τὴν τῆς δημιουργίας σύλληψιν.[53] Bevor er [sc. Timaios] sich aber mit dieser ganzen Sache beschäftigt, wendet er sich den Anrufungen der Götter und den Gebeten zu, womit er den Schöpfer des Alls imitiert, von dem gesagt wird, dass er vor seiner gesamten Schöpfungstätigkeit zum Sitz des Orakels der Nacht gegangen ist, um sich dort mit göttlichen Gedanken zu füllen, die Prinzipien der Schöpfung zu erhalten und, wenn es erlaubt ist, dies so zu sagen, alle Schwierigkeiten zu lösen und auch seinen Vater [sc. Kronos] anzurufen, ihn in der schöpferischen Tätigkeit zu unterstützen.

Drittens schließlich entspringt der Eros aus dem intelligiblen Intellekt (Procl. In Alc. 65.7–9). Dieser – auch Phanes oder Selbstlebewesen genannt – ist androgyn bestimmt, da er als Paradigma aller Lebewesen die ersten Prinzipien sowohl des Männlichen als auch des Weiblichen enthalten muss:

Καὶ γὰρ πατὴρ ἦν καὶ μήτηρ ὁ τρίτος θεός· ἐπεὶ καὶ εἰ τὸ <αὐτοζῷον> ἐν ἐκείνῳ, δεῖ καὶ τὴν τοῦ ἄρρενος ἐκεῖ καὶ τὴν τοῦ θήλεος αἰτίαν πρώτως προϋπάρχειν, ταῦτα γὰρ ἐν ζῴοις.[54] Und deshalb ist der dritte Gott Vater und Mutter. Denn wenn auch das Selbstlebewesen in jenem ist, so müssen auch die Ursache des Männlichen und die Ursache des Weiblichen dort primär existieren, da diese in den Lebewesen sind.

Das Ziel der Seelen, die durch Eros zu dessen eigenem Ursprung, d.h. zu Phanes, geführt werden, scheint es somit nicht zu sein, männlich zu werden, sondern androgyn zu werden, wobei die männlichen und weiblichen Elemente harmonisiert und vereinigt werden, bis die Seele dem Paradigma aller Lebewesen möglichst ähnlich geworden ist. Und sollte der Seele darüber hinaus eine Vereinigung mit den höheren intelligiblen Entitäten oder gar dem Einen gelingen, so transzendiert sie auch das Androgyne, da jenseits des intelligiblen Intellekts geschlechtliche Kategorien allenfalls noch metaphorisch verwendet werden können.

Zusammenfassend lässt sich somit festhalten, dass Diotima nicht nur als ein Beispiel dafür dient, dass Frauen ebenso wie Männer Tugend und Weisheit erlangen können, sondern sie verrät uns auch etwas über das Männliche und das Weibliche in den philosophischen und religiösen Praktiken. Denn anders als es in der platonischen Tradition an vielen Stellen gefordert wird, ist Diotima (ebenso wie Sokrates) nicht dadurch als Philosophin und Priesterin erfolgreich, dass sie sich so weit wie möglich von den weiblichen Elementen ihrer Seele dissoziiert und sich dadurch ‚vermännlicht', sondern dadurch, dass sie sich das Intermediär-Verbindende des Weiblichen zunutze macht. Das von Diotima verkörperte Ideal ist weder das Männliche noch das Weibliche, sondern das Androgyne, d.h. die perfekte Harmonisierung des Männlichen und des Weiblichen, die ihr Paradigma im Selbstlebewesen hat.

Fazit

Wie wir gesehen haben, verkörpert Proklos' Diotima sowohl die am menschlichen Zustand orientierte Stufe der philosophischen und religiösen Praktiken wie auch die das Menschliche transzendierende Stufe der Vereinigung mit den höheren Ursachen. Beide Stufen verlangen von Diotima keine ‚Vermännlichung' der Seele. Vielmehr gehen die durch Diotima dargestellten religiösen und philosophischen Praktiken mit einer Harmonisierung der männlichen und weiblichen Elemente der Seele, und das heißt mit einem ‚Androgyn-Werden' einher, bis schließlich in der Eins-Werdung mit dem Höchsten alle geschlechtlichen Bestimmungen transzendiert werden.

Das Ideal des Androgynen, das sich in Diotimas zeigt, bedeutet aber nicht, dass Proklos das Männliche und das Weibliche als gleichwertig betrachtet. Vielmehr spricht Proklos dem Männlichen die primären, dem weiblichen aber die sekundären Funktionen zu:

ἐν μὲν γὰρ θεοῖς οὕτω ταῦτα συμπέφυκεν ἀλλήλοις, ὥστε καὶ ἀρρενόθηλυν ἀποκαλεῖσθαι τὸν αὐτόν, καθάπερ Ἥλιον καὶ Ἑρμῆν καὶ ἄλλους τινὰς θεούς· ὅπου δὲ καὶ διῄρηται, κοινὰ τὰ ἔργα ἐστὶ τοῦ ἄρρενος καὶ θήλεος τῶν ὁμοταγῶν, πρώτως μὲν <ἀποτελούμενα> ἀπὸ τοῦ ἄρρενος, ὑφειμένως δὲ ἀπὸ τοῦ θήλεος. διὸ καὶ ἐν τοῖς θνητοῖς ἡ φύσις ἀσθενέστερον ἐν πᾶσιν ἀπέφηνε τὸ θῆλυ τοῦ ἄρρενος. πάντα δ' οὖν ἅπερ ἐκ τοῦ ἄρρενος, ταῦτα καὶ τὸ θῆλυ γεννᾷ τῆς ὑφέσεως σῳζομένης.[55] Diese Dinge [sc. Männlichkeit und Weiblichkeit] sind unter den Göttern untereinander so vereint, dass ein und derselbe androgyn genannt werden kann, so wie Helios, Hermes und einige von den anderen Göttern. Wo das Männliche und das Weibliche aber getrennt auftreten, haben die männliche und die weibliche Gottheit desselben Ranges dieselbe Aufgabe, primär aber wird diese von der männlichen Gottheit erfüllt, auf sekundäre Weise aber von der weiblichen. Deshalb offenbart die Natur auch in den sterblichen Lebewesen das Weibliche als in allem schwächer als das Männliche. So wird alles, was aus dem Männlichen hervorgeht, auch vom Weiblichen geboren, wobei das Weibliche seine untergeordnete Stellung bewahrt.

In der Seele zeigt sich die Überlegenheit des Kreises des Selben gegenüber dem Kreis des Anderen darin, dass der Kreis des Anderen, wenn er mit dem Nicht-Rationalen in Kontakt kommt, seine perfekte Form verliert, während der Kreis des Selben seine Funktion nur vorübergehend einstellt, aber nicht selbst nicht-rationale Bewegungen vollführt:

διττῶν γὰρ ὄντων ἐν αὐτῇ κύκλων κατὰ μίμησιν τῶν θείων ψυχῶν ὁ μὲν τῶν νοητῶν θεατής, ὅς ἐστιν ὁ διανοητικός, ἐπέχεται μόνον τῆς ἐνεργείας διαστροφὴν οὐδεμίαν ὑπομένων, ὁ δὲ δοξαστικὸς καὶ διαστρέφεται, καὶ εἰκότως· δοξάζειν μὲν γὰρ ἔστι μὴ ὀρθῶς, ἐπίστασθαι δὲ ἐψευσμένως οὐκ ἔστιν.[56] Denn zweifach sind die Kreise in ihr [sc. der menschlichen Seele] im Einklang mit der Nachahmung der göttlichen Seelen, und der Betrachter des Intelligiblen, der der Denkende ist, wird nur in seiner Aktivität aufgehalten, unterliegt aber keiner Perversion, während der Meinungsbildende auch pervertiert wird, und zwar billigerweise. Denn es existiert ein Meinen, das nicht richtig ist, aber ein falsches Wissen existiert nicht.

Proklos hält somit an dem tief in der platonischen Tradition eingeschriebenen Vorurteil der größeren Stärke und Vollkommenheit des Männlichen fest, doch dies bedeutet für ihn nicht, dass die Menschen nach einer Abkopplung oder Negierung der weiblichen Elemente in ihrer Seele streben sollen. Das Weibliche ist als das Intermediäre dem Niederen (d.h. im Falle der Seele dem Körperlichen) näher als das Männliche und droht von diesem korrumpiert zu werden. Doch ohne die vermittelnde Tätigkeit des Weiblichen wäre keine Verbindung zwischen dem Höheren und dem Niederen und somit auch kein Aufstieg möglich.

Danksagung

Ich danke dem anonymen Gutachter und den Herausgebern des ‚Bochumer Philosophischen Jahrbuchs für Antike und Mittelalter' für ihre wertvollen Hinweise zur Überarbeitung des Manuskripts. Der DFG danke ich für die Förderung meiner Forschung im Rahmen des Projekts 'Die Frau und das Weibliche im Neuplatonismus' (GZ: WI3873/4-1).

Footnotes 1 Damit soll nicht gesagt sein, dass Diotima tatsächlich mit der pythagoreischen Schule in Verbindung stand oder überhaupt eine historische Figur ist. Zu einer Debatte über die Historizität der Diotima siehe M. E. Waithe, „Diotima of Mantinea", in M. E. Waithe (ed.), A History of Women Philosophers. Vol. I. Ancient Women Philosophers: 600 B.C.-500 A. D., Dodrecht 1987, 96–107. Zum Topos der Priesterin als Lehrerin der Philosophie innerhalb der biographischen Tradition der Antike siehe J. Breton Conelly, Portrait of a Priestess. Women and Ritual in Ancient Greece, Princeton 2007, 220. 2 Procl, In R. 1.248, 21–27 (ed. G. Kroll, Leipzig 1899–1901). 3 Die deutsche Übersetzung der Passagen aus In Platonis Rem Publicam Commentarii stammt von der Autorin, doch unter Zuhilfenahme der französischen Übersetzung von A. J. Festugière (Commentaire sur la République, Tomes I–III, Paris 1970). 4 Die von L. J. Rosán in The Philosophy of Proclus. The Final Phase of Ancient Thought, New York 1949, 212–215 vorgebrachte Deutung, wonach Proklos zwischen zwei Formen der Theurgie, einer niederen und einer höheren, unterscheidet, wurde in der jüngeren Forschung von A. Sheppard in „Proclus' Attitude to Theurgy", in: Classical Quarterly 32 (1982), 212–224, hier 217–220 erweitert. Sheppard argumentiert, dass wir – besonders wenn wir Proklos zusammen mit Hermias Alexandrinus in Platonis Phaedrum Scholia (89f.) lesen – starke Anhaltspunkte dafür haben, dass Proklos nicht zwei, sondern drei Stufen der Theurgie angenommen hat, wobei sich die unterste Stufe mit ‚menschlichen Angelegenheiten' befasst, die der Seele äußerlich sind (z.B. mit der Vermeidung von Dürren), die zweite Stufe die Seele in intellektueller Hinsicht aktiv macht und die höchste Stufe die unio mystica ermöglicht. Ich möchte in diesem Aufsatz nicht diskutieren, ob Proklos von zwei oder drei Stufen der Theurgie ausgeht, sondern lediglich festhalten, dass Proklos an der priesterlichen Seite der Diotima insofern interessiert ist, als dass sie einerseits die Notwendigkeit vermittelnder Instanzen in religiösen Praktiken und andererseits die die vermittelnden Instanzen transzendierende unio mystica als höchstes Ziel dieser Praktiken verkörpert. 5 Procl.In Alc. 6.10–12 (ed. A. P. Segonds, Paris 1985–1986). 6 Die deutsche Übersetzung der Passagen aus In Platonis Alcibiadem I stammt von der Autorin, doch unter Zuhilfenahme der englischen Übersetzung von W. O'Neill, Proclus: Alcibiades I, The Hague 1965; und der französischen Übersetzung von A. P. Segonds, Proclus, Sur le Premier Alcibiade de Platon, Tomes I–II, Paris 1985–1986. 7 Procl.In Alc. 3.13–16. 8 Für eine ausführliche Studie zu Alcibiades' doppelter Ignoranz in Proklos siehe D. A. Layne, „Involuntary Evil and the Socratic Problem of Double Ignorance in Proclus", in: The International Journal of the Platonic Tradition 9 (2015), 27–53. 9 Procl.In Alc. 102.27–103.7. Procl.In Alc. 73.10–17. Proklos' Kritik zielt hier auf die plotinische Dämonologie. Zu einer ausführlichen Untersuchung der Differenzen zwischen Plotin und Proklos hinsichtlich der Dämonen siehe A. Timotin, „Proclus' Critique of Plotinus Demonology", in: L. Brisson/S. O'Neill/A. Timotin (eds.), Neoplatonic Demons and Angels, Leiden/Boston 2018, 190–209, hier 195–198. Zu Proklos' Bestimmung des Menschen als eine den Körper gebrauchende Seele siehe auch Rosán, Philosophy of Proclus, 194. Bei dieser Bestimmung des Menschen ist zu beachten, dass die menschliche Seele sich in Proklos' System nicht dadurch auszeichnet, dass sie sich überhaupt mit irgendeiner Art von Körper verbindet, während die höherem Seelen körperlos bleiben, sondern dadurch, dass sie sich mit einem irdischen Körper verbindet. Proklos unterscheidet drei Arten von Körpern oder ‚Seelenfahrzeugen': das immaterielle (oder ätherische) Vehikel, das pneumatische Vehikel und den irdischen Körper (Procl.In Ti. 3.285.8–16). Von den beiden höheren Arten von Seelenfahrzeugen werden auch Seelen partizipiert, die einen höheren Platz in der Hierarchie innehaben. So betont Proklos, dass alle Seelen außer der Hypostasen-Seele (z.B. auch die Seelen der innerkosmischen Gottheiten) ein ätherisches Vehikel haben, durch das sie innerkosmisch werden (Procl.In Ti. 3.235.28–30). Eine ausführliche Analyse des Platzes der Dämonen in Proklos' ontologischem System bietet A. Timotin, La démonologie platonicienne. Histoire de la notion de daimōn de Platon aux derniers néoplatoniciens, Leiden 2012, 153–156. Procl.In Alc. 69.9–70.3. Procl.In Alc. 64.9–16. Procl.In Ti. 1.211.8–11 (ed. E. Diehl, Leipzig 1903–1906). Die Übersetzung der Passagen aus In Platonis Timaeum Commentaria, Tomus I stammt von der Autorin, doch unter Zuhilfenahme der englischen Übersetzungen von H. Tarrant, Proclus, Commentary on Plato's Timaeus. Volume I. Proclus on the Socratic State and Atlantis, Cambridge 2006; und von D. T. Runia/M. Share, Proclus, Commentary on Plato's Timaeus. Volume II. Proclus on the Causes of the Cosmos and its Creation, Cambridge 2008. Dabei muss, wie es K. Albert in Griechische Religion und platonische Philosophie, Hamburg 1980, 66–68 im Hinblick auf Platons Beschreibung des Eros im Symposium (203c5–e5) zeigt, der Philosoph keineswegs in Abgrenzung zum Weisen in dem Sinne definiert werden, dass der Philosoph ‚nur' nach Weisheit strebt, während der Weise das Wissen besitzt, so dass jemand, sobald er weise wird, aufhört, ein Philosoph zu sein. Vielmehr wird der Eros (und damit der Philosoph) laut Albert als eine Entität beschrieben, deren Streben nach Wissen zeitweilig Erfüllung findet, doch die das Wissen nicht dauerhaft bewahren kann und somit wieder in den Zustand des Mangels und des Suchen zurückfällt. Diese Interpretation scheint gut mit der proklischen Vorstellung der aufsteigenden Seele vereinbar zu sein, die – selbst wenn sie vom Körper befreit im Intelligiblen ist – sich zwar zum Intellekt wenden und die Ideen schauen kann, doch diese Schau aufgrund ihrer mangelhaften Natur nicht permanent aufrecht erhalten kann (Procl.In Ti. 3.278.11–27). Procl.Theol. Plat. 1.105.5–12 (ed. H. D. Saffrey/L. G. Westerink, Paris 1968–1997). Die Übersetzung der Passagen aus der Theologica Platonica stammt von der Autorin, doch unter Zuhilfenahme der französischen Übersetzung von H. D. Saffrey/L. G. Westerink, Proclus, Théologie Platonicienne, Livres I–VI, Paris 1968–1997. Zu den λόγοι als die Essenz der Seele und die diskursive Entfaltung dieser λόγοι als die der Seele eigentümliche Tätigkeit siehe R. Chlup, Proclus. An Introduction, Cambridge 2012, 141; und Layne, „Involuntary Evil", 34. Die Differenz zwischen dem diskursiven Denken und der intellektuellen Schau legt Proklos auch im Kommentar zu Platons Parmenides (1046.15–23) dar. D. O'Meara weist in „La science métaphysique (ou théologie) de Proclus comme exercice spirituel", in: A. P. Segonds/C. Steel (eds.), Proclus et la Théologie Platonicienne, Leuven/Paris 2000, 279–290, hier 281f. auf diese Unterscheidung hin, wenn er darlegt, dass die Metaphysik als diskursive Wissenschaft nicht zur Schau der Ideen führen, sondern diese nur vorbereiten kann. Procl.In Alc. 45.13-22. Interessant ist, dass hier ‚der Mensch selbst' von der den Körper gebrauchenden Seele (sc. dem Wagenlenker) abgegrenzt wird, während sich die conditio humana zuvor gerade dadurch auszuzeichnen schien, dass die Seele sich an irdische Körper bindet. Dieser scheinbare Widerspruch hängt damit zusammen, dass die menschliche Seele in Proklos ontologischem System zwar notwendig zyklischen Einkörperungen unterliegt (Procl.In Ti. 2.278.25–27), was dadurch begründet ist, dass sie sich im Vergleich zu den höheren Seelen stärker durch die Andersheit auszeichnet und deshalb dem Werden ähnlicher ist (Procl.In Ti. 3.254.2–6), doch die Einkörperung auch mit einer Art von ‚Selbstentfremdung' der Seele einhergeht, so dass die menschliche Seele erst richtig zu sich selbst kommt, wenn sie sich vom Körper trennt. Zur losgelösten Seele als dem wahren Selbst in Proklos siehe auch T. Riggs, „Authentic Selfhood in the Philosophy of Proclus: Rational Soul and its Significance for the Individual", in: The International Journal of the Platonic Tradition 9 (2015), 177–204, hier 183. Man mag sich wundern, warum Proklos für die Vereinigung mit dem Höchsten den Begriff πίστις verwendet, da dieser doch in Platons Liniengleichnis (R. 511e1) für die Erfassung der sinnlichen Entitäten genutzt wird. Chlup erklärt dies in Proclus, 135 durch den Wert der Individualität in Proklos' System. Die partikularen, sinnlichen Entitäten sind zwar den universalen Ideen unterlegen, doch Individualität ist primär auf der Ebene der Henaden manifestiert, die als simple ‚Eine' die universalen Ideen transzendieren. Πίστις wird demnach von Proklos für die Erfassung individueller Entitäten verwendet, sowohl im Bereich des Sinnlichen wie auch in der Kontaktaufnahme mit dem Einen. Lankila argumentiert in „Post-Hellenistic Philosophy", 162 in eine ähnliche Richtung, wobei er nicht die Gemeinsamkeit im Objekt, sondern im Modus des Erfassens in den Vordergrund stellt. Seiner Ansicht nach bezeichnet Proklos den Kontakt mit dem Einen als πίστις, da die Seele hier eher tastend als diskursiv oder intellektuell denkend tätig ist. Procl.Theol. Plat. 1.111.7–24. Wie es Addey in Divination and Theurgy, 204 darlegt, ist die Verbindung mit dem Einen den sekundären Entitäten nur möglich, da eine Spur des Einen, ein sogenanntes σύμβολον, in ihnen wirksam ist. Der Verweis auf σύμβολα zeigt, dass wir uns hier – am letztendlichen Ziel der philosophischen Tätigkeiten – mehr im Bereich der Theurgie befinden, da diese bei Proklos auf der Nutzung von σύμβολα basiert, die die Götter in alle sekundären Realitätsebenen ausstrahlen (Procl.In Ti. 1.210.27–211, 2). Ein Beispiel hierfür ist die Funktion der Athena in der Theurgie, wie sie R. M. Van Den Berg in „Towards the Paternal Harbour. Proclean Theurgy and the Contemplation of the Forms", in: A. P. Segonds/C. Steel (eds), Proclus et la Théologie Platonicienne, Leuven/Paris 2000, 425–436, hier 433 analysiert. Seine Analyse wirft auch Licht auf die Verbindung von philosophischen und theurgischen Praktiken, da Athenas Funktion darin besteht, den partikularen, menschlichen Intellekt mit dem demiurgischen Intellekt zu verbinden, wodurch sie sowohl die Wirksamkeit von Gebeten wie auch die Erlangung von Ideenwissen ermöglicht. Das unbeschreibliche und unfassbare Eine kann letztlich auch nicht via religiöse Rituale angesprochen werden, so dass die πίστις die religiösen Rituale ebenso wie die philosophischen Praktiken transzendiert. Doch wie Van Den Berg in „Theurgy", 232 zeigt, verbindet Proklos die πίστις, die uns zur mystischen Schau des Einen führt, mit der Theurgie, da diese der Seele die Bedeutung der σύμβολα lehrt. Zur Abhängigkeit des Gebets und anderer religiöser Rituale vom philosophischen Wissen siehe auch D. A. Layne, „Philosophical Prayer in Proclus's Commentary on Plato's Timaeus", in: The Review of Metaphysics 2 (2013), 345–368, hier 359 und Addey, Divination and Theurgy, 194 in Bezug auf Proklos' Vorgänger Iamblichos. Dass sich die Seele ihre Empfänglichkeit für das Göttliche und damit ihre Fähigkeit zum Aufstieg bei Iamblichos und Proklos durch die Theurgie erwerben muss, während die Seele sich bei Plotin und Porphyrios auch ohne diese Rituale mit dem Einen vereinigen zu können scheint, erklären einige Forscher dadurch, dass Iamblichos und Proklos die Idee einer nicht-abgestiegenen Seele ablehnen, wodurch sich eine Kluft zwischen der menschlichen Seele und dem Intelligiblen auftut, siehe z.B. Erler, „Interpretieren als Gottesdienst. Proklos' Hymnen vor dem Hintergrund seines Kratylos-Kommentars", in: G. Boss and G. Seel (eds.), Proclus et son influence, Zürich 1987, 179–217, hier 183; und Van Den Berg „Towards the Paternal Harbour", 426. Addey sieht hingegen in Divination and Theurgy, 199 keinen fundamentalen Bruch zwischen Plotins und Iamblichos' Haltung zu religiösen Ritualen. Ihrer Lesart nach teilt Plotins höchste Form der Kontemplation strukturelle Merkmale mit den theurgischen Riten und ist somit in gewissem Sinne selbst rituell. Der wesentliche Unterschied zwischen Plotion und Iamblichos bestehe demnach darin, dass Iamblichos in seinen theurgischen Praktiken auf externale Objekte angewiesen ist, während Plotins ‚kontemplative Rituale' rein innerlich verlaufen können. Siehe hierzu auch Chlup, Proclus, 181, der den Aufstieg der Seele bei Proklos mit dem Erklimmen eines Felsens vergleicht, wobei der Kletternde sich zwar mit einem Seil nach oben zieht, aber dabei nie den Kontakt zum Felsen als Fundament seines Aufstiegs verliert. Procl.Theol. Plat. 4.91.21–26. Für Proklos' Bestimmung der Unbegrenztheit (Kraft) als vervielfältigend und der Grenze als vereinheitlichend siehe auch Chlup, Proclus, 48. Die Verbindung zwischen Unbegrenztheit und Weiblichkeit wird auch von W. Beierwaltes, „Andersheit. Grundriß einer neuplatonischen Begriffsgeschichte", in: Archiv für Begriffsgeschichte 16, 1 (1972), 166–197, hier 181; E. Kutash, The Ten Gifts of the Demiurge. Proclus' Commentary on Plato's Timaeus, Bristol 2011, 180; und Rosán, Philosophy of Proclus, 146 beschrieben. Wie es D. Baltzly in „Proclus and Theodore of Asine on Female Philosopher-Rulers: Patriarchy, Metempsychosis, and Women in the Neoplatonic Commentary Tradition", in: Ancient Philosophy 33, 2 (2013), 403–424, hier 411f. zeigt, entwickelt Proklos die These von essentiell geschlechtlich bestimmten Seelen durch seine Interpretation des Mythos von den Seelenwagen im Phaidros (Procl.In Ti. 3.283.21–25). Laut Proklos teilen die Seelen mit der sie leitenden Gottheit nicht nur Anlagen für eine bestimmte Lebensweise, z.B. philosophisch oder kriegerisch zu sein, sondern auch das Geschlecht. Procl.In Ti. 3.283.12–17. Die Übersetzung der Passagen aus In Platonis Timaeum Commentaria, Tomus III stammt von der Autorin, doch unter Zuhilfenahme der englischen Übersetzung von H. Tarrant, Proclus, Commentary on Plato's Timaeus. Volume VI, Proclus on the Gods of Generation and the Creation of Humans, Cambridge 2017. Für diese These argumentiere ich ausführlich in J. Schultz, „Conceptualizing the Female Soul – A Study in Plato and Proclus", in: British Journal for the History of Philosophy (im Druck); online veröffentlicht vor Erscheinung der Druckversion: https://doi.org/10.1080/09608788.2018.1551779 , 7–11. Die Möglichkeit der ‚cross-over'-Geburt von weiblichen Seelen in männliche Körper und männlichen Seelen in weibliche Körper wird von Baltzly in „Female Philosopher-Rulers", 412f. untersucht. Procl.In Ti. 3.281.20–27. Zur Interpretation dieser Textstelle siehe auch Baltzly, „Female Philosopher-Rulers", 410f. Procl.In Ti. 3.324.4–12. Wie R. Chlup in „Proclus' Theory of Evil: An Ethical Perspective", in: The International Journal of the Platonic Tradition 3 (2009), 26–57, hier 44f. argumentiert, ist es für Proklos ein wesentliches Merkmal der menschlichen Seele, dass sie dadurch, dass sie zwischen der Ausrichtung auf das Höhere oder auf das Niedere wählen kann, die einzige Art von Entität ist, die im moralischem Sinne schlecht sein kann. Höhere Seelen oder intelligible Entitäten können nicht wählen, da sie fest in ihren Ursachen etabliert sind, während Tiere als nicht-rationale Lebewesen vollkommen durch einen ihrer jeweiligen Natur entsprechenden λόγος bestimmt sind. Zur Wahl als eigentümliches Merkmal der menschlichen Seele siehe auch Layne, „Involuntary Evil", 44. Procl.In Alc. 111.14–23. Porph.Marc. 33.8–11 (ed. A. Nauck, Leipzig 1886). Übersetzung von W. Pötscher, Porphyrios Pros Markellan, Leiden 1969. Die Idee einer Vermännlichung der Seele durch intellektuelle und tugendhafte Aktivitäten und einer Verweiblichung durch am Körper und am Wahrnehmbaren orientierte Aktivitäten ist tief in der platonischen Tradition verwurzelt. Schon in Platons Timaios wird das untugendhafte und körperorientierte Leben als ein Grund für die Verweiblichung der Seele beschrieben, die in einer Wiedergeburt als Frau resultiert (42b2–d2). Zum Weiblichen als das Intermediäre bei Proklos siehe auch H. D. Saffrey, „Fonction divine de la δύναμις dans la théologie proclienne", in: F. Romano / L. Cardullo (eds.), Dunamis nel Neoplatonismo, Florenze 1996, 107–120, hier 115. Die Natur des Intermediären als zugleich trennend und verbindend wurde auch mit Blick auf die Diotima in Platons Symposium untersucht. Siehe hierzu z.B. S. Hawthorne, „Diotima Speaks Through the Body", in: B.-A.baron (ed.), Engendering Origins. Critical Feminist Readings in Plato and Aristotle. New York, 1994, 83–96, hier 89; und L. Irigaray, „Sorcerer Love: A Reading of Plato's Symposium, Diotima's Speech", in: Hypatia 3,3 (1989), 32–44, hier 33. Procl.In Cra. 143.11-15 (ed. G. Pasquali, Leipzig 1908). Die Übersetzung der Passagen aus In Platonis Cratylum Commentaria stammt von der Autorin, doch unter Zuhilfenahme der englischen Übersetzung von B. Duvick, Proclus, On Plato Cratylus, London 2007. Procl.In Alc. 53.2–8. Sokrates vorhersehende Tätigkeit in Bezug auf Alcibiades wird auch von C. Addey in „The Daimonion of Socrates: Daimones and Divination in Neoplatonism", in: D. A. Layne/H. Tarrant (eds), The Neoplatonic Socrates, Pennsylvania 2014, 51–73, hier 60 so beschrieben, dass Sokrates gegenüber Alcibades die Rolle eines leitenden Dämons einnimmt. G. Roskam erläutert in „Socratic Love in Neoplatonism", in: D. A. Layne/H. Tarrant (eds.), The Neoplatonic Socrates, Pennsylvania 2014, 21–36, hier 28 ein ähnliches Phänomen in Bezug auf die Beziehung von Sokrates und Phaidros, indem er unter Bezug auf Hermias In Platonis Phaedrum Scholia 19, 1–9 darlegt, dass Sokrates sich zum Niederen wendet, um Phaidros beim Aufstieg zu helfen. Procl.In Alc. 157.2–4. Eine ausführliche Analyse des Verhältnisses zwischen dem Demiurgen und der Nacht bot D. A. Layne in ihrem Vortrag „Otherwise Than the Father: Night and the Maternal Causes in Proclus' Theological Metaphysics" auf der Konferenz „Philosophers, Goddesses and Principles – Women and the Female in Neoplatonism" an der Ruhr-Universität in Bochum, 26. bis 28. September 2018. Eine Veröffentlichung der Konferenzbeiträge ist in Arbeit. Procl.In Ti. 1.206.26–207.2. Procl.Theol. Plat. 4.81.20–23. Procl.In Ti. 1.46.19–27. Procl.In Ti. 3.333.4–9.

By Jana Schultz

Reported by Author

Titel:
Die proklische Diotima: Philosophie, Religion und das Weibliche.
Autor/in / Beteiligte Person: Schultz, Jana
Link:
Zeitschrift: Bochumer Philosophisches Jahrbuch für Antike und Mittelalter, Jg. 22 (2019), Heft 1, S. 75-98
Veröffentlichung: 2019
Medientyp: academicJournal
ISSN: 1384-6663 (print)
DOI: 10.1075/bpjam.00040.sch
Schlagwort:
  • PLATO, 428-347 B.C.
  • SYMPOSIUM (Book : Plato)
  • PROCLUS, ca. 410-485
  • WOMEN & religion
  • MASCULINE identity
  • Subjects: PLATO, 428-347 B.C. SYMPOSIUM (Book : Plato) PROCLUS, ca. 410-485 WOMEN & religion MASCULINE identity
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Language: German
  • Document Type: Article
  • Author Affiliations: 1 = Humboldt-Universität zu Berlin, 01hcx6992

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