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Wahrheit – Zusammenhang – Therapie: Entwicklungstendenzen autobiografischen Schreibens zu Beginn des 21. Jahrhunderts.

Rohde, Carsten
In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Jg. 46 (2021-06-01), Heft 1, S. 66-108
Online academicJournal

Wahrheit – Zusammenhang – Therapie: Entwicklungstendenzen autobiografischen Schreibens zu Beginn des 21. Jahrhunderts  1 Einleitung

While autobiographical research in literary studies has recently focused mainly on aesthetic and theoretical aspects (for example, in the discussion of 'autofiction'), this article focuses on the variety of autobiographical writing at the present time. It provides an outline of the autobiographical genre spectrum linked to the three principal purposes (truth, coherence, therapy), which regulate the 'autobiographical desire' at the beginning of the 21st century.

Autobiografische Texte erfreuen sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts außerordentlicher Beliebtheit. Sie finden bei Publikum, Kritik und Wissenschaft gleichermaßen großes Interesse und vielfältige Resonanz. Mit Blick auf die Entwicklung der autobiografischen Gattung in der Moderne zeigt sich indes, dass diese Popularität eine längere Tradition hat. Um 1800 erlebt die Autobiografie den Aufstieg zur literarischen Kunstform, die in Goethes Dichtung und Wahrheit ein idealtypisches Gattungsmuster mit immenser Wirkungsklassizität findet. Vgl. Klaus-Detlef Müller: Autobiographie und Roman. Studien zur literarischen Autobiographie der Goethezeit. Tübingen: Niemeyer 1976. Im 19. Jahrhundert etabliert sie sich als verbreitete Prosaform und zählt zu den bevorzugten literarischen Genres, nicht nur im Kontext des Historismus und seiner Fokussierung auf die Geschichtlichkeit des Daseins. Vgl. Ralph-Rainer Wuthenow: Autobiographien. In: Horst Albert Glaser (Hg.): Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte. Bd. 7: Vom Nachmärz zur Gründerzeit: Realismus. 1848–1880. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1982, S. 89–100. Und auch mit Bezug auf das 20. Jahrhundert kann von einer Konjunktur autobiografischer Textformen gesprochen werden, wie in der Forschung verschiedentlich konstatiert wurde. Vgl. Michaela Holdenried: Im Spiegel ein anderer. Erfahrungskrise und Subjektdiskurs im modernen autobiographischen Roman. Heidelberg: Winter 1991, S. 36, die mit Blick auf die Neue Subjektivität der 1970er-Jahre eine „autobiographische Konjunktur" konstatiert. Ähnlich die Formulierung bei Almut Finck: Autobiographisches Schreiben nach dem Ende der Autobiographie. Berlin: Schmidt 1999, S. 11: Das „vielfach totgesagte Genre" der Autobiografie erlebe „gegenwärtig Hochkonjunktur". Richard Kämmerlings spricht 2002 von einer „Rückkehr des Autobiographischen" (Das Ich und seine Gesamtausgabe. Zum Problem der Autobiographie. In: Kursbuch 148 [2002]: Die Rückkehr der Biographien, S. 99–109, hier S. 108), und einige neuere Untersuchungen betonen ebenfalls die Beliebtheit autobiografischer Erzählformen Ende des 20. und darüber hinaus zu Beginn des 21. Jahrhunderts: Alma-Elisa Kittner: Visuelle Autobiographien. Sammeln als Selbstentwurf bei Hannah Höch, Sophie Calle und Annette Messager. Bielefeld: Transcript 2009, S. 15; Brigitte Krumrey: Der Autor in seinem Text. Autofiktion in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur als (post-)postmodernes Phänomen. Göttingen: V&R 2015, S. 11; Bianca Weyers: Autobiographische Narration und das Ende der DDR. Subjektive Authentizität bei Günter de Bruyn, Monika Maron, Wulf Kirsten und Heiner Müller. Göttingen: V&R 2016, S. 28 f. Trotz dieser Vorgeschichte scheint die Popularität autobiografischer und auch biografischer Schreib- und Textformen zu Beginn des 21. Jahrhunderts jedoch nicht nur unvermindert anzuhalten, sondern darüber hinaus ein qualitativ neues Stadium erreicht zu haben. Das (Auto-)Biografische ist mehr denn je zu einem allgemeinen Dispositiv geworden, das den Bereich des Literarischen im engeren Sinne transzendiert und einen allgemein wichtigen Beitrag leistet zum sozialen und kulturellen Diskurs der Gesellschaft. Ideen- und mentalitätsgeschichtlich mag diese Entwicklung mit der Diskreditierung politischer Ideologien am Ende des 20. Jahrhunderts zusammenhängen; der Aufstieg biografischer und autobiografischer Narrative ließe sich dann als Antwort auf diesen Sinnverlust interpretieren. (Auto-)Biografie, so könnte man zuspitzend formulieren, tritt an die Stelle von Ideologie und liefert ein alternatives basales Orientierungswissen. In der Forschung hat man daher auch vom „Biographical Turn" Hans Renders/Binne de Haan/Jonne Harmsma (Hg.): The Biographical Turn. Lives in History. London/New York: Routledge 2017. gesprochen – wie zuvor beim Linguistic oder Cultural Turn wird auch hier ein bestimmtes Element der symbolisch-semantischen Ordnung zum Zentrum erklärt, von dem aus das gesamte menschliche Dasein in seinen Grundlagen und wesentlichen Zügen auf neue Weise interpretierbar wird.

Das autobiografische Schrifttum zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist nicht nur sehr erfolgreich auf dem Literaturmarkt und auffällig präsent in der Forschung. Es zeichnet sich zudem durch eine außerordentliche Vielfalt aus. Für einen Überblick über diese literarische Gattung bieten sich verschiedene Strukturierungsmöglichkeiten an, die zugleich ein Licht werfen auf die enorme Breite der Textsorten und Ausdrucksmöglichkeiten. Zunächst ließe sich das infrage kommende Korpus grob einteilen in a) Autobiografien im traditionellen Sinne (Lebensberichte in Prosa, die einen oder mehrere Lebensabschnitte in relativer Ausführlichkeit darstellen), b) autobiografische Texte verschiedenster Form und Umfangs (subsummierbar unter den Oberbegriff ‚autobiografisches Schreiben') und c) autobiografische Romane (fiktionale Werke, die mehr oder weniger deutliche autobiografische Spuren aufweisen). Insbesondere Kategorie c) weist notorisch unscharfe Konturen auf, nicht erst in der Zeit um das Jahr 2000. Festhalten lässt sich in jedem Falle, dass sich die Autobiografik seit dem Ende des 20. Jahrhunderts mehr denn je in zahlreiche Untergattungen ausdifferenziert hat: Neben die traditionellen Formen der Autobiografie (Lebensbericht, Bekenntnisse, Erinnerungen, Memoiren, Tagebuch, Brief) treten, häufig unter der Überschrift ‚Autofiktion', neuartige Formen eines sozusagen experimentellen autobiografischen Schreibens, die ein Kernkriterium der Autobiografie, die Referentialität auf außertextuelle Wirklichkeit, außer Kraft zu setzen scheinen oder zumindest infrage stellen. Hinzu kommen mediale Transformationen, die zu zahlreichen innovativen Formaten geführt haben; zu Beginn des 21. Jahrhunderts sind hier insbesondere virtuell-digitale Formen zu nennen (SMS, Weblog, Digital Life Narrative und andere mehr). Vgl. Innokentij Kreknin: [Art.] Digital Life Narratives/Digital Selves/Autobiography on the Internet. In: Martina Wagner-Egelhaaf (Hg.): Handbook of Autobiography/Autofiction. Bd. 1. Berlin/Boston: De Gruyter 2019, S. 557–564. Zum größeren Zusammenhang außerdem: Jörg Dünne/Christian Moser (Hg.): Automedialität. Subjektkonstitution in Schrift, Bild und neuen Medien. München: Fink 2008. Das Verständnis des Autobiografischen, so scheint es, hat sich grundlegend gewandelt. Eine Autobiografie beziehungsweise ein autobiografischer Text geht weit darüber hinaus, was die Literaturwissenschaft darunter lange Zeit verstanden hat und zum Teil bis heute versteht, nämlich „ein[en] nichtfiktionale[n], narrativ organisierte[n] Text im Umfang eines Buches". Jürgen Lehmann: [Art.] Autobiographie. In: Harald Fricke u. a. (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 1. Berlin/New York: De Gruyter 2007, S. 169–173, hier S. 169. Als Autobiografien beziehungsweise autobiografische ‚Texte' werden in der neueren Autobiografieforschung seit ungefähr den 1990er-Jahren neben klassischen und neueren Text- und Text-Bildformaten (zum Beispiel Graphic Novels) Vgl. Marie Schroer: Graphic Memoirs – autobiografische Comics. In: Julia Abel/Christian Klein (Hg.): Comics und Graphic Novels. Eine Einführung. Stuttgart: Metzler 2016, S. 263–275. auch so unterschiedliche Dinge wie Lexika und Wörterbücher, Vgl. Monika Schmitz-Emans: Lexika und Wörterbücher als Selbstporträts. In: Kalina Kupczyńska/Jadwiga Kita-Huber (Hg.): Autobiografie intermedial. Fallstudien zur Literatur und zum Comic. Bielefeld: Aisthesis 2019, S. 251–268. Kunstwerke und Sammlungen, Vgl. Kittner: Visuelle Autobiographien (Anm. 3). Häuser und Architekturen, Vgl. Salvatore Pisani/Elisabeth Oy-Marra (Hg.): Ein Haus wie Ich. Die gebaute Autobiographie in der Moderne. Bielefeld: Transcript 2014. Kompositionen Vgl. Nicole Jost-Rösch: [Art.] Alban Berg: Lyric Suite (1925/1926). In: Martina Wagner-Egelhaaf (Hg.): Handbook of Autobiography/Autofiction. Bd. 3. Berlin/Boston: De Gruyter 2019, S. 1688–1702. oder Tanzperformances Vgl. Gabriele Brandstetter: [Art.] Xavier Le Roy: Product of Circumstances (1998/1999). In: Martina Wagner-Egelhaaf (Hg.): Handbook of Autobiography/Autofiction. Bd. 3. Berlin/Boston: De Gruyter 2019, S. 2064–2073. Vgl. insgesamt zur immensen Bandbreite autobiografischer Formen, Themen, Kontexte und so weiter dieses voluminöse, mehr als zweitausend Seiten umfassende neuere Standardwerk der Forschung. diskutiert.

Nicht nur die formale Bandbreite ist erstaunlich, auch das inhaltlich-thematische Spektrum ist heterogen und vielfältig und dabei letztlich ein Spiegelbild der relevanten gesellschaftlich-kulturellen Diskurse und Debatten der vergangenen Jahrzehnte. Identität, Familie, Krankheit, Interkulturalität sind hier wie dort Schwerpunktthemen und verweisen auf die Bedeutung des autobiografischen Schreibens als gesellschaftliches Reflexionsmedium, das aktuelle Diskurse sowohl widerspiegelt als auch initiiert und beeinflusst. Dies gilt in besonderem Maße für das populärliterarische autobiografische Schrifttum, das neben der als hochliterarisch sanktionierten und kanonisierten Autobiografik existiert und zu dem Sportlerbiografien (Zlatan Ibrahimović: Ich bin Zlatan. Meine Geschichte, 2015) ebenso zählen wie Politikermemoiren (Erhard Eppler: Links leben. Erinnerungen eines Wertkonservativen, 2015), Aufsteigergeschichten (Dirk Rossmann: „... dann bin ich auf den Baum geklettert!" Von Aufstieg, Mut und Wandel, 2018), Herkunftserzählungen (Ijoma Mangold: Das deutsche Krokodil. Meine Geschichte, 2017) sowie zahlreiche weitere autobiografische oder autobiografieaffine Untergattungen, die auch nicht-prominente Verfasser aufweisen können (Pari Roehi: Mein bunter Schatten. Lebensweg einer Transgender-Frau, 2016).

Die genannten formalästhetischen, thematisch-inhaltlichen oder auch literatursoziologischen Zugänge integrierend, fragt die hier hauptsächlich verfolgte funktionale Betrachtungsweise nach den spezifischen Aufgaben und Leistungen, die autobiografische Texte für die Gesellschaft und ihre symbolisch-semantische Ordnung erbringen. Im Wesentlichen bestehen diese Leistungen darin, dass die Autobiografik Begriffe und Ideen, Narrative und Konzepte bereitstellt, mithilfe derer die Gesellschaft und ihre Individuen Sinn produzieren im Hinblick auf den Wert und den Verlauf der menschlichen Biografie. Wahrheit, Zusammenhang und Therapie sind, so die These des vorliegenden Überblicks, drei zentrale Begriffe und Konzepte im autobiografischen Schreiben der westlichen Gesellschaften zu Beginn des 21. Jahrhunderts, mit denen sich wichtige Funktionen für die Gesellschaft verbinden. Sie produzieren und strukturieren das menschliche Leben in biografischer Hinsicht insofern, als sie bestimmte Narrative, Werte und Normen erzeugen, die Möglichkeiten und Wirklichkeiten menschlicher Biografie abstecken. Oder in systemtheoretischer Diktion: Autobiografien sind „soziale Kommunikationsmedien" (Martina Wagner-Egelhaaf: Autobiographie-Forschung. Alte Frage – neue Perspektiven. Paderborn: Schöningh 2017, S. 20), die Narrative herstellen, Sinn generieren und diese dem Leser zum Zwecke der Komplexitätsreduktion anbieten. Diese Begriffe und Konzepte erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit, aber anhand ihrer lassen sich paradigmatische Erkenntnisschneisen durch die verwirrende Vielfalt autobiografischer Schreibformen der Gegenwart schlagen. Die drei Begriffe stehen in einer langen Tradition, sowohl im Hinblick auf ihren konzeptuellen Gehalt wie auch mit Bezug auf den Diskurs über autobiografische Literatur im engeren Sinne. Aber sie erfahren in der Zeit um 2000 eine charakteristische Umformung, sie verknüpfen sich mit zeitgenössischen literarischen und diskursiven Paradigmen. Und diese Begriffe und Konzepte stehen am Ende einer Entwicklung, die mit der Moderne begann und in die Spätmoderne (oder Postpostmoderne) hineinführt. Wahrheit, Zusammenhang und Therapie sind dabei keine klar voneinander abgetrennten Begriffe. Sie sind vielmehr vielfältig und komplex ineinander verflochten: Wahrheit kann als Zusammenhang zutage treten, umgekehrt Zusammenhang als Wahrheit empfunden oder konstruiert sein; Therapie führt zu und dient der Wahrheit; gleichzeitig ist Zusammenhang zweifelsohne eines der Hauptziele der therapeutischen Konstellation im autobiografischen Schreiben um das Jahr 2000. Wahrheit, Zusammenhang, Therapie sind gleichsam drei Koordinatenpunkte, zwischen denen das autobiografische Schreiben hin und her verläuft und mithin diskursiviert wird. Sie bilden drei diskursive Zentren, die das „autobiographische Begehren" Toni Tholen: „meinem Leben so nahe kommen wie möglich". Zur Konstitution von Männlichkeit und Autorschaft in Karl Ove Knausgårds autobiographischem Romanzyklus Min Kamp. In: Renate Stauf/Christian Wiebe (Hg.): Erschriebenes Leben. Autobiographische Zeugnisse von Marc Aurel bis Knausgård. Heidelberg: Winter 2020, S. 17–32, hier S. 32. vieler Texte zu Beginn des 21. Jahrhunderts auf spezifische Weise organisieren.

Um diese allgemeinen Entwicklungslinien und Tendenzen auf möglichst breiter Textbasis in den Blick zu bringen, verzichten die folgenden Ausführungen weitgehend auf ausführliche Einzelwerkanalysen. Sie konzentrieren sich auf die neuere literarische Autobiografik, sehen also von einem sehr weit gefassten Verständnis des Autobiografischen, das Architekturen, Tanzperformances und ähnliches miteinschließt, ab. Neben deutschsprachigen finden punktuell auch fremdsprachige autobiografische Texte Berücksichtigung, insbesondere solche, die in den vergangenen zwanzig Jahren in originalsprachlicher Form oder in Übersetzungen eine nennenswerte Resonanz im deutschsprachigen literarischen Leben entwickelt haben. Autorinnen und Autoren wie Warlam Schalamow, Annie Ernaux, J. M. Coetzee, Karl Ove Knausgård, Rachel Cusk und andere mehr tragen wesentlich zur Polyphonie autobiografischen Schreibens zu Beginn des 21. Jahrhunderts bei. Und ihre Stimmen sind auch in der deutschsprachigen Forschung, bei Kritik und Publikum ganz selbstverständlich ein wichtiger Bestandteil des allgemeinen autobiografischen Diskurses. Mehr denn je vollziehen sich das autobiografische Schreiben und seine Rezeption, in literarästhetischer, kommunikationstechnischer und auch ganz lebenspraktischer Hinsicht, in internationalen, ja globalen Zusammenhängen.

2 Wahrheitspolitiken

2.1 Augustinus – Rousseau – Goethe

In der Tradition des autobiografischen Schreibens verbindet sich der Begriff der Wahrheit mit dem Problem der Referenz auf außertextuelle Wirklichkeit. In der Autobiografie artikuliert sich nicht nur ein „‚Wirklichkeitsbegehren'", Martina Wagner-Egelhaaf: Autobiographie. 2., aktualisierte und erweiterte Aufl. Stuttgart/Weimar: Metzler 2005, S. 8; zur „Vielzahl konkurrierender Wahrheitsbegriffe" in der Autobiografieforschung vgl. S. 41–47. sondern auch ein Begehren nach, ein Wille zur Wahrheit. Gegenstand dieses Begehrens – zumindest dort, wo es sich über die rein pragmatische Zweckform erhebt und zu einem literarisch formulierten Bekenntnis wird – ist dabei weniger die außertextuelle Wirklichkeit als vielmehr das eigene Ich: Die literarische Autobiografie erhebt traditionell den Anspruch, dieses Ich sowohl in empirisch-faktischem als auch in einem individualsemantisch-existenziellen Sinne, also gewissermaßen die äußere und die innere Existenz, wahrheitsgemäß und wahrheitsgetreu abzubilden. Kurrenz und Prominenz des autobiografischen Wahrheitsbegriffs in Moderne und Spätmoderne entspringen wesentlich diesem lebenspraktisch-existenziellen Potenzial; ihm ist auch die sonst im Vordergrund stehende epistemologisch-erkenntniskritische Dimension des Begriffs untergeordnet. Vgl. entsprechend Peter Bürger: Das Verschwinden des Subjekts. Eine Geschichte der Subjektivität von Montaigne bis Barthes. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1998, S. 99, der mit Bezug auf Rousseau festhält, dass dessen „Suche nach Wahrheit" in seiner Autobiografie nicht „in erster Linie ein erkenntnistheoretisches, sondern ein existentielles Problem" sei. Tatsächlich begegnet uns ein solch emphatischer Wahrheitsbegriff in charakteristischer Weise in allen drei großen Paradigmen des deutschsprachigen beziehungsweise abendländischen Autobiografiediskurses. In den Confessiones des Augustinus (entstanden 397–401 n. Chr.) wird immer wieder Gott metonymisch mit „Wahrheit" angerufen. Vgl. auch Hans Robert Jauß: Gottesprädikate als Identitätsvorgaben in der Augustinischen Tradition der Autobiographie. In: Odo Marquard/Karlheinz Stierle (Hg.): Identität. München: Fink 1979 (Poetik und Hermeneutik, Bd. 8), S. 708–717. Die Wahrheit des Ich ist identisch mit der Wahrheit Gottes: „o vera vita, deus meus" („o wahres Leben, du, mein Gott"). Aurelius Augustinus: Confessiones. Bekenntnisse. Lateinisch-deutsch. Übersetzt von Wilhelm Timme. Düsseldorf/Zürich: Artemis & Winkler 2004, S. 48 f.; S. 14 f.: „qui veritas es" („der du die Wahrheit bist"); S. 72 f.: „nec amatur quicquam salubris quam illa prae cunctis formosa et luminosa veritas tua" („nichts heilsamer als Liebe zu deiner Wahrheit, deren Schönheit und Strahlenglanz alles andere in Schatten stellt"); S. 474 f.: „beata quippe vita est gaudium de veritate" („Freude an der Wahrheit aber ist glückseliges Leben"). Hingegen bindet Jean-Jacques Rousseau die Wahrheit des Ich nicht mehr an eine metaphysische Autorität, sondern er findet sie im Ich selbst, in einer authentischen Tiefe: „Je forme une entreprise qui n'eut jamais d'exemple, & dont l'exécution n'aura point d'imitateur. Je veux montrer à mes semblables un homme dans toute la vérité de la nature; & cet homme, ce sera moi." Jean-Jacques Rousseau: Les confessions de J. J. Rousseau, suivies des reveries du promeneur solitaire. Bd. 1. Lausanne: Grasset & Comp. 1782, S. 1 („Ich plane ein Unternehmen, das kein Vorbild hat und dessen Ausführung auch niemals einen Nachahmer finden wird. Ich will vor meinesgleichen einen Menschen in aller Wahrheit der Natur zeigen, und dieser Mensch werde ich sein." Jean-Jacques Rousseau: Bekenntnisse. Aus dem Französischen von Ernst Hardt. Frankfurt/M./Leipzig: Insel 1985, S. 37). Zum autobiografischen Wahrheitsbegriff vgl. neuerdings auch Konstanze Baron: Jean-Jacques Rousseau und die Paradoxien der Wahrheit über sich selbst. In: Renate Stauf/Christian Wiebe (Hg.): Erschriebenes Leben. Autobiographische Zeugnisse von Marc Aurel bis Knausgård. Heidelberg: Winter 2020, S. 103–120. Der berühmte erste Satz von Rousseaus Confessions (1782/1788) formuliert bis heute modellhaft das Programm einer autobiografisch fundierten und orientierten Literatur emphatischer Selbstentblößung. Noch Michel Leiris im 20. Jahrhundert und Karl Ove Knausgård im 21. Jahrhundert folgen mit ihren autobiografischen Texten diesem Willen zur Wahrheit, dieser Suche nach einem authentischen, das heißt komplexen und potenziell abgründigen Selbst. Bei Johann Wolfgang Goethe schließlich, dem dritten klassischen Paradigma im Autobiografiediskurs der europäischen beziehungsweise deutschsprachigen Moderne, bilden Dichtung und Wahrheit (1811–1833) ein unauflösbares Junktim. In utopischer Perspektive führen sie zu einer symbolischen ‚höheren Wahrheit'. Vgl. Goethe zu Eckermann, 30. März 1831: „Es [die Bekenntnisse in Dichtung und Wahrheit; C.R.] sind lauter Resultate meines Lebens, sagte Goethe, und die erzählten einzelnen Facta dienen bloß, um eine allgemeine Beobachtung, eine höhere Wahrheit, zu bestätigen." Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. In: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Hg. von Karl Richter u. a. München/Wien: Hanser 1985–2014. Bd. 19. Hg. von Heinz Schlaffer. München/Wien: Hanser 1986, S. 446. Exoterisch kann man darunter den Individualmythos Goethe verstehen, wie er im Zusammenspiel von Verfasser, Kritik und Publikum im Laufe des 19. Jahrhunderts entstanden ist. Esoterisch ist damit jener „innige Zusammenhang" gemeint, Vgl. Johann Wolfgang Goethe: Konfession des Verfassers. In: J. W. G.: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Hg. von Karl Richter u. a. München/Wien: Hanser 1985–2014. Bd. 10: Die Farbenlehre. Hg. von Peter Schmidt. München/Wien: Hanser 1989, S. 902–919, hier S. 918. den Goethe mit dem ‚Poetischen' identifizierte und als seinen „Bildungstrieb" ansah. Johann Wolfgang Goethe: [Selbstschilderung]. In: J. W. G.: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Hg. von Karl Richter u. a. München/Wien: Hanser 1985–2014. Bd. 4.2: Wirkungen der Französischen Revolution 1791–1797. Hg. von Klaus H. Kiefer u. a. München/Wien: Hanser 1986, S. 515–519, hier S. 515.

2.2 Moderne und Gegenwart

Im Verlauf der Moderne kommt es insgesamt zu einer Verkomplizierung und Verdunkelung des autobiografischen Wahrheitsbegriffs. Verkomplizierung heißt auch Pluralisierung: Bei Friedrich Nietzsche etwa ist die Wahrheit des Ich nur noch plural gegeben und damit latent oder auch offen kontradiktorisch. Gegenstand der autobiografischen Selbstbeschreibung ist nicht das eine, wahre, authentische Ich, sondern das Ich als Vielheit von nicht-stabilen, maskenhaften Identitäten. Dementsprechend bringt der Autobiograf das Ich zu Beginn von Ecce homo (1888) mit verschiedenen Masken in Verbindung: Friedrich Nietzsche ist demzufolge Friedrich Nietzsche, aber er ist außerdem Jesus Christus, Dionysos, Satyr, Zarathustra, Décadent, ein wohlgeratener Mensch... und er ist eine explosive Mischung aus allen diesen identitär-biografischen Komponenten, sinnbildlich zusammengefasst in der Metapher vom Dynamit („Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit."). Friedrich Nietzsche: Ecce homo. In: F. N.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bdn. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 6. München/Berlin/New York: Dtv/De Gruyter 1988, S. 365. Steht hier die Pluralisierung des autobiografischen Wahrheitsbegriffs unter den positiven Vorzeichen von Aufbruch und Offenheit, führt die Problematisierung von Wahrheit bei anderen teils direkt in die Aporie und Negativität. Für Kafka existiert Wahrheit nur mehr noch durch den Filter seines „traumhaften innern Lebens". Vgl. Franz Kafka: Tagebücher. Hg. von Hans-Gerd Koch, Michael Müller und Malcolm Pasley. Frankfurt/M.: Fischer 1990 (Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe), S. 546 (6.8.1914). Auch und gerade im biografisch-existenziellen Sinne ist Wahrheit ausschließlich verzerrt, verfremdet, paradox oder negativ gegeben: „Die Kunst ist ein von der Wahrheit Geblendetsein: Das Licht auf dem zurückweichenden Fratzengesicht ist wahr, sonst nichts." Franz Kafka: Nachgelassene Schriften und Fragmente II. Hg. von Jost Schillemeit. Frankfurt/M.: Fischer 1992 (Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe), S. 62. In ähnlicher Weise verabschiedet Thomas Bernhard den emphatischen Wahrheitsbegriff, sei dieser metaphysisch-transzendent oder subjektiv-authentisch gestützt. Am Ende seiner autobiografischen Erzählung Der Keller von 1976 bilanziert das Ich skeptizistisch-kühl: „Manchmal erheben wir alle unseren Kopf und glauben die Wahrheit oder die scheinbare Wahrheit sagen zu müssen und ziehen ihn wieder ein. Das ist alles." Thomas Bernhard: Die Autobiographie. Hg. von Martin Huber und Manfred Mittermayer. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2004 (Werke, Bd. 10), S. 213.

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts erfährt der autobiografische Wahrheitsbegriff eine Bifurkation in zwei Extreme. Einerseits behaupten autobiografische Texte nach wie vor häufig einen harten Kern empirischer Wahrheit, insbesondere dort, wo historisch-politische Ereignisse des 20. Jahrhunderts (wie Erster und Zweiter Weltkrieg, Holocaust, Faschismus, Kommunismus, DDR-Diktatur) die Grundlage oder den Rahmen bilden. Andererseits favorisieren große Teile der Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften subjekttheoretische Modelle und philosophische Konzepte, die mehr oder weniger radikal von der Konstruktivität des Ich und der Welt ausgehen und infolgedessen jeden harten Kern empirischer Wahrheit bestreiten. Ich und Welt haben demzufolge keine wesensmäßige Substanz. Sie sind veränderlich, dynamisch, das Ergebnis konstruktivistisch-perspektivischer Zuschreibungen durch individuelle, soziale und kulturelle Akteure. Dieses konstruktivistische Verständnis von Ich und Welt ist die Grundlage für jene Zuspitzung, die sich in der Autobiografieforschung jüngeren Datums im Begriff der Autofiktion artikuliert: Aus Konstruktivität wird Fiktionalität, beide Ansätze eint die antiessenzialistische Stoßrichtung. Nur radikalisiert die Autofiktion das konstruktivistische Element und erklärt kurzerhand das gesamte autobiografische Schreiben für fiktional (erzähllogisch), ja für fiktiv (ontologisch): Ist nicht alles Schreiben über sich unauflösbar in Fiktion verstrickt und also Autofiktion?

2.3 Historizität und Faktizität

Einerseits ein allgemeines Gattungskriterium und mit Blick auf die Weltgeschichte im 20. Jahrhundert ein internationales Phänomen, ist der empirische Kern autobiografischer Literatur in besonderem Maße für die deutschsprachige Literatur von Bedeutung. Krieg, Völkermord, Vertreibung, das Leben in totalitären Diktaturen, Fragen der Schuld und Verantwortung für Verbrechen und Unrecht – insbesondere die autobiografische Prosa der Generation der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geborenen Deutschen ist unweigerlich mit diesen Themen aus dem ‚Zeitalter der Extreme' Eric Hobsbawm: Age of Extremes. The Short Twentieth Century. 1914–1991. London: Michael Joseph 1994. konfrontiert. In der west- und ostdeutschen Literaturszene nach 1945 stehen zwei Namen exemplarisch für diese literarisch-autobiografische Auseinandersetzung mit der deutschen Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts: Günter Grass Vgl. zu Grass' autobiografischem Œuvre allgemein: Volker Neuhaus: Günter Grass. Schriftsteller – Künstler – Zeitgenosse. Eine Biographie. Göttingen: Steidl 2012, S. 420–444; Volker Neuhaus: Taktieren beim Paktieren. Grass' autobiographische „Trilogie der Erinnerung" 2006–2010 als Spiel mit Lejeunes autobiographischem Pakt. In: Studia niemcoznawcze/Studien zur Deutschkunde 56 (2015), S. 23–42. Zu Die Box und Grimms Wörter: Stuart Taberner: „Kann schon sein, daß in jedem Buch von ihm etwas Egomäßiges rauszufinden ist". „Political" Private Biography and „Private" Private Biography in Günter Grass's Die Box (2008). In: The German Quarterly 82 (2009), S. 504–521; Christian Baier: Grass' Wörter. Von der Fiktionalität autobiographischen Schreibens. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift N. F. 66 (2016), S. 199–224. Zu Beim Häuten der Zwiebel (in Auswahl): Martin Kölbel (Hg.): Ein Buch, ein Bekenntnis. Die Debatte um Günter Grass' „Beim Häuten der Zwiebel". Göttingen: Steidl 2007; Walter Hinck: Der Autobiograph und der fabulierende Erzähler Günter Grass. Beim Häuten der Zwiebel auf dem Hintergrund zeitgenössischer Selbstbiographien. In: Literatur für Leser 31 (2008), S. 1–11; Nadine Jessica Schmidt: Konstruktionen literarischer Authentizität in autobiographischen Erzähltexten. Exemplarische Studien zu Christa Wolf, Ruth Klüger, Binjamin Wilkomirski und Günter Grass. Göttingen: V&R 2014, S. 233–266; Dorothea Kliche-Behnke: Nationalsozialismus und Shoah im autobiographischen Roman. Poetologie des Erinnerns bei Ruth Klüger, Martin Walser, Georg Heller und Günter Grass. Berlin/Boston: De Gruyter 2016, S. 146–178; Martin Kölbel: Redlichkeit als Hybris? Literarische Strategien der Vergangenheitspolitik in Günter Grass' Autobiographie „Beim Häuten der Zwiebel". In: Weimarer Beiträge 63 (2017), S. 410–423; Claudia Mueller-Greene: Das im fiktionalen Gestrüpp verschwindende Ich. Metaisierung, Fiktionalität und Liminalität in faktualen metaautobiographischen Texten am Beispiel von Günter Grass' „Beim Häuten der Zwiebel". In: Sonja Arnold u. a. (Hg.): Sich selbst erzählen. Autobiographie – Autofiktion – Autorschaft. Kiel: Ludwig 2018, S. 123–150; Kirstin Gwyer: Gynter Grass Bald Anders. Taking the Self out of Autobiography in Grass's Beim Häuten der Zwiebel. In: Oxford German Studies 48 (2019), S. 328–345. und Christa Wolf. Vgl. zu Christa Wolfs autobiografischem Œuvre: Wolfgang Emmerich: Generationsprofile. Christa Wolf, Annette Simon und Jana Simon in autobiografischen Texten. In: Text + Kritik. H. 46: Christa Wolf. Hg. von Nadine J. Schmidt. 5. Aufl., Neufassung. München: Ed. Text + Kritik 2012, S. 11–26; Hannelore Piehler: „Ein fremder Mensch blickt mir da entgegen". Das Unsagbare sagbar machen: Christa Wolfs literarische Selbstanalyse in „Kindheitsmuster", „Was bleibt" und „Stadt der Engel". In: Text + Kritik. H. 46: Christa Wolf. Hg. von Nadine J. Schmidt. 5. Aufl., Neufassung. München: Ed. Text + Kritik 2012, S. 171–182; Carsten Gansel (Hg.): Christa Wolf – Im Strom der Erinnerung. Göttingen: V&R 2013; Schmidt: Konstruktionen literarischer Authentizität (Anm. 28), S. 101–162; Katrin Löffler: Systemumbruch und Lebensgeschichte. Identitätskonstruktion in autobiographischen Texten ostdeutscher Autoren. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2015, S. 359–396; Katrin Löffler: [Art.] „Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud" (2010). In: Carola Hilmes/Ilse Nagelschmidt (Hg.): Christa Wolf-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: Metzler 2016, S. 236–244; Hannes Krauss: [Art.] Tagebücher: „Ein Tag im Jahr" (2003), „Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert" (2013), „Moskauer Tagebücher" (2014). In: Carola Hilmes/Ilse Nagelschmidt (Hg.): Christa Wolf-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: Metzler 2016, S. 296–309; Georg-Michael Schulz: Christa Wolf. Marburg: Tectum 2016, S. 171–178. Beide veröffentlichen zu Beginn des 21. Jahrhunderts umfangreiche autobiografische Werke, in denen sie vom Selbst im Spannungsfeld zwischen Subjektivität und Geschichte erzählen (Grass: Beim Häuten der Zwiebel, 2006; Die Box. Dunkelkammergeschichten, 2008; Grimms Wörter. Eine Liebeserklärung, 2010; Wolf: Leibhaftig, 2002; Ein Tag im Jahr. 1960–2000, 2003; Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud, 2010; Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert. 2001–2011, 2013; Moskauer Tagebücher, 2014). Beider Autobiografien sind gleichermaßen von einem Willen zur Wahrheit bestimmt, nehmen also das Wahrheitsthema des autobiografischen Schreibens auf – dieses Mal mit einem für das deutsche linksliberale Milieu nach 1945 so charakteristischen protestantischen Bußgestus: Die Wahrheit zu sagen, ist gleichbedeutend mit dem Eingeständnis und der Benennung von Schuld, die durch autobiografische Bewusstwerdung und Weitergabe kathartisch gereinigt werden soll. Dies ist sozusagen die offizielle Bedeutung dieser autobiografischen Schreibunternehmen. Grass und Wolf erzählen von der Verantwortung und Verantwortlichkeit des individuellen Lebens angesichts der politisch-historischen Entwicklungen, die darauf abzielten, das Individuum auszulöschen. Vgl. Imre Kertész: Galeerentagebuch. Aus dem Ungarischen von Kristin Schramm. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1997, S. 70: „Die große Entdeckung der Neuen Prosa: die Eliminierung des Menschen aus dem Zentrum der Dinge. Eine qualitative Veränderung, die den Roman – aber auch das Gedicht – zum Text, zum reinen Text verwandelt, dem man das Subjekt gleicherweise entzogen hat, wie die Sach- und Machtstrukturen der Welt das Individuum zerschlagen und auf bloße Impulse reduziert haben." Auch Primo Levi und Warlam Schalamow sprechen in Anbetracht der totalitären Praktiken des 20. Jahrhunderts von der Auslöschung des einzelnen Menschen als Signum des Zeitalters. Vgl. Primo Levi: Se questo è un uomo. Torino: Enaudi 1976 [zuerst: 1947], S. 29: „la demolizione di un uomo"; Warlam Schalamow: Über Prosa [1965]. In: W. S.: Über Prosa. Aus dem Russischen von Gabriele Leupold. Hg. von Franziska Thun-Hohenstein. Berlin: Matthes & Seitz 2009, S. 7–31, hier S. 30: „die Vernichtung des Menschen mithilfe des Staates". Zugleich beschäftigen sich diese Bücher über das totalitäre deutsche 20. Jahrhundert auch mit der Behauptung und Bewahrung des Menschlichen, oder zumindest mit dem Versuch und dem Anspruch darauf, es zu bewahren. Die autobiografischen Erzählungen von Grass, Wolf und anderen thematisieren dabei zwangsläufig auch die schuldhaften Verstrickungen des Einzelnen und somit die Fragwürdigkeit und Komplexität ‚authentischer' Subjektivität. Zum poetologischen Leitprinzip ‚subjektiver Authentizität' bei Christa Wolf vgl.: Schmidt: Konstruktionen literarischer Authentizität (Anm. 28), besonders S. 116–131. Im Falle von Günter Grass und seiner Autobiografie Beim Häuten der Zwiebel kam diese Gebundenheit des Autobiografischen an die historische Faktizität auf besonders deutliche, die Öffentlichkeit skandalisierende Weise zum Tragen, indem der Verfasser einerseits moralisierend einen politischen Wahrheitsanspruch vertrat, diesen andererseits mit einem virtuos fabulierenden Erzählkonzept verknüpfte und vor allem durch seine eigene faktische Existenz (die einstige Mitgliedschaft in der Waffen-SS) diskreditierte.

Im konfliktreichen Spannungsfeld von Subjektivität, Politik und Geschichte problematisieren die Autobiografien von Grass und Wolf Grundbedingungen moderner Existenz im 20. Jahrhundert. Bodenlosigkeit wird in diesem Zusammenhang zu einer allgemeinen Existenzmetapher und zu einem negativen Statthalter für die Wahrheit des Ich. Vgl. Vilém Flusser: Bodenlos. Eine philosophische Autobiographie. Düsseldorf/Bensheim: Bollmann 1992. Der Prager Jude und spätere Medienphilosoph, dessen gesamte Familie in den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten ausgelöscht wurde, floh 1938 nach England und emigrierte 1940 nach Brasilien. Noch die intensiven politischen Richtungs- und Rechtfertigungskämpfe, die sich mit und um diese beiden Autoren entzündeten, können auf diese Erschütterung der Existenz zurückgeführt werden. Bodenlos sind nicht nur die allgemeinen politisch-historischen Zeitverhältnisse im 20. Jahrhundert mit all ihren menschlichen Verwerfungen und Abgründen; bodenlos sind auch die Windungen und Auseinandersetzungen des nachmaligen Gedächtnis- und Erinnerungsdiskurses. Christa Wolfs Stadt der Engel spielt zu Beginn der 1990er-Jahre Jahre während eines Aufenthalts der Autorin in Los Angeles. Vor dem Hintergrund des deutsch-deutschen Literaturstreits bringt die ehemals gefeierte DDR-Autorin ihre Situation mit dem Exil in Zusammenhang und nutzt das Buch, um über die Deformationen der künstlerischen und politischen Identität im 20. Jahrhundert nachzudenken. Die Erzählerin verknüpft die Gegenwart mit einer Recherche nach den europäischen Exilanten in Kalifornien während der Nazizeit. Und sie verbindet dies mit Reflexionen über die Figur des Exilanten als Grundtypus der Moderne überhaupt. Sie markiert den Zustand des Exils als exemplarisch für ein Jahrhundert, das biografisch-existenziell und ideologisch tief von Bodenlosigkeit und Heimatlosigkeit geprägt ist.

Die Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts führt insbesondere im Kontext der sogenannten Lagerliteratur zu einem Junktim von Autobiografie und Wahrheit im Sinne eines harten empirischen Kerns. Die Wahrheit wird dabei nicht einfach naiv behauptet, sondern reflexiv problematisiert. Fred Wander, Emigrant und KZ-Häftling, erteilt in seinen Erinnerungen der objektiven Wahrheit eine Absage: „Die Wahrheit über die Naziverbrechen ist nicht mitteilbar!" Fred Wander: Das gute Leben. Erinnerungen. München/Wien: Hanser 1996, S. 188. Dennoch beharrt er auf der subjektiven Authentizität des Erlebten: „Schreib die Wahrheit! Aber was ist die Wahrheit? Das Lager war unsere Wahrheit. Die Welt des Hungers war unsere einzige Wahrheit. Die Welt des Hungers, der Bürgerkriege, des Terrors und der Massaker ist auch heute noch die einzige Wirklichkeit." Wander: Das gute Leben (Anm. 33), S. 190. Warlam Schalamow, zwischen 1937 und 1951 Gulag-Häftling in Sibirien, erklärt vor dem Hintergrund des ‚Jahrhunderts der Lager' Joël Kotek/Pierre Rigoulot: Das Jahrhundert der Lager. Gefangenschaft, Zwangsarbeit, Vernichtung. Berlin/München: Propyläen 2001. und der Auslöschung des Menschen den Roman für „tot": Von jetzt an könne keine erfundene, fiktionale Literatur mehr geschrieben werden, nur noch Autobiografien, Memoiren, Lebensberichte. Schalamow: Über Prosa (Anm. 30), S. 7 f. Schalamow, dessen autobiografisch grundiertes Werk seit 2007 im Berliner Matthes & Seitz Verlag in deutschsprachiger Übersetzung erschienen ist und eine intensive Rezeption erfahren hat, Vgl. etwa Wilfried F. Schoeller: Leben oder Schreiben. Der Erzähler Warlam Schalamow. Berlin: Matthes & Seitz 2013; Marisa Siguan: Schreiben an den Grenzen der Sprache. Studien zu Améry, Kertész, Semprún, Schalamow, Herta Müller und Aub. Berlin/Boston: De Gruyter 2014, S. 196–241. sieht einzig in der autobiografisch verbürgten „Wahrheit" ein Richtmaß und eine Legitimation für Literatur. In diesem Sinne äußert sich Schalamow immer wieder, darunter in einem Brief an Alexander Solschenizyn vom November 1962 („die Wahrheit sagen, so schrecklich sie auch sei"), Schalamow: Über Prosa (Anm. 30), S. 69. Vgl. auch Warlam Schalamow: Über die Kolyma. Erinnerungen. Aus dem Russischen von Gabriele Leupold. Hg. von Franziska Thun-Hohenstein. Berlin: Matthes & Seitz 2018, S. 12: „An welcher Grenze kommt das Menschliche abhanden? Wie von alldem erzählen? [...] In welcher Sprache mit dem Leser sprechen? Wenn man nach Authentizität, nach Wahrheit strebt, wird die Sprache arm, dürftig."

Rekurrieren die autobiografischen Schriften von Grass, Wolf, Wander, Schalamow und anderen Vgl. auch Annie Ernaux' Konzept einer „unpersönlichen Autobiographie" („autobiographie impersonnelle"): Das sich selbst entfremdete Ich geht retrospektiv auf in einem äußeren, unpersönlichen Strom der Dinge und Ereignisse, der ebenso wahr ist wie zugleich dem Ich vollkommen fremd. Vgl. Annie Ernaux: Les années. Paris: Gallimard 2008, S. 252. Das einst von Goethe imaginierte dynamische Wechselverhältnis von Ich und Welt/Zeit ist hier radikal in sein Gegenteil verkehrt. auf einen harten Kern empirischer Wahrheit, der mit der überindividuellen Ereignisgeschichte des 20. Jahrhunderts zusammenhängt, so behauptet sich in manchen autobiografischen Texten jüngeren Datums ein nicht minder dringlicher Wille zur konkreten, empirischen Wahrheit, der gleichwohl im Privaten und Individuellen angesiedelt ist. Die Autobiografie als Pathografie – Fritz Zorns Mars von 1977 und Thomas Bernhards Der Atem von 1978 und Die Kälte von 1981 sind hier prominente Beispiele aus der jüngeren Gattungsgeschichte – sieht sich in gleicher Weise mit der Unhintergehbarkeit empirischer Faktizität konfrontiert. Entsprechende Texte von Christoph Schlingensief (So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein! Tagebuch einer Krebserkrankung, 2009; Ich weiß, ich war's, 2012), Kathrin Schmidt (Du stirbst nicht, 2009), Wolfgang Herrndorf (Arbeit und Struktur, 2013), David Wagner (Leben, 2013) und Thomas Melle (Die Welt im Rücken, 2016) haben ihr Zentrum in der Faktizität von Tod und Krankheit. „Hier geht es nicht um Abstraktion und Literatur, um Effekt und Drastik", schreibt der manisch-depressiv erkrankte Autor Thomas Melle mit Blick auf die Werke, die er bisher publiziert hat und die in stilisierter Form seine Erkrankung verarbeiteten. „Hier geht es um eine Form von Wahrhaftigkeit, von Konkretion, jedenfalls um den Versuch einer solchen. Es geht um mein Leben, um meine Krankheit in Reinform." Thomas Melle: Die Welt im Rücken. Berlin: Rowohlt 2016, S. 56. Vgl. auch: Corinna Caduff/Ulrike Vedder: Schreiben über Sterben und Tod. In: C. C./U. V. (Hg.): Gegenwart schreiben. Zur deutschsprachigen Literatur 2000–2015. Paderborn: Fink 2017, S. 115–124; Nina Schmidt: Autobiographische Krankheitserzählungen in der Gegenwartsliteratur. Siri Hustvedt, Paul Kalanithi, Verena Stefan. In: Diegesis. Interdisziplinäres E-Journal für Erzählforschung 6 (2017), S. 138–159: http://elpub.bib.uni-wuppertal.de/servlets/DerivateServlet/Derivate-7390/dej17060209.pdf (zuletzt eingesehen am 24.02.2021); Johanna Zeisberg: Zwischen Rettung und Unrettbarkeit. Biochemische Ich-Irritationen in Autopathographien der Gegenwart. In: Zeitschrift für Germanistik N. F. 28 (2018), S. 502–518.

2.4 Selbsttransformation in ein Bild

Zwischen Historizität und Fiktionalität steht die Figur der Selbsttransformation in ein Bild. Das Ich wird zum Bild, das zugleich wahr und fiktiv ist. Teils unter positiven Vorzeichen (das Ich als pure Oberfläche ohne belastende Vergangenheit und Tiefe), teilweise unter negativen Prämissen (das Ich im Zwiespalt zwischen medialem Image und personaler Identität) repräsentieren mit Andy Warhol und Susan Sontag nicht zufällig zwei US-Amerikaner diese für die kulturellen Revolutionen des Popzeitalters typische Figur, die man auch als Tribut an das ikonische Zeitalter interpretieren darf. Vgl. Benjamin Moser: Sontag. Her Life and Work. New York: Ecco 2019, S. 223–244. Entsprechend schildert Warhol in seiner Autobiografie „Identitätsspielchen" mit der „Wahrheit": Bei seinen Vorträgen in amerikanischen Colleges umgab sich Warhol 1967 mit Leuten aus dem Umkreis der Factory, die teilweise an seiner Stelle den Vortrag hielten (während er wie eine Sphinx auf dem Podium saß) oder ihn sogar in seiner Abwesenheit doubelten. Dem Protest der Colleges, als das publik wurde, begegnet Warhol in seiner Autobiografie mit einer Absage an den klassischen Wahrheitsbegriff und im Verein damit mit einer Neucodierung von Identität im Zeichen von Mediengesellschaft und Popkultur: „Wer will die Wahrheit? Dazu ist das Showbusiness doch da – zu beweisen, dass nicht zählt, was man ist, sondern wofür man dich hält." Andy Warhol/Pat Hackett: POPism. Meine 60er Jahre. Aus dem Amerikanischen übers. von Nikolaus G. Schneider, bearb. von Marion Kagerer. München: Schirmer/Mosel 2008, S. 393 f. Auch hier mag man freilich an Goethe denken: Spricht nicht auch er im Zusammenhang mit seinem autobiografischen Schreiben davon, die Erfahrungen des Ich („was mich erfreute oder quälte") „in ein Bild" zu verwandeln? Johann Wolfgang Goethe: Dichtung und Wahrheit. In: J. W. G.: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Hg. von Karl Richter u. a. München/Wien: Hanser 1985–2014. Bd. 16. Hg. von Peter Sprengel. München/Wien: Hanser 1985, S. 306. Entscheidend ist freilich, was Goethe und das klassische Zeitalter auf der einen sowie Warhol, Sontag und das ikonische Popzeitalter auf der anderen Seite unter einem Bild verstehen. Während es bei Goethe als Deckname fungiert für ein Unendliches an ästhetischer und semantischer Komplexität, das in Leben und Kunst wirksam ist und so einen autonomen, artifiziellen Gegenraum zur Wirklichkeit markiert, Vgl. Goethes bekannte Definition in den Maximen und Reflexionen: „Die Symbolik verwandelt die Erscheinung in Idee, die Idee in ein Bild und so daß die Idee im Bild immer unendlich wirksam und unerreichbar bleibt, und selbst in allen Sprachen ausgesprochen doch unaussprechlich bliebe." Johann Wolfgang Goethe: Maximen und Reflexionen. In: J. W. G.: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Hg. von Karl Richter u. a. München/Wien: Hanser 1985–2014. Bd. 17: Maximen und Reflexionen. Wilhelm Meisters Wanderjahre. Hg. von Gonthier-Louis Fink, Gerhart Baumann und Johannes John. München/Wien: Hanser 1991, S. 904. ist das Bild für Warhol und das Popzeitalter nur das Bild, also reine Oberfläche, ohne tiefere Wahrheit. Hinzu kommt, dass das Ich im klassischen Zeitalter sein Bild im Wesentlichen selbst schafft, während es im Popzeitalter Teil eines heteronomen Mediensystems ist und das Bild zum ‚Image' wird, das aufgrund nicht steuerbarer Prozesse die Identität des Einzelnen definiert. Und drittens sind es seit dem Visualisierungsschub und der Wende zum ikonischen Zeitalter im 19. und vor allem 20. Jahrhundert zunehmend Bilder in visuellen Medien (Fotografie, Film, Internet), die dieses Ich in seiner Identität konturieren, nicht mehr primär, wie noch im Zeitalter der Literalität, das geschriebene beziehungsweise gedruckte Wort, die Literatur.

Im deutschen Sprachraum lässt sich Rainald Goetz mit diesem Prozess einer Selbsttransformation des Ich in ein Bild in Verbindung bringen. Wesentliche Teile seines Werks sind autobiografisch unterlegt und entwerfen ein Ich, das zwischen Faktualität und Fiktionalität oszilliert, ohne dabei beide Seiten in die übergeordnete Fiktion eines autobiografischen Romans aufzuheben. Vgl. zu Goetz' ebenso eigenwilligem wie komplexem autofiktional-autobiografischen Schreibmodell auch Innokentij Kreknin: Poetiken des Selbst. Identität, Autorschaft und Autofiktion am Beispiel von Rainald Goetz, Joachim Lottmann und Alban Nikolai Herbst. Berlin/Boston: De Gruyter 2014, S. 37–277; Eckhard Schumacher: „Adapted from a true story". Autorschaft und Authentizität in Rainald Goetz' „Heute Morgen". In: Text + Kritik. H. 190: Rainald Goetz. Hg. von Charis Goer und Stefan Greif. München: Ed. Text + Kritik 2011, S. 77–88. Vielmehr transformiert Goetz das empirische Ich in ein Kunst-Ich, ein Bild, das indes trotz seiner Artifizialität auf Referenzialität und Authentizität dringt und für sich beansprucht, von einer nicht-beliebigen, nicht-fiktiven Wirklichkeit zu erzählen. Es gibt in Goetz' Prosa nicht mehr so etwas wie ein tiefes, authentisches Ich, das im autobiografischen Schreibakt enthüllt wird. Auf der anderen Seite zielt das autobiografische Schreiben auch nicht darauf ab, eine radikal fiktionale Identität zu konstruieren. Dass das Goetz'sche Ich für viele Leser so schwer greifbar ist, hängt auch mit dieser Selbsttransformation in ein Bild zusammen, die die fotografische und filmische Selbstinszenierung miteinschließt. Eine mittlerweile legendäre ikonische Aura umgibt die Fernsehbilder von Goetz beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 1983 in Klagenfurt, als er sich während der Lesung die Stirn aufschlitzt; im selben Jahr erscheint mit Irre sein literarisches Debüt, das fotografische Porträts in Punkästhetik enthält; in Texten der 1990er und Nullerjahre inszeniert sich Goetz auf zahlreichen Fotografien als Teil der ravenden Gesellschaft; das großformatige Fotobuch elfter september 2010 schließlich präsentiert das Ich vollständig als Teil einer Abfolge von Bildern. Seit dem Eintritt in die literarische Öffentlichkeit im Jahr 1983 bis hin zum Verschwinden aus ihr nach der vorerst letzten Publikation Johann Holtrop im Jahr 2012 ist Rainald Goetz stets mehr Persona, Maske gewesen als eine Autorfigur mit Biografie und Identität im klassischen Sinne. Kennzeichnend dabei ist das eigenwillige Ineinandergreifen von Artifizialität und Authentizität. Das Ich wird zum Bild ohne Tiefe, ohne einen fixierbaren personalen oder psychologischen Kern – und dennoch wird dieser Zustand, anders als im kulturpessimistischen Diskurs über Bildlichkeit und Oberflächen, nicht als defizienter Modus erfahren. ‚Bild' meint bei Goetz eher eine spielerisch-konstruktive Konstellation im kontingenten Lebensganzen, die gleichwohl mit einem Höchstmaß an Intensität und Wahrhaftigkeit an den Leser vermittelt wird. Goetz ist somit auch ein Beispiel für die poststrukturalistische Wendung von Identität in den Aufschub und die Zerstreuung. Im Gegensatz zur Tradition des bürgerlichen Humanismus, in der das Ziel die erfolgreiche Identitätsfindung war, lehren Michel Foucault, Jacques Derrida und andere, dass es vielmehr darauf ankomme, jede Identität abzuwehren, da sie den Einzelnen festlegt, begrenzt und einschränkt in seinen Möglichkeiten des Menschseins. Oder mit Roland Barthes: Jedes Bild des Ich (franz. image) ist notwendig (auch) imaginär und trägt somit das Phantasma, die Zerstreuung und den Aufschub von Identität in sich. Vgl. Roland Barthes: Roland Barthes par Roland Barthes. In: R. B.: Œuvres complètes. Bd. 3: 1974–1980. Hg. von Éric Marty. Paris: Ed. du Seuil 1995, S. 77–250, besonders S. [85f.]; siehe auch unten, Abschnitt „Autobiografie und Fotografie".

2.5 Autofiktion

Der Aufstieg des Begriffs der Autofiktion seit den Nullerjahren des neuen Jahrtausends steht in Zusammenhang mit Veränderungen in der Subjekt- und Geistesgeschichte der westlichen Welt. Im Gefolge gesellschaftlich-kultureller Entwicklungen, die sich mit den Begriffen Individualisierung, Postmaterialismus und Virtualisierung umreißen lassen, entsteht eine expressiv-individualistische „Kultur des Selbst", Toni Tholen: Facetten autofiktionalen Schreibens seit den 1970er Jahren – die Automelanchographie. In: T. T./ Patricia Cifre Wibrow/Arno Gimber (Hg.): Fakten, Fiktionen und Fact-Fictions. Hildesheim: Universitätsverlag 2018, S. 39–57, hier S. 40. die in subjekttheoretischer Hinsicht zunehmend von der fiktionalen oder fingierten Konstruiertheit des Ich ausgeht. Das Ich besitzt hier keine substanzielle Wesenheit, sondern bringt sich performativ selbst hervor; es entwirft und konstruiert ein Leben lang das eigene Selbst, dessen Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit. Desto mehr gilt dies für das Ich in der literarischen Autobiografie. Wenn die Autobiografie als literarische Gattung grundsätzlich in einem polaren Spannungsfeld zwischen Faktualität und Fiktionalität, Wirklichkeitsreferenzialität und Imagination anzusiedeln ist, wie das klassische Gattungsparadigma Dichtung und Wahrheit bereits im Titel andeutet, dann signalisiert der Terminus ‚Autofiktion' eine Radikalisierung des fiktional-imaginativen Spannungspols. Alles autobiografische Schreiben wird nun als grundsätzlich fiktional begriffen. Dieses Verständnis spiegelt sich im Sprachgebrauch der allgemeinen kulturellen Öffentlichkeit ebenso wider wie im akademisch-wissenschaftlichen Kontext. Hier wie dort tritt der Begriff der Autofiktion zunehmend gleichberechtigt an die Seite des etablierten Begriffs der Autobiografie, ja ersetzt diesen teilweise sogar. Die Bemühungen der Forschung, Autofiktion schärfer zu definieren und abzugrenzen von der Autobiografie, sind Legion. Vgl. Martina Wagner-Egelhaaf: Autofiktion oder: Autobiographie nach der Autobiographie. Goethe – Barthes – Özdamar. In: Ulrich Breuer/Beatrice Sandberg (Hg.): Autobiographisches Schreiben in der Gegenwartsliteratur. Bd. 1: Grenzen der Identität und der Fiktionalität. München: Iudicium 2006, S. 353–368; Christian Benne: Was ist Autofiktion? Paul Nizons ‚erinnerte Gegenwart'. In: Christoph Parry/Edgar Platen (Hg.): Autobiographisches Schreiben in der Gegenwartsliteratur. Bd. 2: Grenzen der Fiktionalität und der Erinnerung. München: Iudicium 2007, S. 293-–303; Martina Wagner-Egelhaaf: Autofiktion & Gespenster. In: Kultur & Gespenster 7 (2008): Autofiktion, S. 135-–149; Frank Zipfel: Autofiktion. Zwischen den Grenzen von Faktualität, Fiktionalität und Literarität? In: Simone Winko/Fotis Jannidis/Gerhard Lauer (Hg.): Grenzen der Literatur. Zu Begriff und Phänomen des Literarischen. Berlin/New York: De Gruyter 2009, S. 285–314; Peter Gasser: Autobiographie und Autofiktion. Einige begriffskritische Bemerkungen. In: Elio Pellin/Ulrich Weber (Hg.): „... all diese fingierten, in meinem Kopf ungefähr wieder zusammengesetzten Ichs". Autobiographie und Autofiktion. Göttingen/Zürich: Wallstein/Chronos 2012, S. 13–27; Martina Wagner-Egelhaaf: Einleitung. Was ist Auto(r)fiktion? In: M. W.-E. (Hg.): Auto(r)fiktion. Literarische Verfahren der Selbstkonstruktion. Bielefeld: Aisthesis 2013, S. 7–21; Krumrey: Der Autor in seinem Text (Anm. 3), besonders S. 22–30 („Autofiktion, fiktionale Autobiographie, autobiographisches Schreiben: Definition und Begriffsverwendung"); Claudia Gronemann: [Art.] Autofiction. In: Martina Wagner-Egelhaaf (Hg.): Handbook of Autobiography/Autofiction. Bd. 1. Berlin/Boston: De Gruyter 2019, S. 241–246; Innokentij Kreknin: [Art.] Autofiktion. In: Moritz Baßler/Eckhard Schumacher (Hg.): Handbuch Literatur & Pop. Berlin/Boston: De Gruyter 2019, S. 199–213. Als konsensuelles Moment schält sich heraus, dass es sich bei der Autofiktion im engeren und eigentlichen Sinne um einen bewusst vorgenommenen Akt der Selbstfiktionalisierung handelt, im Unterschied zur Autobiografie oder auch zum autobiografischen Roman, in denen dieser Vorgang keine Rolle spielt oder jedenfalls nicht in signifikanter Weise exponiert wird. In diesem Sinne verstanden, verkleinert sich das Feld der Autofiktion in der neueren deutschsprachigen Gegenwartsliteratur und beschränkt sich auf eine überschaubare Anzahl von Autorinnen und Autoren, die literarisch ein bewusstes, faktual-fiktionales (Verwirr-)Spiel mit ihrer Biografie und Identität betreiben. Zu diesen Autoren zählen Felicitas Hoppe mit Hoppe (2012) sowie teilweise Thomas Glavinic mit Das bin doch ich (2007) und Hanns-Josef Ortheil mit Die Erfindung des Lebens (2009). Alle drei Werke verwenden im Untertitel die Bezeichnung „Roman", lizensieren damit indes gerade nicht ein rein fiktionales Spiel mit der poetischen Erfindung, sondern vielmehr ein Schreibmodell, das die empirische Faktizität der eigenen Biografie als Teil des fiktionalen Spiels ausweist. Geradezu programmatisch verfolgt Felicitas Hoppe diese „Spiel-Ästhetik". Steffen Richter: Land und Meer. Die Räume der Felicitas Hoppe. In: Carsten Rohde/Hansgeorg Schmidt-Bergmann (Hg.): Die Unendlichkeit des Erzählens. Der Roman in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur seit 1989. Bielefeld: Aisthesis 2013, S. 279–299, hier S. 296. „Wir sind, was wir spielen", zitiert der Roman Hoppe an einer Stelle eine fiktive Kritikerin. Felicitas Hoppe: Hoppe. Roman. Frankfurt/M.: Fischer 2012, S. 62. „Hoppes Lebensgeschichte" präsentiert der Roman als eine, „in der Fiktion und Wirklichkeit eins werden". Hoppe: Hoppe (Anm. 49), S. 234. Zwar sind auch in der Autobiografie und im autobiografischen Roman Fakt und Fiktion häufig auf unauflösbare Weise miteinander verwoben. Doch zum einen radikalisiert Felicitas Hoppe mit Hoppe dieses Ineinander, indem hier ein Erzählen praktiziert wird, „das sich der Konstruiertheit der Fakten ebenso bewusst ist wie des Wahrheitsgehalts der Fiktion". Wagner-Egelhaaf: Autobiographie-Forschung (Anm. 13), S. 15. Zu Hoppe vgl. Brigitte Krumrey: Autofiktionales Schreiben nach der Postmoderne? Felicitas Hoppes Hoppe. In: B. K./Ingo Vogler/Katharina Derlin (Hg.): Realitätseffekte in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Schreibweisen nach der Postmoderne? Heidelberg: Winter 2014, S. 277–292; Friederike Eigler: „Könnte nicht alles auch ganz anders sein?". Hoppe zwischen Autofiktion und Metafiktion. In: Michaela Holdenried/Stefan Hermes (Hg.): Felicitas Hoppe. Das Werk. Berlin: Schmidt 2015, S. 145–159; Antonius Weixler: „Dass man mich nie für vermisst erklärt hat, obwohl ich seit Jahren verschollen bin". Autorschaft, Autorität und Authentizität in Felicitas Hoppes Hoppe (2012). In: Svenja Frank/Julia Ilgner (Hg.): Ehrliche Erfindungen. Felicitas Hoppe als Erzählerin zwischen Tradition und Transmoderne. Bielefeld: Transcript 2016, S. 359–388. Zum anderen stellt die Autorin das autofiktionale Spiel in all seinen windungsreichen Aporien demonstrativ aus und treibt den Leser in eine Verwirrung, die es ihm unmöglich macht, einen – sei es autobiografischen, sei es fiktionalen – Pakt einzugehen. In ähnlicher Weise wie Hoppe exponiert auch Thomas Glavinic bereits im Titel das autofiktionale Spiel mit dem Ich: Das Ich in Das bin doch ich ist zweifellos der Autor Thomas Glavinic, der in diesem Literaturbetriebsroman mit empirisch gestützten Fakten aus seiner Biografie in Erscheinung tritt, das eigene Ich indes zugleich mit einem undurchdringlichen Schleier der Fiktion umgibt beziehungsweise verfremdet. Zu Glavinics Roman vgl. auch Sandra Potsch: Thomas Glavinics Das bin doch ich. Ein Spiel zwischen Autobiografie und Fiktion. In: Andrea Bartl/Jörn Glasenapp/Iris Hermann (Hg.): Zwischen Alptraum und Glück. Thomas Glavinics Vermessungen der Gegenwart. Göttingen: Wallstein 2014, S. 250–266; Krumrey: Der Autor in seinem Text (Anm. 3), S. 122–145; Jan Standke: Spiele mit dem erzählten Selbst. Überlegungen zur Identitätsorientierung im Literaturunterricht am Beispiel autofiktionalen Erzählens und anderer ästhetischer Verfahren bei Thomas Glavinic. In: Renate Stauf/Christian Wiebe (Hg.): Erschriebenes Leben. Autobiographische Zeugnisse von Marc Aurel bis Knausgård. Heidelberg: Winter 2020, S. 237–256, besonders S. 241–245. Doch abgesehen vom Titel ist die bewusste Selbstfiktionalisierung der empirischen Person Thomas Glavinic in diesem Roman eher von untergeordneter Bedeutung. Das bin doch ich ließe sich daher, ebenso wie Hanns-Josef Ortheils Die Erfindung des Lebens, ohne Weiteres als autobiografischer Roman kategorisieren, denn hier wie dort betreiben die Erzähler bei aller faktual-fiktionalen Verwickeltheit kein demonstratives Spiel mit der Selbstfiktionalisierung. Zu Ortheil vgl. auch Heinz-Peter Preußer: Portrait des Schriftstellers als kindlicher Autist. Autobiographie und Schreibprozeß bei Hanns-Josef Ortheil. In: Martin Bollacher/Bettina Gruber (Hg.): Das erinnerte Ich. Kindheit und Jugend in der deutschsprachigen Autobiographie der Gegenwart. Paderborn: Bonifatius 2000, S. 141–163; Helmut Schmitz: Traumatische Räume. Autobiographie, Familiengeschichte und Raumerfahrung in Hanns-Josef Ortheils ‚Nachkriegs'-Zyklus. In: Stephanie Catani/Friedhelm Marx/Julia Schöll (Hg.): Kunst der Erinnerung, Poetik der Liebe. Das erzählerische Werk Hanns-Josef Ortheils. Göttingen: Wallstein 2009, S. 31–49; Caroline Kartenbeck: Erfindungen des Lebens. Autofiktionales Erzählen bei Hanns-Josef Ortheil. Heidelberg: Winter 2012; Krumrey: Der Autor in seinem Text (Anm. 3), S. 95–109. Ortheils Romantitel verweist im Gegenteil gerade auf die konstruktivistisch-spielerische Anlage und arbeitet auf diese Weise einem erweiterten und in der literarischen Öffentlichkeit verbreiteten Verständnis von Autofiktion zu. Ortheils autobiografischer Roman und die ihm zugrundeliegende Poetik, wie sie in der poetologischen Schrift Das Element des Elephanten bereits 1994 entfaltet wird, verweisen auf ein wesentliches Merkmal des autofiktionalen Schreibens in diesem erweiterten Sinne: Entscheidend ist, dass sich nicht nur, wie im autobiografischen Roman, das eigene Leben und die Literatur auf komplexe Weise ineinander verschränken. Dem eigenen Leben wird vielmehr von vornherein jegliche Substanzialität entzogen, es wird zur konstruktivistischen Spielmasse – „zum Spielen sind wir hier", heißt es einmal unvermittelt im Roman über einen lebenslangen „Grundsatz" des Ich-Erzählers. Hanns-Josef Ortheil: Die Erfindung des Lebens. Roman. München: btb 52011, S. 478. In der Autofiktion wird das eigene Leben zur Schreibfläche für Konstruktionen, Projektionen und Fiktionen. Aber Vorlage ist immer dieses eine und kein anderes Leben, die Grund-, die Unterlage ist keine Fiktion.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass in der Autofiktion im engeren Sinne die Wahrheit des Ich an dessen Selbstfiktionalisierung oder auch „Selbstmythisierung" Tholen: Facetten autofiktionalen Schreibens (Anm. 46), S. 43. gebunden ist, während in der Autofiktion im weiteren Sinne diese Wahrheit das Ergebnis eines unauflösbaren Zusammenspiels von Faktualität und Fiktionalität ist, dessen Grad von Verwickeltheit frühere Modelle autobiografischen Schreibens bei Weitem transzendiert. Letzteres führt dann in die Nähe des von Ansgar Nünning profilierten Genres der Metaautobiografie, vgl. Ansgar Nünning: Meta-Autobiographien. Gattungstypologische, narratologische und funktionsgeschichtliche Überlegungen zur Poetik und zum Wissen innovativer Autobiographien. In: Uwe Baumann/Karl August Neuhausen (Hg.): Autobiographie. Eine interdisziplinäre Gattung zwischen klassischer Tradition und (post-)moderner Variation. Göttingen: V&R 2013, S. 27–81. Mit Blick auf die deutschsprachige Literatur des 21. Jahrhunderts gilt dies ebenfalls für die autofiktionalen Sonderfälle Peter Handke Trotz der offenkundigen Relevanz hat die autobiografisch-autofiktionale Dimension des Werks bislang vergleichsweise wenig Beachtung gefunden in der Handke-Forschung. Vgl. etwa Christoph Parry: Autobiographisches bei Peter Handke. Die Wiederholung zwischen fiktionalisierter Autobiographie und autobiographischer Fiktion. In: Ulrich Breuer/Beatrice Sandberg (Hg.): Autobiographisches Schreiben in der Gegenwartsliteratur. Bd. 1: Grenzen der Identität und der Fiktionalität. München: Iudicium 2006, S. 275–290; Tanja Angela Kunz: Sehnsucht nach dem Guten. Zum Verhältnis von Literatur und Ethik im epischen Werk Peter Handkes. Paderborn: Fink 2017, S. 57-–62. und Alban Nikolai Herbst: Zu Herbsts autofiktionaler Prosa vgl. Kreknin: Poetiken des Selbst (Anm. 44), S. 353–420. Beide betreiben in durchgängiger Weise ein virtuoses Spiel mit der Selbstfiktionalisierung der Autor- und Erzählerinstanz; und insbesondere Handke partizipiert trotz aller Fiktionalisierung an einem ‚autobiographischen Raum', Philippe Lejeune: Der autobiographische Pakt. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1994, S. 195–234 (Kapitel "Gide und der autobiographische Raum"). Dazu auch Tholen: Facetten autofiktionalen Schreibens (Anm. 46), S. 44–47. der auf produktions-, werk- und rezeptionsästhetischer Ebene gleichermaßen wirksam ist und nicht unerheblich zur Auratisierung der empirischen Person Peter Handke beiträgt.

2.6 ‚Post-Truth'

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts steht der Wahrheitsbegriff besonders in der politischen Öffentlichkeit im Fokus. In Anbetracht der Entwicklungen in den digitalen sozialen Medien und der Wahlerfolge von populistischen Bewegungen auf der ganzen Welt markiert der Terminus ‚Post-Truth' eine Erosion des objektivistischen Wahrheitsverständnisses. Er wird von politischen und geisteswissenschaftlichen Kommentatoren identifiziert mit irrationalistischen Fake News und kalkulierter Desinformation, die zum Zwecke politischer Instrumentalisierung eingesetzt werden. Vgl. Lee McIntyre: Post-Truth. Cambridge/London: MIT Press 2018. Die Postmoderne und ihr Gewährsmann Nietzsche erscheinen in diesem Kontext häufig als philosophisch-ideengeschichtliche Wegbereiter von Relativismus und Antiliberalismus. Vgl. McIntyre: Post-Truth (Anm. 60), S. 123–150. Das Beispiel Nietzsche zeigt indes auch, dass die Pluralisierung von Wahrheit in subjektgeschichtlicher und ästhetischer Hinsicht zum Kernbestand von Moderne gehört und in einer langen Tradition steht. Die Emphatisierung des Wahrheitsbegriffs bei Rousseau und anderen Vertretern der Moderne, im Sinne einer Suche nach Authentizität, signalisiert nur zu deutlich ein Fragwürdigwerden des substanziellen Gehalts und der existenziellen Gültigkeit von Wahrheit. Gerade die Differenzierung zwischen einem subjekthistorisch-ästhetischen und einem politisch-philosophischen Wahrheitsdiskurs unterstreicht die fundamentale Pluralität: Es gibt nicht eine Wahrheit des Menschen, sondern mehrere. Oder mit Richard Rorty: Für den modernen Menschen kommt es darauf an, die private nietzscheanische Selbsterschaffung mit der öffentlichen Dewey'schen Vernunft wenn nicht in Einklang, so doch in eine Art von produktiver Koexistenz zu bringen. Vgl. Richard Rorty: Vorwort. In: R. R.: Solidarität oder Objektivität? Drei philosophische Essays. Aus dem Englischen übers. von Joachim Schulte. Stuttgart: Reclam 1988, S. 5–9, hier S. 6.

Vor diesem subjekt- und ideengeschichtlichen Hintergrund erscheinen Positionen, wie sie einige Vertreter des autobiografischen Schreibens zu Beginn des 21. Jahrhunderts einnehmen, in besonderem Lichte. Sie betreiben auf literarische Weise eine reflexive Revision des autobiografischen Wahrheitsbegriffs, jenseits von Beliebigkeit und Relativismus auf der einen Seite, jenseits aber auch eines unterkomplexen, vermeintlich objektivistischen Verständnisses von Wahrheit auf der anderen Seite. Sie erinnern daran, dass das Präfix ‚post' auch in anderen zeitgenössischen Wortzusammensetzungen (Postmoderne, Posthistoire und so weiter) zumeist im Sinne einer Reflexivierung und Problematisierung des semantischen Gehalts gebraucht wird, sodass dessen eindeutige Fixierung unmöglich wird. In der Postmoderne ist die Moderne zum Ende gekommen – und doch nicht, ihre Inhalte setzen sich in modifizierter, revidierter Form fort. Ähnliches gilt für ein autobiografisches ‚Post-Truth'-Verständnis: Wahrheit gilt nicht mehr (vor allem in einem empirisch-objektivistischen Sinne) und spielt doch weiterhin eine zentrale Rolle (insbesondere in existenzieller Hinsicht). Man befindet sich in einem Zeitalter nach der Wahrheit, nach dem Zusammenhang – und kann dieser Größen in autobiografischer Hinsicht doch nicht entraten.

In Karl Ove Knausgårds sechsbändigem Zyklus Min Kamp (2009–2011) stehen Autor, Ich-Erzähler und Leser unweigerlich zwischen den Fronten. Einerseits signalisiert Knausgård mit der Wahl des Untertitels „Roman", dass es sich bei seiner Literatur um Fiktion handelt. Andererseits ist die Basis dieser Bücher unzweifelhaft autobiografisch. Die radikale Authentizität und die minutiös-realistische Schilderung des Alltags, für die der norwegische Autor weltweit von Kritik und Publikum gerühmt wird, haben ihren Ursprung in der empirischen Biografie von Knausgård. Der Ich-Erzähler umkreist immer wieder selbst in zahllosen reflexiven Schleifen dieses widerspruchsvolle Zentrum seines Schreibprojekts. Gegen Ende des Zyklus spricht er an einer Stelle von der „Wirklichkeit des Romans", analogisiert diese mit der „Wahrheit des Romans" und verknüpft beide Größen außerdem mit einem artifiziellen ‚Bild'-Begriff: „Der Roman ist der Ort, wo das, was sonst nicht gedacht werden kann, und wo die Wirklichkeit, in der wir uns befinden und die manchmal der Wirklichkeit widerspricht, über die wir reden, in Bilder umgesetzt werden kann." Karl Ove Knausgård: Kämpfen. Roman. Aus dem Norwegischen von Paul Berf und Ulrich Sonnenberg. München: Luchterhand 2017, S. 1065. Zu Knausgårds Zyklus in autobiografischer Perspektive vgl. Beatrice Sandberg: Unter Einschluss der Öffentlichkeit oder das Vorrecht des Privaten. In: Martina Wagner-Egelhaaf (Hg.): Auto(r)fiktion. Literarische Verfahren der Selbstkonstruktion. Bielefeld: Aisthesis 2013, S. 355–377; Tholen: „meinem Leben so nahe kommen wie möglich" (Anm. 14). Im Rahmen dieses antiobjektivistischen und antiessenzialistischen Verständnisses von „Wahrheit" und „Wirklichkeit" hält Knausgård aber dennoch an der existenziellen Gültigkeit der Kategorien fest. „Die Grundidee meiner Romanreihe lautete schließlich, die Wirklichkeit zu schildern, wie sie war." Knausgård: Kämpfen (Anm. 63), S. 447. Und dies schließt die Wahrheit des Ich, die es freilich immer nur auf der „Seite des Individuums", des „schreibenden Ich" gibt, mit ein. Knausgård: Kämpfen (Anm. 63), S. 1103. Auf diesem Wege gelangt dann sogar Goethes Begriff einer ‚höheren' Wahrheit zu neuer Geltung. Besonders eindringlich gestaltet Knausgård immer wieder jene Passagen, die auf der Ebene des Persönlichen und Intimen von inneren Abgründen und dem Verhältnis zu nahestehenden Freunden und Familienangehörigen handeln. Der Status dieser Berichte entzieht sich jedoch der Dichotomie von Fakt und Fiktion. Wenn Knausgård etwa auf den letzten einhundert Seiten des Zyklus in teils schockierend offener und verletzender Weise das problematische Innenleben seiner Ehefrau Linda Boström zum Gegenstand seiner Prosa macht, dann bewegt er sich zwar auch auf den einander widersprechenden Ebenen der biografisch-faktischen Wahrheit und der romanhaften Stilisierung. Doch letztlich steht der Erzähler auch an dieser Stelle zwischen den Fronten, hebt sie gleichzeitig in gewisser Weise auf, denn nur deshalb wirkt diese ‚Wahrheit' auf den Leser so eindringlich und schmerzhaft, weil sie implizit den Anspruch erhebt, eine ‚höhere' Wahrheit zu sein, indem hier eine poetisch vertiefte, existenzielle Wahrheit über ein Menschenleben zum Ausdruck kommt. Aus dieser Verdichtung resultiert Knausgårds Poetik des „existentielle[n] Realismus", Tholen: „meinem Leben so nahe kommen wie möglich" (Anm. 14), S. 18. die dieses autobiografische Schreiben von anderen Schreibansätzen unterscheidet.

Auch wenn die Goethe'sche Kategorie des Individualmythos subjekt- und identitätspolitisch obsolet geworden ist und eine ideell und wertmäßig ‚höhere Wahrheit' kaum mehr Gegenstand der autobiografischen Schreibbewegung ist, so besteht doch nach wie vor in einer Reihe von Werken und Werkkomplexen, die eine autobiografische Grundlage besitzen, das Ziel darin, mittels einer literarisch erzeugten Mischung aus Fakt und Fiktion eine symbolische Wahrheit zu vermitteln, die auf anderem Wege, etwa jenem der reinen Fiktion, nicht zu erreichen wäre. Der Einsatz poetischer Lizenzen führt also unter Umständen wieder zu einer Art ‚höheren Wahrheit', wie auch im Falle von Andreas Maiers Roman Das Zimmer (2010), der den autobiografischen Zyklus Ortsumgehung eröffnet: Zwar nicht in einem empirischen, aber doch im symbolischen Sinne ist es Maiers Anliegen, in seinem Roman die Wahrheit über die Hauptfigur, den Onkel J., zu erzählen, sozusagen die Wahrheit des ganzen Menschen, die erst durch den Romandichter in einer poetischen restitutio in integrum zum Vorschein kommt.

Allgemein führen die Anpassungen und Modifikationen des Wahrheitsbegriff im Zeichen von ‚Post-Truth' zu einer Aufweichung der Dichotomien. Autobiografische Texte mäandrieren noch mehr als früher auf selbstverständliche Weise zwischen Faktualität und Fiktionalität. Dies gilt exemplarisch auch für die dreiteilige Autobiografie des Südafrikaners J. M. Coetzee (Boyhood. Scenes from Provincial Life, 1997; Youth. Scenes from Provincial Life II, 2002; Summertime, 2009). In zwei Teilen (Boyhood und Youth) benutzt der Autor die für die Autobiografik ungewöhnliche Erzählform der dritten Person Präsens. Das autobiografische Ich wird zum fremden Anderen, Vgl. Katja Sarkowsky: [Art.] J. M. Coetzee: Boyhood (1997) and Youth (2002). In: Martina Wagner-Egelhaaf (Hg.): Handbook of Autobiography/Autofiction. Bd. 3. Berlin/Boston: De Gruyter 2019, S. 2049–2063, hier S. 2053. Autobiografie mutiert zur „Autre-biography". Vgl. All Autobiography is Autre-biography. J. M. Coetzee interviewed by David Attwell. In: Judith Lütge Coullie u. a. (Hg.): Selves in Question. Interviews on Southern African Auto/Biography. Honolulu: University of Hawaii Press 2006, S. 213–218. Der dritte Teil, Summertime, löst sich von jeglichen konventionellen Erzählmustern ab und betreibt ein metaliterarisches Spiel mit den verschiedensten Bezügen von Wirklichkeit und Fiktion. Gleichzeitig führt dieses autobiografische Schreiben nicht in die reine, wirklichkeitslose Fiktion, wie zumindest ältere poetologische Äußerungen deutlich machen. Coetzee hält den Anspruch auf Wahrheit beziehungsweise auf Wahrhaftigkeit aufrecht. Vgl. Wagner-Egelhaaf: Autofiktion oder: Autobiographie nach der Autobiographie (Anm. 47), S. 355, die vorschlägt, im autobiografischen Diskurs zwischen Wahrheit (objektiver Wahrheit) und Wahrhaftigkeit beziehungsweise Aufrichtigkeit (Bemühen des Autors, wahrhaftig beziehungsweise aufrichtig zu sein) zu differenzieren. Während der erstgenannte Anspruch obsolet geworden ist, sind Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit nach wie vor in viele autobiografische Texte als poetologische Norm eingeschrieben. Die Autobiografie definiert er 1984 als „a kind of writing in which you tell the story of yourself as truthfully as you can, or as truthfully as you can bear to". J. M. Coetzee: Truth in Autobiography (Inaugural Lecture Oct. 3, 1984). Cape Town: University of Cape Town 1985, S. 1 (zit. n. Sarkowsky: J. M. Coetzee, Anm. 67, S. 2060). Und in einem Essay von 1985 spricht er mit Bezug auf Leo Tolstoi von der „truth-directedness" als entscheidender Größe. J. M. Coetzee: Confession and Double Thoughts: Tolstoy, Rousseau, Dostoevsky (1985). In: J. M. C.: Doubling the Point. Essays and Interviews. Hg. von David Attwell. Cambridge/London: Harvard University Press 1992, S. 252–293, hier S. 261.

3 Zusammenhangskonstruktionen

3.1 Hermeneutisches Zusammenhangsdenken

Das hermeneutische Autobiografieparadigma erklärte mit Wilhelm Dilthey die Gattung der Autobiografie zum Ort, an dem der Einzelne dem mit Sinn und Bedeutung erfüllten Lebensganzen inne werden kann: „Indem wir zurückblicken in der Erinnerung, erfassen wir den Zusammenhang der abgelaufenen Glieder des Lebensverlaufs unter der Kategorie ihrer Bedeutung." Wilhelm Dilthey: Das Erleben und die Selbstbiographie [entstanden 1906–11, gedruckt 1927]. In: Günter Niggl (Hg.): Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 21998, S. 21–32, hier S. 30. Im Gefolge dieser Aufwertung konzipierte Georg Misch die Autobiografiegeschichte als monumentale Geschichte menschlicher Subjektivität, eingeordnet in den „universalgeschichtlichen Zusammenhang der Entwicklung des menschlichen Geistes in der europäischen Kultur". Georg Misch: Begriff und Ursprung der Autobiographie [1907/1949]. In: Günter Niggl (Hg.): Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 21998, S. 33–54, hier S. 36. Von zentraler Bedeutung ist dabei der Vorgang des Erlebens beziehungsweise des Erlebnisses: Zusammenhang ist kein abstrakter Begriff, sondern eine existenzielle Erfahrung. Autor, Erzähler, Protagonist und Leser treffen sich darin, dass sie der stufenweisen Entfaltung des Lebensganzen in der eigenen beziehungsweise in der fremden Biografie inne werden. In zeitlicher wie in semantischer Hinsicht wird so unmittelbar ein emphatischer „Bedeutungszusammenhang" evident. Dilthey: Das Erleben und die Selbstbiographie (Anm. 72), S. 28. Zentrales Referenzwerk der hermeneutischen Autobiografietradition ist Goethes Dichtung und Wahrheit und ein diesem Werk zugeschriebenes Verständnis, das das Lebensganze als einen mehr oder minder sinnhaft-harmonischen Zusammenhang von Autor, Werk und Leben/Welt begreift. Tatsächlich dreht sich Goethes poetisch-reflexive Produktivität im mittleren und späten Werk immer wieder um den Zusammenhang von Ich und Welt, Autor und Werk. Die Kategorie des Zusammenhangs ist hier jedoch von Anfang an eine problematische und komplexe Größe. Vgl. Carsten Rohde: Spiegeln und Schweben. Goethes autobiographisches Schreiben. Göttingen: Wallstein 2006, S. 214–227. In Gestalt eines morphologisch-organischen Entwicklungsmodells erscheint sie lediglich zeitweise und auch dann nur in utopischer Perspektive als Richtmaß – während sie in der konservativ-bildungsbürgerlichen Rezeption des 19. Jahrhunderts als realempirisches Faktum der Goethe'schen Biografie unterstellt wird.

3.2 Modernistische Fragmentästhetik

Wenn sich im 20. Jahrhundert ein posthermeneutischer, modernistischer Autobiografiekanon herausbildet, so geschieht dies zum einen in Abgrenzung von einem mimetischen Wahrheitsverständnis, demzufolge die autobiografische Schrift mehr oder weniger unproblematisch die menschliche Vita zu reproduzieren und die Wahrheit des menschlichen Herzens auszusprechen vermöge. Vgl. Manfred Schneider: Die erkaltete Herzensschrift. Der autobiographische Text im 20. Jahrhundert. München: Hanser 1986, S. 13ff. Zum anderen treten moderne autobiografische Texte in Distanz zum hermeneutischen Zusammenhangsparadigma, das der Autobiografie einen harmonisch-einheitlichen Lebenssinn unterlegt. Die Erfahrung der Moderne ist eine andere. „I cannot make it cohere", schreibt Ezra Pound in einem seiner Cantos. Ezra Pound: Die Cantos. In der Übers. von Eva Hesse und Manfred Pfister. Hg. von Manfred Pfister und Heinz Ickstadt. Zürich/Hamburg: Arche 2012, S. 1174. Ähnlich skeptisch äußert sich Fernando Pessoa, wenn er eingangs der fiktionalen Autobiografie des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares (hinter der sich zugleich die fiktionalisierte Autobiografie des Autors verbirgt) seinen Protagonisten ein Bekenntnis zum Nicht-Bekenntnis und Nicht-Zusammenhang ablegen lässt: „Vermittels dieser Eindrücke ohne Zusammenhang und ohne den Wunsch nach einem Zusammenhang erzähle ich gleichmütig meine faktenlose Autobiographie, meine Geschichte ohne Leben. Es sind meine Bekenntnisse und, wenn ich in ihnen nichts aussage, so, weil ich nichts auszusagen habe." Fernando Pessoa: Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares. Aus dem Portugiesischen übers. von Georg Rudolf Lind. Zürich: Ammann 1985, S. 19. In der modernistischen Autobiografietradition, zu der Werke von Friedrich Nietzsche (Ecce homo, 1888), Virginia Woolf (Moments of Being, 1907–1936), Marcel Proust (À la recherche du temps perdu, 1913–1927), Walter Benjamin (Berliner Kindheit um Neunzehnhundert, 1932/1933), Michel Leiris (L'âge d'homme, 1939) und Roland Barthes (Roland Barthes par Roland Barthes, 1975) zählen, wird eine Ästhetik des Fragments zur allgemeinen Norm, die man auch unter die Überschrift ‚Entfabelung' setzen könnte:

In allen Formen des Erzählens, etwa im Roman, der Biographie und der Autobiographie, manifestiert sich in immer stärkerem Maße die Einsicht in die Realitätsunangemessenheit einer Darstellung, die, auf der chronologisch und kausalpsychologisch strukturierten, ‚organisch' sich entfaltenden Fabel basierend, Stetigkeit und Sinnhaftigkeit der historisch-gesellschaftlichen wie der individuellen Entwicklung suggeriert. Oliver Sill: Zerbrochene Spiegel. Studien zur Theorie und Praxis modernen autobiographischen Erzählens. Berlin/New York: De Gruyter 1991, S. 147.

Wie auf dem Feld der Wahrheitspolitiken kommt es jedoch auch im Bereich der Zusammenhangskonstruktionen genau besehen zu einer komplexen Revision dieser Kategorie und nicht einfach zu einer Negation und Substitution. Auf unterschiedliche Weise greifen autobiografische Texte der Gegenwart das Zusammenhangsparadigma auf und passen es in spezifischer Weise an ein „autobiographisches Begehren" (Tholen) an, das auf diesen Begriff nach wie vor elementar angewiesen ist, wenn auch die lebensphilosophisch-hermeneutische Version eines sinnhaft-harmonischen Lebenszusammenhangs kaum mehr als Antwort zu überzeugen vermag. Zusammenhang und Fragmentarität bilden so bisweilen eine komplexe Allianz, etwa in der autobiografischen Prosa des schottischen Autors John Burnside. I Put a Spell on You (2014) führt in vager chronologischer Ordnung durch das Leben des Ich-Erzählers von den 1960er-Jahren bis in die Nullerjahre. Ein erzählerischer Zusammenhang ist eher assoziativ und fragmentarisch gegeben, wie bereits der Untertitel andeutet: Several Digressions on Love and Glamour. Es sind indes gerade diese beiden Motive oder Themen, Liebe und Glamour (im Sinne von Magie, Aura), die einen alternativen Zusammenhang etablieren, in Gestalt herausgehobener, emphatisch-intensiver Erfahrungen in Liebesbeziehungen (zur Mutter, mit Frauen), die sich durch das Leben ziehen und ihm, in Koexistenz mit dem kontingenten Chaos des Lebens, eine Art Zusammenhang verleihen.

3.3 Autobiografie und Erinnerungsdiskurs

Während Georg Misch noch 1949 von einer natürlichen Überlegenheit des Autobiografen über den Biografen ausging – „Der Autobiograph verfügt über eine Kenntnis der Tatsächlichkeiten seines Lebenslaufes, die der Heterobiograph (wenn man diesen Ausdruck bilden darf) sich erst durch mühsames Studium erwerben muß und niemals so vollständig besitzen kann." Misch: Begriff und Ursprung der Autobiographie (Anm. 73), S. 40 f. –, gehört es um das Jahr 2000 zu den häufig anzutreffenden Topoi des autobiografischen Diskurses, auf die selektiven und transformativen Funktionsmechanismen des autobiografischen Gedächtnisses zu verweisen. Das „Wort ‚Autobiographie'", meint etwa Martin Walser, könne in einem naiven Sinne nur derjenige benutzen, „der von der unwillkürlichen Verklärungskraft der Sprache wenig Ahnung hat". „Man kann nicht etwas derart weit Zurückliegendes beschreiben, ohne zu erleben, daß es längst Fiktion ist – selbst wenn das alles tatsachengesättigt ist, wenn das Personen sind, die tatsächlich gelebt haben. Daß das jetzt in Sprache erwachen soll, ist eine Phantasie." „Man bleibt wunschbereit". Martin Walser über Günter Grass, das Elend des politischen Romans und die Freuden des Lesens. In: Der Spiegel, Nr. 36, 4. September 1995, S. 202–210, hier S. 210. Vgl. zur selben Problematik auch die Abschnitte unter der Überschrift „Vergangenheit als Gegenwart" in: Martin Walser: Ein springender Brunnen. Roman. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1998, S. 9–15, 121–130, 281–283. Mit Bezug auf diesen autobiografischen Roman bringt Walser den Hiatus zwischen Vergangenheit und Gegenwart und somit die prinzipielle Unmöglichkeit einer vollständigen Rekonstruktion im allerersten Satz des Buchs auf die pointierte Formel: „Solange etwas ist, ist es nicht das, was es gewesen sein wird." (S. 9) Und auch Hans Magnus Enzensberger hebt die mnemotechnischen Fallstricke und Untiefen des autobiografischen Erinnerungsprozesses hervor: „Mein Gedächtnis gleicht einem Sieb, in dem wenig hängenbleibt", heißt es an einer Stelle seines autobiografischen Rückblicks auf die 1960er-Jahre. Sein „Interesse an einer Autobiographie" lasse

zu wünschen übrig. Ich will mir gar nicht alles merken, was mich betrifft. Mit Widerwillen blättere ich in den Memoiren meiner Zeitgenossen. Ich traue ihnen nicht über den Weg. [...] Von der bewußten Lüge bis zur stillschweigenden Verbesserung, vom schlichten Irrtum bis zur raffinierten Selbstinszenierung sind die Übergänge schwer zu markieren. Hans Magnus Enzensberger: Tumult. Berlin: Suhrkamp 2014, S. 105.

Es herrscht Skepsis in weiten Teilen der neueren autobiografischen Literatur nicht nur im Hinblick auf die mnemotechnischen Kapazitäten des menschlichen Gedächtnisses. Das erinnerte Leben erweist sich aus der (Rück-)Sicht vieler Autoren als wenig linearer, vielmehr diskontinuierlicher und bunter Flickenteppich. Skeptisch blickt man daher auch auf die Kategorie des Zusammenhangs, die noch für Wilhelm Dilthey und Georg Misch im Zentrum stand. Weder das Dasein im Allgemeinen noch die individuelle Biografie im Besonderen scheinen diesen Anspruch nunmehr einlösen zu können. Charakteristisch ist eine Notiz, wie sie Michael Rutschky in seiner autobiografischen Biografie über seinen Vater festhält, dessen Antipathien sich in der Nazizeit gleichermaßen auf den Erbfeind Frankreich wie auch auf Hitlers Nazismus verteilten: „Immer wieder muss man auf die Erwartung verzichten, dass ein Bewusstsein mit seinen Meinungen und Überzeugungen ein sinnvoll, ein widerspruchsfrei geordnetes Ganzes bildet." Michael Rutschky: Das Merkbuch. Eine Vatergeschichte. Berlin: Suhrkamp 2012, S. 43. Auch aufgrund dieser Widersprüchlichkeit ist biografische Wahrheit in der neueren autobiografischen Literatur stets nur annäherungsweise einzuholen. Denn es besteht, wie im Falle Rutschkys und dessen „Merkbuch" von seinem Vater, eine prinzipielle Kluft zwischen den empirisch referenzialisierbaren Daten eines Menschenlebens (dem „Kalender"), wie sie überlieferte Aufzeichnungen und Realien dokumentieren, und dem je gelebten, konkret erfüllten Leben, Augenblick für Augenblick, geistig und körperlich, das der Biograf und auch der Autobiograf ex post durch Imagination und Konstruktion sowie durch eine Spiegelung des besonderen Lebens in den allgemeinen Zeitverhältnissen von Politik, Gesellschaft und Kultur zu rekonstruieren versuchen (dem „Roman", der den „Kalender" poetisch, fiktional-faktual supplementiert). Rutschky: Das Merkbuch (Anm. 83), S. 221. Deutlich wird vor diesem Hintergrund, dass Diltheys Zusammenhangsdenken letztlich eine utopische Idee darstellt, typisch für eine Zeit, die aus dem späthegelianischen Bedürfnis nach einer universellen Erzählung von Bedeutsamkeit und Sinn erwachsen ist. Typisch für das 20. und auch 21. Jahrhundert hingegen ist, dass Michael Rutschky sein eigenes Schreibverfahren als eine „Collage heterogener Elemente" begreift. Rutschky: Das Merkbuch (Anm. 83), S. 250. Moderne ist Collage, Konstruktion, sie ist nicht Zusammenhang, allenfalls die Konstruktion und bewusste Ausstellung von Zusammenhang, wie man sie in einigen autofiktionalen Texten beobachten kann, als fantastisches Spiel mit Zusammenhängen, deren fiktiver oder fingierter Charakter jedoch jedem Leser auf den ersten Blick klar ist.

3.4 Autobiografie als Archiv

Einmal mehr wird der autobiografische Diskurs der Spätmoderne an dieser Stelle von einem fundamentalen und offenkundig zugleich produktiven Widerspruch durchzogen. Denn trotz der allgemeinen Skepsis gegenüber der mimetischen Funktion des autobiografischen Erinnerungsvermögens übernimmt die Literatur in einigen autobiografischen Erzählprojekten zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine Archivfunktion. Sie steht im Dienste des kollektiven kulturellen Gedächtnisses und damit eines memorialen sozialkulturellen Zusammenhangs. Zur Archivfunktion der Gegenwartsliteratur vgl. auch einschlägig Moritz Baßler: Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten. München: Beck 2002, besonders S. 184–187. Der Erfolg der autobiografisch grundierten Romanzyklen von Peter Kurzeck (Das alte Jahrhundert, 1997ff.), Gerhard Henschel (Kindheitsroman, Jugendroman et cetera, 2004ff.) und Joachim Meyerhoff (Alle Toten fliegen hoch, 2011ff.) bei Publikum und Kritik hat auch zu tun mit der Fülle der in ihnen aufbewahrten Fakten und Details aus dem Alltag der jüngeren Vergangenheit. Sie verwandeln die Leserschaft in eine kulturelle Gedächtnisgemeinschaft und schaffen in Gestalt kollektiver Erinnerung Sinnzusammenhang. Dieser Aspekt des autobiografischen Erzählens war bereits im Ost-West-Diskurs nach 1989 zu beobachten, als Bestseller wie Florian Illies' Generation Golf (2000) und Jana Hensels Zonenkinder (2002) ein Bild der jüngeren bis jüngsten Zeitgeschichte auf der Grundlage autobiografischer Erfahrung zeichneten und dabei mit großem Erfolg an die nostalgischen Sehnsüchte und Affekte im Publikum appellierten. Zu nennen wären in diesem Zusammenhang außerdem Benjamin von Stuckrad-Barres Panikherz (2016) sowie einige Werke von David Wagner (Meine nachtblaue Hose, 2000; Vier Äpfel, 2009; Drüben und Drüben. Zwei deutsche Kindheiten, zusammen mit Jochen Schmidt, 2014; Der vergessliche Riese, 2019). Auch sie archivieren die jüngere deutsche Vergangenheit mit autobiografischen Mitteln, im Falle Wagners in einem teils nostalgischen Ton.

Die autobiografischen Zyklen von Henschel, Meyerhoff und teilweise auch Kurzeck setzen sich über den in Philosophie und Geisteswissenschaften dekretierten Agnostizismus in Wahrheitsfragen hinweg und vermitteln dem Leser ein realistisches, alltagsnahes und wirklichkeitssattes Bild der jüngeren Vergangenheit. Letztlich bestätigen sie damit jedoch die fundamentale Pluralität im Wahrheitsdiskurs. Zu sagen, es gibt keine Wahrheit (des Einzelnen, der biografischen Existenz), steht in keinem Widerspruch zu der Feststellung, dass es auf der Ebene der allgemeinen lebensgeschichtlichen Erfahrung viele Teilwahrheiten gibt, die es wert sind, erzählt zu werden, auch wenn sie nicht oder nur vermittelt an den existenziellen Kern eines Menschen, an seine innere Wahrheit rühren. Der ironische, teils unterhaltsam-komische Ton, der Henschels und Meyerhoffs autobiografische Romane durchzieht, besitzt im Hinblick auf das Publikum ebenfalls eine wichtige Funktion im autobiografisch-memorialen Diskurs der Gegenwart. Man könnte sagen, dass durch ihn auf kollektiver Ebene eine melancholisch-heitere Versöhnung Einzug hält und ein sozialmentales Zusammengehörigkeitsgefühl erzeugt wird, die in der Geschichte des ironischen Erzählens seit Miguel de Cervantes sonst der Zweiheit von Autor/Erzähler und Protagonist (und vermittelt darüber dem Leser) vorbehalten waren. Der unterhaltsame Erzählduktus schafft zusammen mit den sprachlichen Flapsigkeiten und Kolloquialismen ein Selbstverständigungsidiom, das insbesondere in jenen linken bis linksalternativen, linksliberalen Milieus biografische Wiedererkennungseffekte auslöst, die in der Bundesrepublik seit den 1960er-Jahren entstanden und in der Zeit um das Jahr 2000 zu einem signifikanten Bestandteil der kulturellen Öffentlichkeit geworden sind. Auch hier fungiert die autobiografische Erzählung im Grunde als Sinnnarrativ. Sie formuliert Modelle, die das einzelne Leben in einen Gesamtzusammenhang integrieren, der buchstäblich Sinn macht und so mehr oder weniger durchschnittliche Alltagsexistenzen mit einer kostbaren sozialmentalen Ressource versorgt.

Darüber hinausgehend artikuliert sich in Peter Kurzecks voluminöser, bis 2019 sieben Bände umfassender Chronik Das alte Jahrhundert ein „autobiographisches Begehren" (Tholen), das in der Moderne häufig dem Roman zugeschrieben wird: das Begehren, das Streben nach Totalität. Zu Kurzecks Œuvre in autobiografischer Hinsicht vgl. Beate Tröger: Gehen, um zu schreiben. Peter Kurzecks autobiographisches Romanprojekt. In: Hans Richard Brittnacher/Magnus Klaue (Hg.): Unterwegs. Zur Poetik des Vagabundentums im 20. Jahrhundert. Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2008, S. 261–276; Erika Schmied (Hg.): Peter Kurzeck. Der radikale Biograph. Frankfurt/M./Basel: Stroemfeld 2013; Christian Riedel: Peter Kurzecks Erzählkosmos. Idylle – Romantik – Blues. Bielefeld: Aisthesis 2017, S. 65–74. Ins Autobiografische gewendet, hat es hier das erratisch-opake Massiv des gelebten Lebens zum Gegenstand, das keine ideelle, zum Beispiel geschichtsphilosophische, oder auch narrative Synthese aufzuheben vermag. Aber es gibt ein Erzählen vor der Synthese. Es besteht bei Kurzeck in einer erzählerisch und sprachlich höchst eigenwilligen Form von autobiografischer Rekapitulation eines alltäglichen Lebensstroms. Wobei die vitalistische Metapher des Lebensstroms (élan vital) auf eine falsche Fährte führt, denn Kurzecks Prosarhythmus ist eher parataktisch-stockend, wie wenn jemand atemlos, aber zugleich mit spürbarer Hinwendung zum Detail das Leben nachbuchstabieren wollte. Und dieses Nacherzählen, das ein Neuerzählen mit dem Anspruch auf restitutio in integrum ist, zielt auf eine Art Zusammenhang, wenn es sich auch nicht, wie bei den Vertretern des hermeneutisch-idealistischen Zusammenhangsdenkens (Dilthey, Misch), um einen ‚höheren' Lebenssinn und Bedeutungszusammenhang handelt. Doch von der ersten bis zur letzten Seite steht die epische Breite bei Kurzeck im Schatten einer verborgenen Größe, die sowohl Ursprung als auch Ziel der gesamten Schreibbewegung ist. Die inkommensurable Totalität der erlebten „Zeit", Vgl. Peter Kurzeck: Der vorige Sommer und der Sommer davor. Roman. Aus dem Nachlaß hg. von Rudi Deuble und Alexander Losse. Frankfurt/M.: Schöffling 2019 (Das alte Jahrhundert 7), S. 44: „Ich ging im Wind, als ob mir alles egal sei. Den Wind auf mir. Wind im Gesicht. Ich ging, als sei ich bereits gerettet. Wenn mir nur die Zeit, verstehst du! Und ihm schnell noch erklären, was Zeit ist und daß sie mir reichen soll! Wer ich bin, warum hier und wenn es sie gibt, die richtigen Wörter dafür." In einer Projektbeschreibung von 1997: „Ich will mit diesem vierbändigen autobiografischen Roman nicht nur einen wichtigen Abschnitt meines Lebens und meiner schriftstellerischen Entwicklung erzählen und zu begreifen versuchen, sondern zugleich eine angemessene Form finden für all die unerzählten und bislang unerzählbaren Geschichten, die wir alle täglich als Alltag erleben und zeitlebens mit uns herumtragen. Darin sollte die Stadt und die Zeit lebendig werden und die zugehörigen Menschen.", S. 612 f. in all ihrer vergänglich-alltäglichen und kostbaren Momenthaftigkeit, in ihren unzähligen konkreten Details einer Mikrophysik des Daseins, stellt das eigentliche Zentrum von Kurzecks Prosa dar. Der Sog, der sich einstellt beim Lesen dieser autobiografischen Jahrhundertchronik, ist ähnlich wie bei Proust gebunden an das Phänomen der Zeit, hier genauer: der Lebenszeit, die die Autobiografie abbildet. Und wie Proust ist auch Kurzeck auf der Suche nach der verlorenen, vergangenen Zeit, richtet sich seine schriftstellerische Anstrengung darauf, diese Zeit zurückzuholen, zu verlebendigen und ihr rückwirkend durch das Erzählen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Diese besteht aber darin, nicht nur dem Dasein einen Zusammenhang einzuziehen, sondern mehr noch darin, die Textur des Daseins und die Textur der Erzählung wie zwei Seiten eines Ganzen erscheinen zu lassen. Dementsprechend ist der Schriftsteller „zuständig" „für die Vielfalt der Welt" und des Lebens, „damit nicht immerfort alles wegverschwindet". Peter Kurzeck: Antrittsrede des Stadtschreibers von Bergen-Enkheim. Gehalten am 1. September 2000. In: P. K.: Der vorige Sommer und der Sommer davor. Roman. Aus dem Nachlaß hg. von Rudi Deuble und Alexander Losse. Frankfurt/M.: Schöffling 2019 (Das alte Jahrhundert 7), S. 618–623, hier S. 622 f.

3.5 Autobiografie und Fotografie

In einigen autobiografischen Erzählungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts verbindet sich die autobiografische Recherche nach Wahrheit und Zusammenhang mit dem Familien- und Fotografiedispositiv. Zur Familie in Autobiografie und Fiktion der jüngeren Gegenwartsliteratur vgl. etwa Matthias Fiedler: Das Schweigen der Männer. Geschichte als Familiengeschichte in autobiografischen Texten von Dagmar Leupold, Stephan Wackwitz und Uwe Timm. In: Weimarer Beiträge 53 (2007), S. 5–16; Helmut Galle: Familiengeschichte und personale Identität in den transgenerationellen autobiografischen Texten von Uwe Timm, Monika Maron, Gila Lustiger und Katrin Himmler. In: Heinz-Peter Preußer/Helmut Schmitz (Hg.): Autobiografie und historische Krisenerfahrung. Heidelberg: Winter 2010, S. 245–258; Anna Rutka: Erinnern als Dialog mit biographischen Texten. Zu aktuellen Familienromanen von Uwe Timm Am Beispiel meines Bruders (2003), Wibke Bruhns Meines Vaters Land (2004) und Stephan Wackwitz Ein unsichtbares Land (2003). In: Carsten Gansel/Paweł Zimniak (Hg.): Das „Prinzip Erinnerung" in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur seit 1989. Göttingen: V&R 2010, S. 107–117; Anna-Katharina Gisbertz: Die andere Gegenwart. Zeitliche Interventionen in neueren Generationserzählungen. Heidelberg: Winter 2019. Zum Verhältnis von Autobiografie und Fotografie vgl. für den deutschsprachigen Raum: Kittner: Visuelle Autobiographien (Anm. 3), S. 101–114; Kentaro Kawashima: Autobiographie und Photographie nach 1900. Proust, Benjamin, Brinkmann, Barthes, Sebald. Bielefeld: Transcript 2011. Monika Maron (Pawels Briefe, 1999), Uwe Timm (Am Beispiel meines Bruders, 2003), Stephan Wackwitz (Ein unsichtbares Land, 2003) und Günter Grass (Die Box, 2008) beugen sich über die eigene und über fremde Lebensvergangenheiten im Bemühen, diese ebenso wahrheitsgetreu und zusammenhängend wie zugleich kritisch wiederzugeben. Fotografische Apparate und Bilder fungieren in diesem Kontext als vieldeutige und widersprüchliche Wahrheitsmedien und ermöglichen so eine kritische Reflexion der medialen Voraussetzungen von Schrift/Sprache und Bild im autobiografischen Rekonstruktionsprozess. Offen zutage liegen die konstruktivistischen, inventorischen Elemente in diesem Prozess. Geschichte, in ihrer individuellen und in ihrer überindividuellen Dimension, wird gemacht, sie wird hergestellt durch Bilder und Sprache. Andererseits gilt für alle vier Texte, dass das Erzählen um einen harten Kern empirischer Wahrheit kreist, denn alle vier Texte sind eingebettet in das katastrophische 20. Jahrhundert deutscher Geschichte. Die Kohärenzrecherchen auf biografisch-historischem Gelände führen häufig zu einem paradoxen Ergebnis, wie besonders Uwe Timms Bio-/Autobiografie über seinen Bruder verdeutlicht. Die Suche nach Erklärungen für Schwererklärbares, Nicht-Erzählbares, im konkreten Falle die Kriegsverbrechen des Bruders während der Zeit des Nationalsozialismus, endet mit dem doppelten Befund, dass bezüglich der Wahrheit über den porträtierten Bruder der Grad an Komplexität und Differenziertheit ebenso zugenommen hat wie der Grad an Undurchschaubarkeit und Nichteindeutigkeit. Die autobiografische Schrift zielt auf Wahrheit, die sich gerade darin zeigt, dass sich ihre Übersetzbarkeit in Schrift, Bild oder ein anderes Medium als unmöglich erweist oder jedenfalls sich darin immer nur ein Teil des komplexen Lebensganzen eines oder mehrerer Menschen zu enthüllen vermag. Kurzum, der Apparat des autobiografischen Schreibvorgangs, ob grafisch oder ikonisch, gleicht einer inkommensurablen „Wunderbox". Günter Grass: Die Box. Dunkelkammergeschichten. Göttingen: Steidl 2008, S. 41. Der künstlerische Gebrauch dieser „Box" kann Dinge auf magische Weise sichtbar werden lassen, wie es Grass mit der Einführung der Figur des „Knipsmalmariechen" andeutet, Grass: Die Box (Anm. 92), S. 11. einem allwissenden fotografischen Medium, das dem Schriftsteller als Co-Autorin assistiert. Aber die „Box" ist zugleich auch, und darauf spielt der Titel von Grass' Buch natürlich ebenfalls an, eine ‚black box', die, wie es im Untertitel heißt, „Dunkelkammergeschichten" produziert.

Hingegen sprach Roland Barthes bekanntlich von der „hellen Kammer": Die Fotografie ist für Barthes einerseits ein Wirklichkeits- und Wahrheitsmedium von überwältigender Evidenz. Vgl. Roland Barthes: La chambre claire. Note sur la photographie. Paris: Gallimard 1980 (dt.: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1985). Doch im Widerspruch dazu ist sie zugleich unauflösbar ins Imaginäre verstrickt. Die ersten vierzig Seiten seiner eigenen Autobiografie Roland Barthes par Roland Barthes von 1975 bestehen aus Fotografien und mehr oder weniger umfangreichen Bildkommentaren. Wie bei Uwe Timm, Günter Grass und anderen rückt auch bei Barthes das Verhältnis von Sprache und Bild in den Mittelpunkt. Welcher epistemologische Status kommt den verschiedenen abstrakten und visuellen Zeichenformen zu? Die neuere kulturwissenschaftliche Fotografieforschung handelt dieses Thema unter der Überschrift ‚Indexikalität' ab: Fotografien verweisen auf Wirklichkeit (auf den Index der Realität) oder nicht (und sind deshalb anti-indexikalisch). Für Barthes aber hängt das Bild (lat. imago, franz. image) unauflösbar mit dem Imaginären zusammen (franz. imagination, imaginaire), sosehr die Fotografie auch in ihrer punctum-Qualität eine geradezu schockierende, realistische Wirkung haben kann. Wie Timm und Grass verweist er somit ausdrücklich auch in autobiografischer Perspektive auf die Vieldeutigkeit von Fotografien. Die Frage nach dem „Wahrheitskörper" beantwortet Barthes damit, dass das Ich „immer nur als Bild" gegeben ist. Man sieht sich niemals selbst (es sei denn vermittelt, durch einen Spiegel etwa). Das Ich ist, egal in welchem Medium, „zum Imaginären verurteilt". Roland Barthes: Über mich selbst. Aus dem Französischen von Jürgen Hoch. Berlin: Matthes & Seitz 2010, S. 40. Vgl. im Zusammenhang das französische Original: „Où est votre corps de vérité? Vous êtes le seul à ne pouvoir jamais vous voir qu'en image, vous ne voyez jamais vos yeux, sinon abêtis par le regard qu'ils posent sur le miroir ou sur l'objectif [...]: même et surtout pour votre corps, vous êtes condamné à l'imaginaire." Barthes: Roland Barthes par Roland Barthes (Anm. 45), S. [120]. Ob in Form von abgedruckten Bildern (wie bei Maron, Wackwitz und weiteren autobiografisch grundierten Texten zu Beginn des 21. Jahrhunderts) Etwa bei Thomas Kapielski (Mischwald, 2009; Neue Sezessionistische Heizkörperverkleidungen, 2012) oder Rafael Horzon (Das weiße Buch, 2010). oder als diskursiver Gegenstand der literarischen Schrift (wie in den Werken von Timm und Grass): Die Fotografie verweist weder eindeutig auf Wirklichkeit noch eindeutig auf die Konstruktion von Wirklichkeit. Sie markiert vielmehr deren Komplexität, indem sie an den Leser die Frage adressiert, welche Zeichen welchen Aufschluss über ein vergangenes Leben geben könnten.

4 Therapiekonstellationen

4.1 Confessio

Die autobiografische Literatur weist insbesondere in der christlich-abendländischen Traditionslinie seit der Antike ein ausgeprägtes therapeutisches Element auf. Sein Leben zu erzählen, Bekenntnisse abzulegen, wie es Augustinus tut, verfolgt den Zweck, begangene Sünden und Fehler zu beichten und durch diesen Beichtvorgang Vergebung zu erfahren. Individualpsychologisch führt das autobiografische Erzählen so zu einer Erleichterung und Reinigung des Subjekts. Bei Augustinus und in der christlichen Tradition überhaupt findet dieses therapeutische Paradigma im Terminus der ‚Ruhe' ein begriffliches und semantisches Zentrum. Er begegnet gleich im ersten Abschnitt der Confessiones: „Denn zu dir hin hast du [Gott] uns geschaffen, und unruhig ist unser Herz, bis es ruhet in dir." („quia fecisti nos ad te et inquietum est cor nostrum, donec requiescat in te.") Augustinus: Confessiones (Anm. 18), S. 8 f. Siehe S. 14 f.: „Wer hilft mir, daß ich ruhe in dir?" („Quis mihi dabit adquiescere in te?") ‚Ruhe' beziehungsweise ein ‚ruhiges Herz' stehen hier symbolisch-metonymisch für ein ‚gutes Leben' im christlichen Sinne, das heißt ein Leben, das eingebettet ist in einen Heilszusammenhang, ein Leben, in dem das Seelenheil im Diesseits und Jenseits absolute Priorität hat. Die Ruhe in Gott und seinem Heil kontrastiert aus christlicher Sicht mit der Unruhe und dem Unheil einzelner Subjekte, die sich aus vermessener Hybris zum Mittelpunkt der Welt machen. Die auch in der Stoa zum Ideal erhobene ‚Ruhe' beziehungsweise ‚Heiterkeit' der Seele (tranquilitas animi) kann als vormodern-metaphysische Antwort auf das therapeutische Bedürfnis des Menschen nach einem verbindlichen seelischen Halt verstanden werden. Sie stellt das Einzelleben in einen sinnvollen Gesamtzusammenhang, der jede irdische Bedingtheit transzendiert und insofern absolut ist.

Bemerkenswerterweise findet sich das therapeutische Bedürfnis nach Ruhe auch bei einem weiteren Klassiker der Autobiografiegeschichte, und zwar ebenfalls an exponierter Stelle. Der Passus in Dichtung und Wahrheit, der von den „Bruchstücke[n] einer großen Konfession" spricht, zählt zu den bekanntesten und meistzitierten Worten Goethes überhaupt:

Und so begann diejenige Richtung, von der ich mein ganzes Leben über nicht abweichen konnte, nämlich dasjenige, was mich erfreute oder quälte, oder sonst beschäftigte, in ein Bild, ein Gedicht zu verwandeln und darüber mit mir selbst abzuschließen, um sowohl meine Begriffe von den äußeren Dingen zu berichtigen, als mich im Innern deshalb zu beruhigen. Die Gabe hierzu war wohl Niemand nötiger als mir, den seine Natur immerfort aus einem Extreme in das andere warf. Alles was daher von mir bekannt geworden, sind nur Bruchstücke einer großen Konfession [...]. Goethe: Dichtung und Wahrheit (Anm. 42), S. 306.

Wird hier einerseits die gesamte Dichtung zur autobiografischen Kunst erklärt, so ist auf der anderen Seite ebenso bemerkenswert, dass Ziel und Zweck dieser Anstrengung eindeutig benannt werden. Die ‚Beruhigung' ist allerdings nicht mehr in einen metaphysisch-religiösen Gesamtzusammenhang einzuordnen, in welchen das Ich aufgehoben wird, sondern sie ist nun Teil des künstlerischen Individualmythos, den Goethe Zeit seines Lebens mit einigem Aufwand betrieben hat.

4.2 Biotherapie

Wichtig ist die therapeutische Funktion des autobiografischen Erzählens. Sie kommt bei Sigmund Freud und der Psychoanalyse zum Tragen, wenn der Analysand dem Therapeuten seine Lebensgeschichte erzählt. Vgl. Eva Illouz: Saving the Modern Soul. Therapy, Emotions, and the Culture of Self-Help. Los Angeles/London: University of California Press 2008, besonders S. 171–178 („The Therapeutic Narrative of Selfhood"). Die therapeutischen Narrative des Selbst sind fast immer biografisch strukturiert und basieren auf den Lebenserzählungen der Patienten. Die Literatur bildet diese Konstellation nach, indem manche Romane der Moderne den Ich-Erzähler in die Konstruktion einer innerfiktionalen psychotherapeutischen Sitzung einbetten (zum Beispiel Italo Svevo: La coscienza di Zeno, 1923; Philip Roth: Portnoy's Complaint, 1969). Autobiografik als Therapeutik folgt in den Grundzügen Freuds psychoanalytischem Dreischritt: Erinnern, wiederholen (beziehungsweise erzählen), durcharbeiten. Vgl. Sigmund Freud: Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten [1914]. In: S. F.: Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet. Bd. 10. Hg. von Anna Freud. London: Imago Publ. 1949, S. 126–136. Psychoanalyse/-therapie und Autobiografie lassen sich wiederum als Formen der Anthropotechnik begreifen, beides sind ‚Lebensübungslehren', vgl. Peter Sloterdijk: Du mußt dein Leben ändern. Über Anthropotechnik. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2009, S 16. Auch Rachel Cusks Outline-Trilogie zeigt diese auto- beziehungsweise psychotherapeutische Anlage. Ihre drei Romane Outline (2014), Transit (2016) und Kudos (2018) waren ein internationaler Erfolg sowohl bei der Kritik wie beim Publikum, David Wagner: Um zu erzählen. Rachel Cusks Lebensromane. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 73 (2019), Nr. 836, S. 60–64. und diese Popularität mag auch zusammenhängen mit dem biotherapeutischen Zentrum: Eine weibliche Hauptfigur und Ich-Erzählerin – wie die Autorin Schriftstellerin von Beruf – hat im Laufe einiger Tage oder Wochen mehrere Begegnungen mit Personen, die sie aufgrund beruflicher Verpflichtungen oder durch Zufall trifft, in England und an verschiedenen Orten in Westeuropa. Zentraler Inhalt aller drei Bücher sind die bei diesen Begegnungen erzählten Lebensgeschichten, die die autobiografisch angelegte Ich-Erzählerin biografisch dokumentiert. Hin und wieder kommentiert die Ich-Erzählerin die Geschichten und gibt dabei auch Details aus ihrem eigenen Leben preis. Doch die meiste Zeit bleibt sie passiv im Hintergrund und wird damit zu einer Art narrativem Aufzeichnungsapparat für die Lebensgeschichten anderer, ein Medium, durch das der Leser Einblick in die persönlichen Tiefen und Intimitäten seiner Mitmenschen gewinnen kann, die sonst in der Wirklichkeit für ihn verborgen wären. Die aufgezeichneten Lebensgeschichten sind zwar grundsätzlich fiktiv, doch gleichzeitig in einem symbolischen Sinne wahr, denn sie ergeben in ihrer Abfolge und Summe ein repräsentatives Panorama dessen, was es bedeutet, in der westlichen Welt um das Jahr 2000 ein Leben zu führen und über das eigene Leben in dieser Welt nachzudenken. Es gibt in diesen Romanen keine Handlungsentwicklung im konventionellen dramatischen Sinne. Ihr Kern sind Menschen und ihre Erzählungen. Häufig besteht die Handlung aus einer einfachen Erzählsituation: Zwei, drei Figuren treffen aufeinander, sitzen zusammen, tauschen Erfahrungen miteinander aus, erzählen sich Episoden aus ihrem Leben. Die Grundsituation der Romane ist mithin sowohl hermeneutisch als auch therapeutisch. Menschen sprechen miteinander und erzählen von sich, um zu verstehen, um Sinn und eine Art Erleichterung oder Klarheit zu finden. Die Gespräche drehen sich oft um Wendepunkte im Leben und um Kernfragen menschlicher Existenz: Identität, Familie, Beruf, Geschlechterrollen, soziale und intime Beziehungen. Kurz gesagt, es geht um die psychotherapeutische Kardinalfrage, wie man sein Leben lebt und wie man ein gutes oder irgendwie befriedigendes Leben führen könnte.

Bereits vor der Outline-Trilogie ist Rachel Cusk mit A Life's Work. On Becoming a Mother (2001) und Aftermath. On Marriage and Separation (2012) als Vertreterin eines neuartigen autobiografischen Subgenres in Erscheinung getreten. Das Memoir erzählt persönliche Lebensgeschichten und Schicksale einerseits mit dem Anspruch auf journalistische, sachbuchgemäße Authentizität, andererseits als Lebensroman mit einer narrativ inszenierten Struktur. Obwohl die Bezeichnung ‚Memoir' in jüngster Vergangenheit in der literarischen und teils auch wissenschaftlichen Öffentlichkeit häufig Verwendung gefunden hat, ist ihr semantischer Gehalt in Kritik wie Forschung unscharf. Vgl. etwa Christiane Lahusen: [Art.] Memoirs. In: Martina Wagner-Egelhaaf (Hg.): Handbook of Autobiography/Autofiction. Bd. 1. Berlin/Boston: De Gruyter 2019, S. 626–635, die, meines Erachtens nicht ganz überzeugend, auch neuere Filiationen der Gattung, die in der deutschsprachigen literarischen Öffentlichkeit unter dem Terminus ‚das Memoir' firmieren, in engen Zusammenhang stellt mit dem traditionellen Genre der Memoiren (das doch aber eher der Vermittlung primär ‚äußerer' Erfahrungen und Erlebnisse dient, etwa in Memoiren von Politikern, und somit gerade nicht die Authentizität des Ich exponiert). Vgl. auch Christopher Schmidt: Das Memoir als Genrebegriff. In: Ideen aus dem Jahr 2016, die bleiben. Krieg im Netz, der Literaturnobelpreis für Songtexte, das postfaktische Zeitalter. In: Süddeutsche Zeitung, 2. Januar 2017: https://www.sueddeutsche.de/kultur/jahresrueckblick-ideen-aus-dem-jahr-2016-diebleiben-1.3317938. Während die Wahrhaftigkeit des autobiografischen Subjekts im akademischen Diskurs vielfach entschieden dekonstruiert und dementiert wird, stellt die Authentizität des Subjekts und seiner Erzählungen im Genre des Memoirs das zentrale Verkaufsargument dar. Autobiografische Authentizität wird in den postmaterialistischen Gesellschaften des Westens, die von einem hohen Maß an therapeutischer Selbst-Sorge gekennzeichnet sind, zu einer wichtigen Ressource. In einem zunehmend derealisierten, virtuellen Medienumfeld erscheint sie als ‚harte', reale Währung. Vgl. kritisch: Thomas Bauer: Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt. Stuttgart: Reclam 2018, S. 62–70 („Der Authentizitätswahn"). Allgemein auch: Michael Rössner/Heidemarie Uhl (Hg.): Renaissance der Authentizität? Über die neue Sehnsucht nach dem Ursprünglichen. Bielefeld: Transcript 2012; Erik Schilling: Authentizität. Karriere einer Sehnsucht. München: Beck 2020. Auffällig häufig handeln diese Memoirs denn auch von sozialen Problemen und Fakten, von Herkunft, Milieu und prekärer Existenz. Thematisiert werden die Zwänge angesichts von gesellschaftlichen Gegebenheiten und Traditionen, die Rollenmuster und Stigmatisierungen, die Determinationen und Unsicherheiten allgemein im sozialen Raum der Familie, des Alltags und des Berufslebens. Die Memoirs von Didier Eribon (Retours à Reims, 2009), Deborah Feldman (Unorthodox. The Scandalous Rejection of my Hasidic Roots, 2012), Édouard Louis (En finir avec Eddy Belleguele, 2014), J. D. Vance (Hillbilly Elegy. A Memoir of a Family and Culture in Crisis, 2016) und im deutschsprachigen Raum etwa von Robert Kisch (Möbelhaus. Ein Tatsachenroman, 2015) und Katja Oskamp (Marzahn mon amour. Geschichten einer Fußpflegerin, 2019) betreiben teils soziologische Analyse und üben vielfach Kritik an den sozialen Verhältnissen. Grundlage der Kritik ist jedoch nicht ein politisches Programm oder eine abstrakte Erkenntnis, sondern die Wahrhaftigkeit der erzählten Lebensgeschichte. In der Einlösung von Authentizität besteht sowohl für den Verfasser als auch für den Leser der therapeutische Gewinn dieser Form von autobiografischer Erzählung.

4.3 Autotherapeutische Tagebücher

Insbesondere das Tagebuch gewinnt in diesem Zusammenhang eine Bedeutung als autotherapeutisches Medium. Es erscheint als Verlängerung oder Entsprechung zur realen „jahrelange[n] Psychoanalyse", wie im Falle von Michael Rutschky. Vgl. Kurt Scheel: Vorwort. In: Michael Rutschky: Gegen Ende. Tagebuchaufzeichnungen 1996–2009. Zusammengestellt von Michael Rutschy und Kurt Scheel. Berlin: Berenberg 2019, S. 5–12, hier S. 8. Das Tagebuchschreiben als autotherapeutisches Unternehmen ist allerdings hier wie auch in vielen anderen Fällen der modernen Diaristik von einer Tendenz zur Negativität gekennzeichnet. Der einst von Augustinus und Goethe erstrebte Zugewinn an psychischer Stabilität bleibt aus. Besonders deutlich zeigt sich dies an einigen zeitgenössischen autobiografischen Texten, die in tagebuchartiger Form die eigene Krankheit und den Weg in den Tod protokollieren. Die diaristisch-autobiografischen Krankengeschichten von Christoph Schlingensief (So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein! Tagebuch einer Krebserkrankung, 2009), Wolfgang Herrndorf (Arbeit und Struktur, 2013), David Wagner (Leben, 2013) oder auch Péter Esterházy (Bauchspeicheldrüsentagebuch, 2017) stehen in Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Entwicklungen des Westens seit den 1960er-Jahren. Sie sind ein Spiegel der zunehmenden sozialen und kulturellen Individualisierung und der Herausbildung postmaterialistischer Werteordnungen. In diesem Kontext erzählen bemerkenswert viele autobiografische und teils auch biografische Erzählungen von der grundsätzlichen Fragilität und Kontingenz menschlicher Lebensläufe. Nicht mehr der Zusammenhang ist die bestimmende Kategorie, wie noch bei Dilthey um 1900, oder auch die wechselseitige Durchdringung von Dichtung und Wahrheit, wie bei Goethe. Und auch nicht die fundamentale Absage an alle Formen von Kohärenz und Sinn, wie im modernistisch-poststrukturalistischen Autobiografiekanon von Nietzsche bis Barthes. Stattdessen bildet eine Art reflexiver Realismus das Zentrum dieser Aufzeichnungen. Die Protagonisten berichten jenseits übergreifender Sinn- und Ordnungsmuster von ihrem Leben, und sie tun dies teils in einem realistischen, nüchternen Ton (Wagner, Herrndorf), begegnen der Krankheit aber teilweise auch mit offener Verzweiflung (Schlingensief) oder sogar mit „ontologische[r] Heiterkeit". Péter Esterházy: Bauchspeicheldrüsentagebuch. Aus dem Ungarischen von György Buda. München: Hanser 2017, S. 8. Unabhängig von der Tonlage reflektieren sie häufig auf das Verhältnis des eigenen zerbrechlich-vergänglichen Lebens zu den traditionellen und gegenwärtigen Sinnangeboten, zum Beispiel in Religion und Politik. Die therapeutische Dimension dieser Protokolle besteht daran anknüpfend in einer schreibenden Selbstbestimmung, einer diaristischen (Über-)Lebenserklärung des Ich: Das Tagebuch betreibt Faktografie, hält die nackten und zugleich kostbaren Fakten des eigenen (Über-)Lebens fest, erlangt darüber partiell Erleichterung, jedoch keine Erlösung im traditionellen, religiösen Sinne.

4.4 Familientherapeutik

Die therapeutische Motivation autobiografischen Schreibens zu Beginn des 21. Jahrhunderts wird besonders deutlich mit Blick auf das Familiennarrativ. Jede Autobiografie ist notwendigerweise auch ein Familienroman, eine Versammlung mehr oder weniger ausführlich erzählter Lebensgeschichten von Familienmitgliedern. Autobiografie als Familienrecherche betreiben in der deutschen Literatur etwa Christa Wolf mit Kindheitsmuster (1976), Monika Maron mit Pawels Briefe (1999) oder auch Stephan Wackwitz mit Ein unsichtbares Land (2003). Das therapeutische Ziel der Klarheit über das Selbst und die Herkunft dieses Selbst ist in diesen Texten gebunden an das Erzählen der Familiengeschichte.

Auch diese Geschichten sind häufig Zusammenhangserzählungen, indem sie die verstreut vorliegenden Fragmente der Überlieferung narrativ synthetisieren und so Sinn erzeugen. Grundsätzlich besteht der therapeutische Nutzen von autobiografischen Familienrecherchen in dieser nachträglichen Transponierung von Vergangenheit in einen erzählbaren Sinnzusammenhang. Mitunter kommt die therapeutische Motivation auch direkt zur Sprache, wie im Falle des internationalen Bestsellers Rien ne s'oppose à la nuit (2011; dt.: Das Lächeln meiner Mutter, 2013) der französischen Autorin Delphine de Vigan. Vgl. auch Vigans 2015 erschienenen Roman D'après une histoire vraie (dt.: Nach einer wahren Geschichte, 2016). Beide Romane fanden in Kritik und Forschung besonders unter dem Aspekt des autofiktionalen Wechselspiels von Realität und Fiktion Beachtung, vgl. etwa Gilles Castagnès: „Qu'est-ce que c'est que cette histoire?". L'autofiction selon Delphine de Vigan dans Rien ne s'oppose à la nuit et D'après une histoire vraie. In: Nottingham French Studies 58/1 (2019), S. 1–13. In der Tat überlagern sich Wirklichkeit und Fiktion in beiden Texten auf teils verwirrende Weise – im Hinblick auf die therapeutische Dimension unterstreicht dieser Umstand die Bedeutung des Mediums der Erzählung, in welchem beide Ebenen zusammenkommen und aufgehoben werden in einer therapeutischen Wirkung, die die kategorialen Widersprüche transzendiert. Obwohl das Buch im Untertitel als „Roman" deklariert wird, ist die Grundlage autobiografisch, wie sowohl aus dem paratextuellen Umfeld als auch aus Äußerungen der Autorin unmissverständlich hervorgeht. Der Text weist die Struktur einer Recherche auf, die Ich-Erzählerin befindet sich auf der Suche nach der Wahrheit der Mutter und vermittelt darüber auf der Suche nach der Wahrheit der gesamten Familie. Die Erzählerin stellt diese empirische wie erzählerische Suchbewegung immer wieder selbstreflexiv infrage und problematisiert damit auf kritische Weise Möglichkeiten und Grenzen des autobiografischen Schreibens. Trotzdem besteht kein Zweifel daran, dass das Erzählen der Lebensgeschichte der Mutter für die Nachkommen einen therapeutischen Sinn besitzt. Die Suche führt nicht zu einer eindeutigen Wahrheit, aber es tritt in ihr eine kathartische, psychotherapeutische Dimension zutage, besonders vor dem Hintergrund der an Tragödien und dunklen Momenten reichen familiären Vergangenheit:

J'écris ce livre parce que j'ai la force aujourd'hui de m'arrêter sur ce qui me traverse et parfois m'envahit, parce que je veux savoir ce que je transmets, parce que je veux cesser d'avoir peur qu'il nous arrive quelque chose comme si nous vivions sous l'emprise d'une malédiction, pouvoir profiter de ma chance, de mon énergie, de ma joie, sans penser que quelque chose de terrible va nous anéantir et que la douleur, toujours, nous attendra dans l'ombre. Delphine de Vigan: Rien ne s'oppose à la nuit. Roman. Paris: JC Lattès 2011, S. 297 f. („Ich schreibe dieses Buch, weil ich jetzt die Kraft habe, mich mit dem zu befassen, was durch mich hindurchgeht und mich manchmal auch überwältigt, weil ich wissen will, was ich weitergebe, weil ich aufhören will, Angst zu haben, dass uns etwas geschieht, als lebten wir unter einem Fluch, weil ich mein Glück, meine Energie, meine Freude genießen will, ohne zu denken, dass uns etwas Schreckliches vernichten wird und dass der Schmerz immer im Dunkeln auf uns wartet." Delphine de Vigan: Das Lächeln meiner Mutter. Roman. Aus dem Französischen von Doris Heinemann. München: Droemer Knaur 2013, S. 259).

Typisch für die psychotherapeutisch-narzisstische Kultur der Jahrtausendwende ist die explizite Ausstellung und Reflexion der eigenen Gefühle, besonders der Schmerzen und Schwächen: „Quoi que je dise et fanfaronne, il y a une douleur à se replonger dans ces souvenirs, à faire resurgir ce qui s'est dilué, effacé, ce qui a été recouvert." Vigan: Rien ne s'oppose à la nuit (Anm. 107), S. 349 („Was immer ich behaupte und wie sehr ich auch großtue, es ist schmerzhaft, wieder in diese Erinnerungen einzutauchen, wieder an die Oberfläche zu holen, was verdünnt, weggewischt, bedeckt war." Vigan: Das Lächeln meiner Mutter [Anm. 107], S. 305). Der (auto-)biografische Rekonstruktionsversuch verwendet nicht nur hier auffällig häufig Begriffe und Konzepte des psychotherapeutischen Diskurses. Das Auf und Ab des Lebensverlaufs, die Krisen und Wendepunkte sind überwölbt von einer therapeutischen Atmosphäre und eingefügt in eine teleologische Dramaturgie: „Ce fut un combat", heißt es etwa über die Aufenthalte der Mutter in psychiatrischen Einrichtungen gegen Ende ihres Lebens, „ce fut une longue et progressive remontée vers la lumière, ce fut un incroyable tour de force, une spectaculaire leçon de vie, ce fut une renaissance." Vigan: Rien ne s'oppose à la nuit (Anm. 107), S. 356 („Es war ein Kampf, ein langes, schrittweises Auftauchen zurück ans Licht, eine unglaubliche Leistung, eine spektakuläre Lektion im Leben, es war eine Wiedergeburt." Vigan: Das Lächeln meiner Mutter [Anm. 107], S. 311). Auch auf der Ebene der Rezeption artikuliert sich um das Jahr 2000 ein spezifischer Erzählton im Diskurs über Biografie und Autobiografie, der emotionale Betroffenheit signalisiert. Eine bestimmte Terminologie findet Verbreitung, in der Eigenschaftswörter wie ‚authentisch' und ‚persönlich' eindeutig positiv konnotiert sind. Vgl. denn auch den Blurb der Kritikerin Christine Westermann, der den Klappentext der deutschen Taschenbuchausgabe von Annie Ernaux' Die Jahre aus dem Jahr 2019 ziert: „Ein sehr persönliches Buch, eine Zeitreise in meine Kindheit, meine Jugend... Sehr zu empfehlen!" Zur „language of therapy" aus kultursoziologischer Perspektive: Illouz: Saving the Modern Soul (Anm. 99), S. 12–16 („Therapy as a New Emotional Style") et passim. Das Erzählen (von sich) ähnelt einem (auto-)psychotherapeutischen Akt: in sich gehen, wiederholen, durcharbeiten und so weiter. Deutlich werden der Exhibitionismus, die Selbst-Ausstellung des Ich und seiner persönlichen, intimen Gedanken und Gefühle, wie sie auch Karl Ove Knausgårds bereits besprochenen Min Kamp-Zyklus kennzeichnen. Hier wie dort lässt sich dieses Erzählen als autobiografisch-narrative Verzweigung von Entwicklungen in der Subjektgeschichte westlicher Gesellschaften begreifen, die im 20. Jahrhundert und besonders seit den 1960er-Jahren dazu geführt haben, dass das Ich in zunehmendem Maße auf breiter Basis (und nicht nur in einer verschwindend kleinen künstlerisch-geistigen Elite wie um 1800 und um 1900) in seiner tiefenpsychologischen Eigenheit und Struktur explizit wird.

5 Das autobiografische Versprechen

Was ist zu Beginn des 21. Jahrhunderts die wichtigste Funktion von autobiografischer Literatur für das literarische Publikum? Warum lesen nicht nur professionelle Kritiker und Wissenschaftler, sondern viele andere kulturell Interessierte Autobiografien? Wie Romane formulieren Autobiografien das Versprechen eines intensiven Eintauchens in ein fremdes Leben, in eine fremde Welt. Autobiografien und auch Biografien zeichnen sich dadurch aus, dass sie in besonderer Weise immersive Texttypen sind. Aber im Gegensatz zum Roman basiert das immersive Leseerlebnis einer Autobiografie in der Regel auf einem faktischen, empirischen Kern. Trotz der Tendenz zu Derealisierung und Fiktionalisierung im allgemeinen kulturellen Diskurs westlicher Gesellschaften wie auch in der Epistemologie der Geisteswissenschaften ist ein Großteil der Autobiografik nach wie vor an die Geschichtlichkeit, Weltlichkeit und Zeitlichkeit der Existenz gebunden. Bestimmte Elemente der Biografie wiederholen sich und bilden eine überzeitliche Struktur – Kindheit, Jugend, Elternhaus, Familie, erste Freundschaften, erste Bildungserlebnisse und so weiter. Doch zugleich sind diese Lebenserfahrungen eingewoben in die konkrete Textur historischer Ereignisse, sodass etwa in Bruce Springsteens Autobiografie Born to Run (2016) in der Schilderung des individuellen Erlebnisses von Doo Wop und Rock 'n' Roll in den 1960er-Jahren in den USA die allgemeinen kulturellen Umbrüche der Zeit durchscheinen. Vgl. Bruce Springsteen: Born to Run. Die Autobiografie. Aus dem Amerikanischen von Teja Schwaner u. a. München: Heyne 2016, S. 97-–156. Paradoxerweise verleiht das überindividuelle, zeitgebunden-historische Wissen, das in Autobiografien enthalten ist, dem Erzählinhalt seine individuellen und unvergleichlichen Konturen. Denn es ist immer noch dieses eine, besondere Leben, das die historischen Erfahrungen macht. Sowohl in der Wahrnehmung des autobiografischen Subjekts als auch in jener der Leser erscheint die biografische Erfahrung als etwas Einzigartiges, Unwiederbringliches und damit für die Identität Wertvolles. Der Erfolg moderner Autobiografien rührt mit anderen Worten wesentlich daher, dass sie die Form bereitstellen für etwas, das das westliche Dasein in seiner Selbstbeschreibung in zentraler Weise ausmacht, nämlich die Individualisierung von Erfahrung. Vgl. Michael Rutschky: Erfahrungshunger. Ein Essay über die siebziger Jahre. Frankfurt/M.: Fischer 1982 [zuerst: 1980], der diese Dimension besonders betont und mit Blick auf Autobiografien und das autobiografische Schreiben der 1970er-Jahre festhält: „Erfahrung wollten sie formulieren, nicht Theorie" (S. 195). Aus soziologischer Sicht vgl. auch Thomas Kron/Martin Horáček: Individualisierung. Bielefeld: Transcript 2009. Wie im Falle anderer zentraler Entwicklungsvektoren moderner Gesellschaften verläuft der Prozess der Individualisierung jedoch nicht linear und progressiv, sondern widerspruchsreich und komplex. Er geht unter anderem mit Normierungs- und Standardisierungstendenzen einher, die sich etwa im psychotherapeutisch-industriellen Komplex in der Konjunktur von – auch biografisch konnotierten – allgemeinen ‚Glücksformeln' widerspiegeln. Und Teil der widersprüchlichen Gemengelage ist auch, dass die literarische (Auto-)Biografik Lebensgeschichten gerade in Auseinandersetzung mit diesen überindividuellen Diskursen und Programmen entwirft, die Biografien oder biografische Paradigmen notwendigerweise schematisch modellieren. Lebens- und Wirklichkeitsnähe autobiografischer Texte sind dabei so etwas wie ein Alleinstellungsmerkmal und zugleich ein wesentlicher Grund für den Publikumserfolg dieses literarischen Genres. Vgl. Walter Hinck: Selbstannäherungen. Autobiographien im 20. Jahrhundert von Elias Canetti bis Marcel Reich-Ranicki. Düsseldorf/Zürich: Artemis & Winkler 2004, S. 10: „Vor naivem Lesen und Vertrauen warnt die Skepsis der Diskursanalyse Foucaults und der Dekonstruktion Derridas gegen den traditionellen Autor- und Werkbegriff (genauer Paul de Man: Autobiography as De-Facement, 1979), warnen die Argumente des Zweifels an autobiographischer Wahrheitsfindung (Manfred Schneider: Die erkaltete Herzensschrift, 1986). Unangefochten aber bleibt der Anspruch autobiographischer Prosa, unter allen Erzählformen die lebensnächste zu sein." Autobiografische Texte verweisen in ihrer erzählerischen und thematischen Vielfalt auf die Komplexität biografischer Strukturen und Verläufe. Sie öffnen den Blick auf Lebenswege, die gleichzeitig einzigartig sind und anschlussfähig an den Vorstellungshorizont der Leser. Und sie bieten in narrativer Form eine aufs Individuum fokussierte Perspektive von Lebensgeschichte in Abgrenzung von allgemeinen Modellen. Vgl. Peter Braun/Bernd Stiegler: Die Lebensgeschichte als kulturelles Muster. Zur Einführung. In: P. B./B. S. (Hg.): Literatur als Lebensgeschichte. Biographisches Erzählen von der Moderne bis zur Gegenwart. Bielefeld: Transcript 2012, S. 9–20, hier S. 14: Da entbunden „von einer unmittelbar pragmatischen Funktion", werden „literarische Lebensgeschichten" zu einem „Medium des Nachdenkens und der gegenseitigen Verständigung über das Leben".

Romanhaft sind diese Erzählungen nicht im herkömmlichen Sinne. Zwar fällt auf, dass zahlreiche Werke mit autobiografischem Hintergrund die Bezeichnung „Roman" im Titel beziehungsweise Untertitel mit sich führen. Doch weder bei Peter Kurzeck noch bei Karl Ove Knausgård oder Delphine de Vigan ist diese Kennzeichnung im Sinne einer Markierung für ein frei erfundenes Werk, einen rein fiktionalen Text mit romanhaften Handlungsstrukturen zu verstehen. Eher signalisiert sie die Erkenntnisskepsis und das Wissen um die Unmöglichkeit, die Wahrheit eines oder auch mehrerer Menschenleben vollumfänglich zu Papier zu bringen. Skrupulös thematisieren etwa Knausgård und Vigan immer wieder die eigene Erzählposition und weitere perspektivische Verzerrungen beim Blick auf die eigene und auf fremde Biografien. Im Positiven resultiert daraus auch ein Freiraum, die Lizenz, ein Menschenleben künstlerisch zu gestalten – wo doch die zentralen Parameter in ihm von vornherein auf keiner substanziellen Wahrheit gründen. Wenn die biografische Wahrheit und der biografische Zusammenhang in die Brüche gehen, dann kommt es desto mehr darauf an, die Biografie zu erzählen, also in einen Modus zu überführen, der sich gewissermaßen zwischen den Linien bewegt, zwischen eindeutigen moralischen Werturteilen, zwischen kategorialen Gegensätzen wie Wahrheit und Fiktion, Zusammenhang und Fragmentarität. Das therapeutische wie auch das autobiografische Begehren der Gegenwart richtet sich damit letztlich auf einen literarischen oder auch ästhetischen – zum Beispiel filmischen, künstlerischen, digitalen – Repräsentationsmodus, der der biografischen Inkommensurabilität in nicht-eindeutiger und möglichst komplexer sowie zugleich in umfassender Weise gerecht zu werden verspricht.

By Carsten Rohde

Reported by Author

Titel:
Wahrheit – Zusammenhang – Therapie: Entwicklungstendenzen autobiografischen Schreibens zu Beginn des 21. Jahrhunderts.
Autor/in / Beteiligte Person: Rohde, Carsten
Link:
Zeitschrift: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Jg. 46 (2021-06-01), Heft 1, S. 66-108
Veröffentlichung: 2021
Medientyp: academicJournal
ISSN: 0340-4528 (print)
DOI: 10.1515/iasl-2021-0004
Schlagwort:
  • AUTOBIOGRAPHY
  • AESTHETICS
  • AESTHETIC experience
  • BIOGRAPHICAL sources
  • BIOGRAPHY (Literary form)
  • Subjects: AUTOBIOGRAPHY AESTHETICS AESTHETIC experience BIOGRAPHICAL sources BIOGRAPHY (Literary form)
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Alternate Title: Truth - Context - Therapy: Trends in Autobiographical Writing at the Beginning of the 21st Century.
  • Language: German
  • Document Type: Article
  • Author Affiliations: 1 = Sun Yat-sen University Guangzhou, School of Foreign Languages, 135 West Xingang Road, Guangzhou, CHN-510275 China
  • Full Text Word Count: 16890

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