In the first decades of the 20th century, literary studies in the history of ideas (Geistesgeschichte) experimented with sociological and socio-historical perspectives and concepts in search of a stable basis. In doing so, it reacts to the problems of historical-philological research that focuses on social aspects of literary change. In the competition for the sovereignty of interpretation, holistic(national, ethnic) concepts also prevail against empirical findings.
Geist oder Gesellschaft – da fehlt noch ein Fragezeichen, auf das dann mehr oder minder kluge Überlegungen antworten. Das hört sich allerdings arg nach einem akademischen Besinnungsaufsatz an, nach einem ausgewogenen Beitrag voller Bildungswissen, ebenso gelehrt wie vermutlich etwas angestaubt und langweilig. Ob eine solche Erwartung zur Lektüre verführen kann? Zweifel sind angebracht. Versuchen wir also zunächst einmal Spannung zu erzeugen, indem wir die semantischen Kolosse Geist und Gesellschaft durch andere Begriffe ähnlichen Kalibers ersetzen, ohne die grammatische Struktur zu verändern. Ihre Reihenfolge muss umgestellt werden, weil es der Wohllaut verlangt. Unser Thema gewinnt an Dramatik, wenn es heißt: Geld oder Leben?
Das ist eine Frage, die einen nicht kalt lässt, die eine Entscheidung verlangt. Und die ist dringlich, denn man spürt das Messer an der Kehle oder den Revolverlauf auf der Brust. Der Magen krampft sich zusammen, die Brust wird eng. Die Augen flackern, der Mundwinkel zuckt, ein Speicheltropfen rinnt herab. Als sich die Hand vorsichtig an das Portemonnaie in der Innentasche herantastet, rückt das Messer der Kehle näher, wackelt der Revolverlauf bedenklich. – Ob 30 Euro reichen? Mehr ist heute nicht drin, hätte den Roman doch nicht kaufen sollen. Ob er eine Kreditkarte akzeptiert? – Warum mache ich hier eigentlich diesen Scheiß? Hätte ich doch nur den Job an der Uni behalten, aber dann hätte ich auch diesen verflixten Aufsatz schreiben müssen...
Die gleiche Situation lässt sich auch ganz anders beschreiben. Wenn man sich nämlich eine hinreichend große Zahl solcher Fälle anschaut, springt die Rationalität der Handlungen ins Auge. Es geht um eine Transaktion von Geld. Die Umverteilung geschieht nicht freiwillig: Es bedarf der Gewaltandrohung als Motivation. Für beide Seiten ist das keine ernsthafte Option. Weder will das Opfer sein Leben verlieren, noch der Täter es ihm nehmen, würde er sich doch dann einem signifikant höheren Verfolgungsdruck und Strafmaß aussetzen. Ein rationales rollenkonformes Verhalten verlangt daher die zügige Übergabe des Geldes, das am sichersten an einer leicht zugänglichen Stelle bereitzuhalten ist. Die angemessene Höhe des Betrages, die bei der Forderung ja im Ungewissen gehalten wird, berechnet sich nach den aktuellen Preisen auf dem Drogenmarkt. So ist durch ein regelgeleitetes Verhalten eine reibungslose Bewältigung selbst zunächst bedrohlicher Situationen zu allseitiger Erleichterung zu gewährleisten.
Die gleiche soziale Konstellation, zwei sehr unterschiedliche Beschreibungen. Die erste akzentuiert das Besondere, das Singuläre mit konkreten Details, verbunden mit Emotionen und individuellen Motivationen. Dadurch erscheint die Situation existenzieller, unberechenbarer und bedrohlicher. Die andere geht von häufigen Wiederholungen des Sachverhalts aus, betreibt eine Rationalisierung durch Generalisierung und Abstraktion, arbeitet dadurch die Handlungs- und Rollenmuster heraus und erkennt vernünftige Regeln für solche Situationen. Man kann nicht nur Typen von Betrachtungsweisen unterscheiden, sondern sie Wissenschaften mit ihren Methoden und Gegenstandsbereichen zuordnen. Man erhält dann zwei Wissenschaftsklassen, wobei man die erste Beschreibung unschwer in die Sektion der philologisch-historischen Disziplinen, also Geschichte und Literatur, gruppieren würde, während man die andere, die soziologische, wohl eher der zweiten, der naturwissenschaftlichen Klasse zurechnen dürfte. Ob man solche Zurechnungen auch anders, überzeugender vornehmen kann, mit welchen Begründungen das geschieht und inwiefern sie plausibel sind, soll uns hier nicht interessieren.
Wichtig ist mir vielmehr, dass die Unterscheidung eine Dichotomie etabliert, die für eine Anschluss- oder Resonanzfähigkeit in der wissenschaftlichen Kommunikation sorgt. Die beiden Positionen werden auseinandergezogen, profilieren sich jeweils über die Gegenseite und strukturieren so das Feld. Dabei spielt der Aufstieg zum einen von Naturwissenschaften und Technik, zum anderen von Industrialisierung und Arbeiterbewegung im gesellschaftlichen Modernisierungsprozess um 1900 eine zentrale Rolle. Beides setzt die zuvor dominierenden philologisch-historischen Wissenschaften unter Druck. Beide Bedrohungen führt der Historiker Ernst Bernheim 1908 im Vorwort zu seinem Lehrbuch der Historischen Methode in der Bezeichnung: „diese sozialistisch-naturwissenschaftliche Auffassung" zusammen, als er auf die Herausforderung der französischen Soziologie am Ende des 19. Jahrhunderts zu sprechen kommt. Und noch 1931 hält Benno von Wiese die „Gleichsetzung der Soziologie mit einer politisch-marxistischen Soziologie" für derart verbreitet unter seinen Fachkollegen, dass ihnen „jede Frage nach dem gesellschaftlichen Zusammenhang gleich verdächtig" erscheine, weil sie „die Literatursoziologie nur als Propaganda-Abteilung der marxistischen Geschichtsphilosophie" ansehen. Auch wenn dies eher selten so explizit gesagt wurde, sollte man eine solche Äußerung im Hinterkopf behalten, zumal sozialistische oder marxistische Positionen an den deutschsprachigen Universitäten so gut wie nicht vertreten waren. Um es pointiert zu formulieren: Die gesellschaftliche Mitte ist der linke Rand des akademischen Milieus im Deutschland der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, und in diesem Milieu bewegen sich die Konzepte, die im Folgenden behandelt werden.
Fragt man in diesem Umfeld nach ‚Geld oder Leben'?, dann fällt die Entscheidung für das Leben als Unterbau des Geistes derart eindeutig aus, dass selbst ein Hans Blumenberg nicht weiß, „ob Georg Simmel mit seiner ‚Philosophie des Geldes' jemals Resonanz zuteil geworden wäre, wenn er nicht schließlich noch die Lebensphilosophie erfunden hätte". Gegenüber dem Geld erweist sich das Leben als deutlich überlegen, denn die beiden Kategorien sind keineswegs gleichgewichtig. Auf dieser Asymmetrie beruht ja auch die Rationalität der Entscheidung und damit die Zivilisierung des Raubgeschäfts. Insofern handelt es sich um einen Sieg der am Geld orientierten Denkform. Doch dafür liefert das Leben den notwendigen Rahmen. Ohne Leben würde das alles nicht funktionieren. Diese Kategorie kann einen plausiblen Anspruch auf Totalität erheben, was beim Geld einen weit größeren Begründungsaufwand erfordern würde.
Anders verhält es sich, wenn wir zu unserer Ausgangsfrage zurückkehren: Geist oder Gesellschaft? Hier ist eine grundsätzliche Symmetrie gegeben. Der Geist vermag die Gesellschaft zu umfassen – wie die Gesellschaft den Geist. Man kann das Pferd also von der einen wie von der anderen Seite aufzäumen. Bis in die 1960er-Jahre setzten die germanistischen Literaturwissenschaftler mehrheitlich auf den Geist, danach auf die Gesellschaft, in beiden Fällen zumeist ohne Verzicht auf die Totalitätsansprüche. Im 19. und noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist die Dominanz der Geistesgeschichte (im weiteren Sinne) in der deutschsprachigen akademischen Welt noch fest etabliert. Dagegen erscheint die Soziologie als Sachwalter der Gesellschaft als ein Newcomer, der jedoch attraktive Forschungsperspektiven und Erklärungsangebote auch für philologisch-historische Problemlagen anzubieten hat. Um 1930 halten bereits manche die Kultur- und Literatursoziologie für einen möglichen Nachfolger der Geistesgeschichte als transdisziplinäres Rahmenkonzept. Wie und in welchen Bereichen damals vornehmlich in der germanistischen Literaturwissenschaft im deutschsprachigen Raum mit soziologischen oder sozialgeschichtlichen Angeboten experimentiert wurde, wie und mit welcher Resonanz im Fach soziale ‚Wesen' oder Akteure konstruiert wurden, soll im Folgenden untersucht werden.
Auf den doppelten Druck, den der Erfolg der Naturwissenschaften wie die gesellschaftlichen Veränderungen ausüben, reagieren die historisch-philologischen Wissenschaften mit gesteigerter Selbstreflexion, wissenschaftsgeschichtlicher Selbstaufklärung und auch einer Hinwendung zu als im weitesten Sinne soziologisch zu charakterisierenden Konzepten. In diesen Kontext gehört etwa Johann Goldfriedrichs Monografie über Die historische Ideenlehre in Deutschland. Der Verfasser untersucht „einen Fundamentalbegriff" der „historiographischen Logik", der von Immanuel Kant, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling und Georg Wilhelm Friedrich Hegel begründet wurde, bevor besonders Wilhelm von Humboldt ihn als transzendent wirkende Kraft in die historische Forschung und Darstellung einführte. Die Ideen stellen den Zusammenhang zwischen den einzelnen Geschehnissen her; sie zu veranschaulichen, ist die Aufgabe des Geschichtsschreibers. Was zunächst als metaphysisches Erklärungsprinzip gedacht war, wurde im weiteren Verlaufe des 19. Jahrhunderts als empirisch zu erforschende, immanente Realität gedeutet und konnte um 1900 schließlich als psychisches, als sozialpsychisches Phänomen begriffen werden. Leicht erkennbares Telos dieser Darstellung von Goldfriedrich ist Karl Lamprechts Auffassung einer Kulturgeschichte, die als frühe Form von Sozialgeschichte oder historischer Soziologie zu betrachten ist. Gegen die politische Ereignisgeschichte zielt Lamprechts Konzept auf eine „Geschichte der Lebensformen vergesellschafteter Menschen". Lamprecht selbst spricht von „Volksseele", gemeint ist so etwas wie eine Mentalität oder der psychische Gesamthabitus einer Nation. Geschichte wird damit auf eine breite soziale Basis gestellt, die die gesellschaftlichen Teilbereiche Wirtschaft, Politik, Recht, Kultur und so weiter übergreifend fundiert. Dass dabei eine Fokussierung auf die Nation erfolgt, dass etwa Goldfriedrich in seiner Monografie die Einflüsse der französischen Soziologie ignoriert, dass er – wie auch Lamprecht – eine nationale Eigenlogik akzentuiert, wie Ernst Bernheim kritisiert, sei als grundlegendes Problem wenigstens angemerkt.
Für die frühe literaturwissenschaftliche Geistesgeschichte um 1900 war Karl Lamprecht einer der wichtigsten Ideengeber, der erst nach 1910 durch Wilhelm Dilthey erfolgreich verdrängt wurde. Zugespitzt kann man vielleicht sagen: Aus den Ideen wird die Volksseele, dann tritt der Geist die Vorherrschaft an. An drei Monografien, die im gleichen Jahr 1909 erschienen sind und die auf Lamprechts Konzept zurückgreifen, möchte ich zunächst das sozialliterarische Anregungspotenzial für die Forschung und daraus resultierende Probleme kurz veranschaulichen.
1909 erschien der dritte Band der von Friedrich Kapp begonnenen Geschichte des deutschen Buchhandels; er behandelt den Zeitraum von 1740 bis 1804. Der Verfasser ist der uns schon bekannte Johann Goldfriedrich. Er schreibt Buchhandelsgeschichte am Leitfaden des literarischen Marktes. Dabei geht er davon aus, dass die Produktion und Distribution von Büchern auf Bedürfnisse reagieren, die er als Ausdruck der psychischen Befindlichkeit der Menschen begreift. Insofern erlauben das Wachstum und die Binnendifferenzierung des Buchmarktes Aussagen über die Entwicklung der Volksseele, das heißt mentaler Einstellungen. Solche Erkenntnisse lassen sich statistisch absichern, etwa wenn man die Veränderungen einzelner Sparten im Rahmen des Gesamtangebots auf der Grundlage der Messkataloge auswertet. Goldfriedrich gelingt auf diese Weise eine bemerkenswerte Beschreibung einer sich intensivierenden und verdichtenden Kommunikation im 18. Jahrhundert. Das „Wachstum der schriftlich sich fixierenden Arbeit" geht mit einer Veränderung der wirtschaftlichen Formen einher. Der über Jahrhunderte bewährte Tauschhandel weicht dem auf Zahlungen basierenden Nettohandel, und die damit verbundene Geldwirtschaft entfaltet ihre differenzierende Kraft:
Von der einen Ursache des Wachstums wirtschaftlicher Kraft her wurde so eine ganze Welt der Einheit und Geschlossenheit, des gemeinsamen kollegialischen und patriarchalischen Zuschnitts zerrissen und zertrümmert; und es gibt vielleicht wenige vom Geiste der Geschichte so klar und durchsichtig aufgebaute Einzelbeispiele dafür, wie jenes Wachstum durch das Medium sich ändernder Formen hindurch sozial unbewußte Verhältnisse zu neuen Bewußtseins- und Lebensformen entbindet.
Die Trennung von Verlag und Sortiment, von Herstellung und Vertrieb begünstigt wiederum die Expansion des Buchmarktes und damit das „außerordentlich rasche und starke Wachstum des Bewußtseins, der Reflexion, der Kritik", „ein außerordentlich vertieftes Gefühlsleben [...], eine außerordentlich veränderte seelische Haltung", und speziell eine „beispiellose Vertiefung, Erhöhung, Verinnerlichung des buchhändlerischen Selbstbewußtseins" um 1800. Diese seelische Haltung entspricht dem frühsubjektivistischen Kulturzeitalter, wie es Lamprecht konzipiert hat.
Goldfriedrich schreibt auf breiter empirischer Quellenbasis ein Standardwerk der Buchhandelsgeschichte, auf das die Sozialgeschichte der Literatur seit den 1960er-Jahren immer wieder zurückgreifen wird. Man folgte ihm dabei auch lange in der Fixierung auf einen nationalen (genauer: nationalsprachlichen) Markt und auf die bürgerliche Kultur; sowohl die lateinische Produktion der Frühen Neuzeit wie die populären Lesestoffe wurden dabei vernachlässigt. Doch dieses Standardwerk wurde in der damaligen Literaturwissenschaft, soweit ich sehe, überhaupt nicht rezipiert. Sein Erscheinen wird zwar im Fach in den Jahresberichten für neuere deutsche Literaturgeschichte bibliografisch angezeigt, jedoch keine einzige Rezension im disziplinären Kontext. Lediglich in einem Forschungsbericht wurden die Fachgenossen mit einem Satz „auf das dem Literarhistoriker werte Buch" hingewiesen, „das die materiellen Fundamente der Schriftstellerei unserer klassischen Perioden aktenmässig darstellt". Offensichtlich bestand kein Bedarf im Fach, sich mit diesen sozio-ökonomischen Voraussetzungen historischer Literaturproduktion, -distribution und -rezeption zu befassen.
Ebenfalls auf der Grundlage von Lamprechts Geschichtstheorie entstand die Leipziger Dissertation von Fritz Brüggemann über Die Ironie als entwicklungsgeschichtliches Moment. Ein Beitrag zur Vorgeschichte der Romantik. Der Verfasser hat sein Konzept später als ‚psychogenetische Literaturwissenschaft' bezeichnet. Sein Interesse richtet sich auf eine „überpersönliche, zeitcharakteristische seelische Fortentwicklung der Menschheit". Als Quellen für eine solche Fragestellung bieten sich dem Literaturwissenschaftler Autobiografien und autobiografische Romane an. Brüggemann arbeitet verschiedene Entwicklungsstufen in der ‚frühsubjektivistischen Epoche' (Lamprecht) an vier Romanen heraus, nämlich Johann Wolfgang Goethes Die Leiden des jungen Werthers, Friedrich Heinrich Jacobis Woldemar, Karl Philipp Moritz' Anton Reiser und Ludwig Tiecks Geschichte des Herrn William Lovell. Diese Literaturauswahl überzeugt den Rezensenten,
aber sie ist auch eine sehr enge: über den kreis der genannten bücher wird kein blick getan, erst an der fünfundzwangzigfachen anzahl benutzter quellen ließe sich ein plausibles resultat gewinnen, alles was bis jetzt sich ergeben hat, ist hypothese.
Hier wird ein besonderes Problem der Literaturwissenschaft deutlich. Wenn sie sich an der Höhenkammliteratur orientiert (das heißt am Kunstsystem), dann hat sie es immer mit einer sehr kleinen Zahl ausgewählter Werke zu tun. Mit Lamprecht gesprochen, ist die Literaturwissenschaft auf ‚Eminenz' fokussiert, auf individuelle Spitzenleistungen, eben nicht auf jene Breite, die sein kollektivistisches Konzept verlangt.
Will man den eigenen Gegenstandsbereich auf eine solidere, das heißt quantitativ erheblich erweiterte Basis stellen, dann muss man den Literaturbegriff erweitern, etwa indem man andere Textsorten oder die Unterhaltungsliteratur einbezieht. Genau das macht Ferdinand Josef Schneider in seiner ebenfalls 1909 erschienenen Prolegomena zur Romantik, die sich mit der Geheimbundmystik von der Renaissance bis zur Spätaufklärung beschäftigt. Auch er bezieht sich auf Lamprecht (zudem auf Friedrich Nietzsche und Wilhelm Dilthey). Sein primäres Ziel ist es, eine ununterbrochene Tradition mystischen Gedankenguts vom Mittelalter bis zur Romantik nachzuweisen. Dabei dienen ihm die Geheimbundromane des späten 18. Jahrhunderts als eine Art Schlussstein seiner Konstruktion. Die Unterhaltungsliteratur versteht Schneider als Ausdruck einer unermüdlich tätigen sozialen Fantasie, die beständig an der Semantik arbeitet, sie variiert, sie an aktuelle Bedürfnisse anpasst und auf diese Weise tradiert. Diese gesellschaftliche Einbildungskraft wird nun nicht verklärt (etwa als ein reiner Quell aus den Tiefen der Volksseele im Sinne einer romantischen Volkspoesie-Konzeption), sondern dort, wo sie ästhetisch mangelhafte Produkte erzeugt – und das ist eher die Regel –, entsprechend scharf verurteilt. Denn Schneider hält an den konventionellen Wertmaßstäben fest, die bei ihm aber nicht zur üblichen Exklusion der Unterhaltungsliteratur aus dem Gegenstandsbereich führen. Vielmehr unterscheidet er verschiedene ästhetische Niveaus oder – mit Bezug auf die seelischen Anlagen – zwischen verfeinerten und gröberen, unkultivierteren Bevölkerungsgruppen. Das ermöglicht es ihm, Austauschprozesse sowohl in aufsteigender wie absteigender Linie zu konstatieren. So gehen Motive, Figurenkonstellationen, Handlungsmuster aus den Geheimbundromanen der Spätaufklärung in romantische Kunstwerke ein, während romantische Dichtungen als Ressource für die Unterhaltungsliteratur des Biedermeier dienen und dabei trivialisiert oder verkitscht werden.
Um solche Prozesse zu untersuchen, zerlegt Schneider eine bemerkenswert große Zahl von einschlägigen Texten in ihre Elemente und gruppiert sie nach inhaltlichen Aspekten, sodass sich gewisse Muster abzeichnen. Für sein Verfahren spielen Autorschaft und die Ganzheit des Kunstwerkes keine Rolle. Johann Wolfgang Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre und Friedrich Schillers Geisterseher werden auf derselben Ebene wie die Romane von Christian August Vulpius, Heinrich Zschokke, Cajetan Tschink und vielen anderen behandelt. Das wirkt fast schon postmodern oder prästrukturalistisch, zeigt aber, was zu Beginn des 20. Jahrhunderts möglich war, wenn man die Bereitschaft zeigte, die herrschende literaturwissenschaftliche Dogmatik außer Kraft zu setzen. Allerdings hatte das in diesem Fall den Effekt, dass Schneiders Arbeit weitgehend folgenlos blieb. Wenn ich richtig sehe, ist allein Marianne Thalmann in ihrem Buch über den Trivialroman um 1800 Schneiders Pionierarbeit gefolgt. Sie hat dabei den Umfang der untersuchten Texte noch einmal erheblich erweitert, das Konzept radikalisiert, es aber auch signifikant vereinfacht. Immerhin wird ihr die Einführung des Begriffs Trivialroman in den literaturwissenschaftlichen Jargon zugestanden. Von Trivialliteratur hat Schneider bei aller Abneigung gegenüber dieser Literatur jedoch nicht gesprochen. Die Erforschung der sogenannten Unterhaltungsliteratur wird von Literaturwissenschaftlern gern zum Aufgabenbereich der Literatursoziologie erklärt und damit tendenziell in ein anderes Fachgebiet ausgelagert, weil man es hier mit Massen – sowohl was die Texte, wie die Leser betrifft – zu tun hat und weil die Erforschung dieser Werke in künstlerischer Hinsicht als unergiebig gilt. Schneider teilte diese Auffassung nicht.
Gegenüber den Bestrebungen, die Literaturgeschichte auf eine breitere kollektive Basis zu stellen, ist die Geistesgeschichte, wie Paul Merker konstatiert, „fast durchweg individualistisch orientiert"; sie beschäftigt sich „ausschließlich oder wenigstens vorwiegend mit den einzelnen dichterischen Persönlichkeiten und den von ihnen geschaffenen Werken". Dagegen wendet sich Merker mit seiner sozialliterarischen Methode, die sich an das geistesgeschichtliche Denken mit seiner Dominanz temporaler Ordnungen annähert. Im Unterschied zum 19. Jahrhundert steht jedoch nicht mehr die Gesamtgeschichte im Zentrum, sondern eine Ausrichtung an zeitlichen Zäsuren und vor allem an den Epochen. Entsprechend verschiebt Merker den Fokus sehr schnell von der Sozial- in die Zeitdimension, wenn es um ‚überpersönliche' Zusammenhänge geht. Obwohl bei ihm erklärtermaßen der Schwerpunkt „auf der societas litterarum" liegt, gilt seine Aufmerksamkeit vorrangig der „allgemeinen geistigen und literarischen Struktur einer Epoche" und der Abfolge solcher „allgemeinen Zeitmilieus". Einerseits behandelt Merker solche Zeitalter als homogene Einheiten, er spricht von der „wunderbaren und fast geheimnisvoll anmutenden Harmonie der Lebensäußerungen", andererseits ignoriert er keineswegs die interne Komplexität solcher Perioden:
Erst eine solche sozialliterarische und kulturpsychologische Einstellung, die dieses ganze wundervolle Spiel der Kräfte mit seinem Auf- und Abwogen einzelner Richtungen und Moden, seinem Sichdurchdringen freundlicher und feindlicher Tendenzen, seinem beständigen Einströmen, Verarbeiten und Abstoßen fremder Bildungselemente, seinem Kampf von Theorie und Praxis beachtet und sich bei alledem immer gegenwärtig hält, daß auch die Literatur nur ein Teilgebiet im geistigen Gesamthaushalt der Nation darstellt und für sie wie für alle anderen Bereiche des Kulturlebens dieselben sozialpsychischen Grundlagen gelten, kann tiefer in die Entwicklungsgesetze und Daseinsbedingungen des literarischen Lebens eindringen.
Die Komplexität, die gerade in den besseren geistesgeschichtlichen Darstellungen entfaltet wird, bleibt begrifflich nahezu ungebändigt, sodass das literarhistorische Geschehen auf den Leser „den Eindruck eines sinnlosen Wirkens um des Wirkens willen machen kann".
An dieser Stelle lohnt es sich, an das Grundmodell der Geistesgeschichte zu erinnern. Der Geist ist eine Funktion des Lebens, das als umfassende Bezeichnung für die Totalität aller Erscheinungen in ihrem Werden und Vergehen verstanden wird. Aufgabe und Leistung des Geistes bestehen darin, diesen ebenso vitalen wie unberechenbaren Prozess zu deuten, Lösungen für die von ihm aufgeworfenen Probleme zu finden und Orientierungen anzubieten. Die dabei von ihm hervorgebrachten Ideen konkurrieren miteinander um die Deutungshoheit. Geistesgeschichten erzählen von diesen teils sehr verworrenen Kämpfen. Bevorzugtes Medium solcher Lebensdeutung ist die Kunst, vor allem aber die Dichtung, weil in ihr der ‚ganze Mensch' als denkendes, fühlendes und wollendes Wesen in einer bestimmten zeitlichen Konstellation seinen Ausdruck findet.
Da der Lebensbegriff, auf den der Geist funktional bezogen ist, einerseits eine Totalität darstellt, andererseits (deswegen) notorisch unterbestimmt bleibt, erweisen sich die geistesgeschichtlichen Arbeiten prinzipiell sowohl für biologische wie für soziologische Theorien als anschlussfähig, sofern diese nicht naturwissenschaftlich verfahren (Positivismus- und Rationalismusverdikt). Insofern kann Erich Rothacker behaupten, dass, „[s]owie die Augen für solche Zusammenhänge geöffnet sind", man „mit einem Male in den trockensten Handbüchern soziologisch Relevantes" entdeckt. Geistesgeschichtliche ebenso wie schon philologische Untersuchungen enthalten jede Menge Wissen, das relativ unspezifisch bleibt, solange die entsprechende Rahmung fehlt. Deshalb greift auch eine strikte Gegenüberstellung von Theorien oder Paradigmen oder Disziplinen zu kurz; für das ‚Neue' oder ‚Andere' gibt es immer schon Anknüpfungspunkte im ‚Alten' oder ‚Vertrauten', wenn man sie nur wahrnimmt. Zumeist suchte die Literaturwissenschaft damals eine Beziehung zur Anthropologie, die gern verbunden wurde mit einem Bekenntnis zum Humanismus der Goethezeit als dem normativen Zentrum der Geistesgeschichte. Die Offenheit für vermeintlich natürliche (zum Teil rassistische) oder aber soziale Bestimmungen des Lebens konnte bei passenden Gelegenheiten für einschlägige Bekenntnisse genutzt werden, während sich das Alltagsgeschäft gewöhnlich in den vornehmeren Regionen der Hochkultur abspielte. Geistesgeschichtler pflegen eher ein distanziertes Verhältnis zu Politik und sozialen Konflikten.
Interessant wird es, wenn Soziologen diese lebensphilosophisch-geistesgeschichtlichen Voraussetzungen teilen. Das ist etwa bei Karl Mannheims Versuch „einer soziologischen Theorie des Geistes" der Fall; allerdings legt er den Akzent stärker auf das Denken. Er greift die philosophische Terminologie auf und benutzt als Synonyme für Leben das Sein oder die Welt – vielleicht, um damit nahezulegen, hier einfach von Gesellschaft zu sprechen. Deutlich grenzt er „das Gebiet des seinsverbundenen Denkens" von den Verfahren der exakten Naturwissenschaften ab. Ihn interessieren nämlich nicht die allgemeinen Wahrheiten, sondern die stets perspektivischen multipolaren Sinngebungen, die im Rahmen einer öffentlichen Auslegung des Seins miteinander konkurrieren. Hier setzt die soziologische Analyse an, die diese Deutungs- und Verständigungsprozesse auf „ganz einfache Strukturbedingtheiten des gesellschaftlichen Lebens zurückzuführen" versucht. Mannheim denkt zum Beispiel an Konkurrenzverhältnisse und Generationslagerungen. Die „Weltauslegung" erscheint dann auch als ein „Korrelat der Machtkämpfe einzelner Gruppen". Mannheim rückt sie damit in die Nähe politischer Auseinandersetzungen und entsprechend wählt er seine Beispiele.
Öffentlich sind diese Deutungen, weil sie sich an ein größeres Publikum wenden. Die geistesgeschichtlichen Literaturwissenschaftler schreiben bekanntlich nicht nur für ihr Fachpublikum, vielmehr wenden sie sich zugleich an einen sehr viel breiteren Adressatenkreis. Sie scheuen nicht vor Orientierungsangeboten zurück; sie demonstrieren damit die Nützlichkeit ihrer Fachwissenschaft für die Selbstverständigungsprozesse der Gesellschaft. In dieser Hinsicht kann man sie durchaus als Intellektuelle bezeichnen. Systemtheoretisch gesprochen handelt es sich um disziplinäre Leistungen für andere soziale Teilsysteme. Gleichzeitig inspirieren im engeren wissenschaftlichen Rahmen ihre Kategorien und Konzepte Forschungen, indem sie Hypothesen formulieren und zu einer empirischen Überprüfung dieser theoretischen ‚Vorgriffe' auffordern. „Ein erster hypothetischer Gesamtüberblick ist immer notwendig, damit einmal die Probleme überhaupt sichtbar werden", führt Josef Nadler am Ende seines Vortrags auf dem 7. Soziologentag aus, um dann fortzufahren: „Man muß also praktisch vormachen, was man meint"; danach aber „muß man jetzt Einzeluntersuchungen in Angriff nehmen". Bei Mannheim heißt es, dass ein „endgültig exakter Beweis" seiner Behauptung „nur auf Grund philologisch-historischer Analysen geführt werden" könne.
Während es auf der disziplinären Ebene zu einem Nebeneinander oder auch zu einer Konkurrenz verschiedener Forschungsprogramme kommt, also zu einem Methodenpluralismus, bei dem viele – vergeblich – hoffen, dass aus dem Methodenstreit eine neue Einheit des Faches folgen möge, führt die wissenschaftliche Seinsauslegung im gesellschaftlichen Raum zu größeren Verwerfungen. Hier geht es darum, welche Forschungsprogramme, welche Disziplin, welche Wissenschaftsauffassung in der Öffentlichkeit für die Wissenschaft sprechen darf, für ein dezentralisiertes Teilsystem, das keinen Sprecher kennt. Der Verdacht, diese Rolle für sich in Anspruch nehmen zu wollen, richtet sich besonders gegen einen Newcomer wie die Soziologie, zumindest aus Sicht der Etablierten. In den Worten von Ernst Robert Curtius:
Die politisierte Gesellschaft muß ihrem Gesetz zufolge auch den Versuch machen, ihre Ansprüche in der Form der Wissenschaft vorzubringen. Sie erzeugt zunächst eine Gesellschaftswissenschaft: die Soziologie. Sie geht dann dazu über, für diese Sonderwissenschaft den Vorrang vor allen andern Wissenschaften zu beanspruchen. Die Soziologie soll zur Zentral- und Universalwissenschaft erhoben werden. Diese scheinbar wissenschaftliche, in Wahrheit politische Tendenz bezeichne ich als Soziologismus. Der Soziologismus ist die in theoretische Form gekleidete utopistische Interessen-Ideologie der Soziologie.
So spricht ein Konservativer, der soziologische Denkfiguren auf die Soziologie anwendet, um die gesellschaftlichen Interessen hinter den soziologischen Gegenwartsanalysen ideologiekritisch zu entlarven. Solche Vorwürfe setzen einer Rezeption soziologischer Theorien in anderen Wissenschaften einem Herrschaftsverdacht aus, und sie dürften in der Soziologie jene Kräfte begünstigt haben, die für eine Beschränkung soziologischer Wissensansprüche eintraten.
Die doppelte Orientierungsfunktion der Konzepte, sowohl für die ‚öffentliche Seinsauslegung' wie für die Forschungsprogramme, macht die theoretischen Kategorien interessant für unsere Untersuchung. Zu fragen wäre nach den sozialen Akteuren oder ‚Wesen' in den literaturwissenschaftlichen Texten geistesgeschichtlicher Provenienz. Zu vermuten ist, dass sie in dem Moment mit einem größeren Interesse rechnen dürfen, in dem die ‚Re-Philologisierung' der Geistesgeschichte einsetzt. Nachdem die großen Darstellungen den ‚Paradigmenwechsel' im Fach vollzogen hatten, suchte man seit Mitte der 1920er-Jahre die Theoriebildung durch eine stärkere Rückbindung an die Empirie und eine Aufwertung der bewährten historisch-philologischen Verfahren zu disziplinieren. Allerdings muss diese Fundierung des Geistes selber konzeptionalisiert werden, will man nicht in den alten (‚positivistischen') Trott zurückfallen, und sie muss den Literaturwissenschaftlern plausibel erscheinen.
Als Ausgangspunkt bietet sich eine der wichtigsten Denkfiguren der Geistesgeschichte an: die Deutsche Bewegung. Das Konzept geht auf Wilhelm Dilthey zurück, der in seiner Basler Antrittsrede die deutsche Geistesgeschichte von 1770 bis 1830, von Kant bis Hegel, vom Sturm und Drang bis zur Romantik als einen einheitlichen, in sich folgerichtigen Prozess darstellt. Dabei akzentuiert er individuelle Leistungen, die sich aufeinander beziehen und sich so in einen Ablauf integrieren, ohne ihre jeweilige Besonderheit einzubüßen. Diese Leistungen werden der Nation zugerechnet. Dilthey sieht die Phase kultureller Blüte um 1800 in der Kontinuität der europäischen Aufklärung. Sein Schüler Herman Nohl profiliert 1911 die Deutsche Bewegung gegen die westliche Aufklärung. Er greift dabei auf ein wirkungsmächtiges Narrativ zurück, demzufolge eine Einheit aufgelöst wird durch Trennungen (etwa der Berufe, der Klassen oder Schichten, der Konfessionen, von Staat und Gesellschaft und so weiter), was dann die Forderung nach Restitution der verlorenen Einheit hervorruft. Als die Ganzheit auflösende Kraft identifiziert Nohl die rationalistische Aufklärung:
[D]ie Herrschaft des Verstandes in der Aufklärung hat auch in Wirklichkeit das einheitliche Leben zerteilt, und die Aufgabe ist, diese Einheit – im Menschen zwischen seinen Kräften, in der Gesellschaft zwischen den einzelnen Menschen, endlich zwischen Mensch, Natur und Gott – wiederherzustellen.
An dieser Aufgabe arbeitet sich um 1800 die Deutsche Bewegung ab, und um 1900 geht es dann um deren Wiedererweckung, um eine Renaissance dieser großen Zeit. Dabei weist die wiederherzustellende Einheit in sich eine gewisse Vielfalt auf. Die Deutsche Bewegung besteht eben nicht nur aus einem Gipfel, sondern aus einem wahren Gebirgsmassiv der Geistesgrößen, das zwar für eine Pluralisierung steht, aber einer Demokratisierung enge Grenzen setzt. Insofern bleibt die Dominanz der individualistischen Ausrichtung erhalten, obwohl man bei einer Bewegung eine kollektivistische Orientierung erwarten würde. Die geistige Elite führt die Nation, sie repräsentiert sie.
Ihre Einheit gewinnt die Deutsche Bewegung über ihre Opposition zum Rationalismus der Aufklärung. Damit verschiebt sich die Hierarchie der Kulturbereiche. Aufgewertet wird die Dichtung als das wichtigste Organ der Lebensdeutung: „der Dichter allein [ist] der wahre Mensch". Es profitieren aber auch Kunst, Religion, Recht und Pädagogik, eben jene (genuin geisteswissenschaftlichen) Bereiche, die auf Individualität, Kreativität, Originalität, Historizität setzen und die sich von Regeln, Konventionen, Dogmen, Autoritäten, Nachahmung und so weiter distanzieren. Die Unterscheidung von Natur- und Geisteswissenschaften wird in die Zeit um 1800 projiziert, um dann „im Rückgang auf die produktiven Zeiten der Vergangenheit [...] die Gesetze echter Produktion und ihren Maßstab zu gewinnen".
Die Deutsche Bewegung dient als eine Art Fixpunkt des kulturellen Gedächtnisses, dessen Funktion ja vor allem darin besteht, über den Rekurs auf eine bedeutsame Vergangenheit eine kollektive Identität zu stiften. Der Geist vereint, er schafft Einheiten, Identitäten, er erzeugt vor allem Gemeinschaften. Gegenüber der Gesellschaft fremdelt er, weil sie sich kaum als homogene Ganzheit fassen lässt. Im Unterschied zur Gemeinschaft ist die Gesellschaft nach außen hin nur schwer abzugrenzen, sie tendiert vielmehr zur Weltgesellschaft, zum Internationalismus, und nach innen neigt sie zu jenen Binnendifferenzierungen und Trennungen, die man gerade überwinden will. Deshalb gehört die Nation, das Volk und das Volkstum zu den zentralen sozialen Einheiten, die der Geist als eine „imagined community" zusammenhält und mit denen die Geistesgeschichtler arbeiten. Diese Vorstellungen besaßen im damaligen Diskurs eine derartige Evidenz, dass sie zumeist als unhinterfragte Selbstverständlichkeiten behandelt wurden. Das schloss in der Regel die Stereotypen mit ein, die mit diesen Begriffen assoziiert sind.
Diese nationalistische Orientierung, aber auch politisch-soziale Fragen treten ein wenig in den Hintergrund, wenn man den Fokus stärker auf die literaturgeschichtliche Entwicklung richtet. Hermann August Korffs Geist der Goethezeit (4 Bände, 1923–1953) behandelt vor allem ein weltanschauliches Problem, wenn er nach einer säkularen moralischen Orientierung nach dem Christentum sucht und sie vor allem im Werk Goethes realisiert findet. In der Tat basiert die Begrifflichkeit, die Dogmatik der (damaligen) Literaturwissenschaft weitgehend auf Positionen dieser klassisch-romantischen Zeit, die durch literarhistorische Untersuchungen in ihren Geltungsansprüchen bestätigt werden. Diese normative Festlegung gibt die Sollbruchstellen vor. Neben der massenhaft verbreiteten Unterhaltungsliteratur erweist sich die Erforschung des Mittelalters und vor allem der Frühen Neuzeit (Barock) als besonders aufgeschlossen für die Benutzung soziologischer oder sozialgeschichtlicher Deutungsmuster. Hier sind Kontextargumentationen erforderlich, weil die Texte den normativen Erwartungen nicht genügen. Daher kann es nicht überraschen, wenn etwa in dem von Hermann August Korff und Walter Linden herausgegebenen Aufriß der deutschen Literaturgeschichte nach neueren Gesichtspunkten (1930) „der gesellschaftliche Hintergrund" der Literatur und damit „die soziologische Fragestellung" wenigstens in Ansätzen bei jenen Autoren (Günther Müller, Paul Merker, Karl Viëtor) zu bemerken ist, welche die Epochen des Humanismus, der Reformation und des Barock behandeln. In eine ähnliche Richtung geht Benno von Wiese, wenn er in diesem Zusammenhang
an das große Nadlerische Literaturwerk erinnert, an die Barockdarstellung Viëtors, an die Romantikkritik Carl Schmitts, an die Arbeiten über die Gesellschaftsliteratur des Mittelalters von Hans Naumann und Günther Müller, an die Analysen der bürgerlichen Lebensanschauung in der Literatur des 18. Jh.s von Fritz Brüggemann und die bahnbrechenden anglistischen Forschungen von Herbert Schöffler, Gustav Hübener und Levin Schücking.
Benno von Wieses ernüchterndes Fazit lautet: „Im ganzen aber hat sich die moderne Literaturwissenschaft sehr viel vereinzelter und weniger grundsätzlich mit der sogenannten ‚Soziologie' auseinandergesetzt, als es etwa in den Nachbarwissenschaften geschehen ist, bei den Historikern und den Philosophen."
Wichtiger als die Soziologie ist für die geistesgeschichtliche Literaturwissenschaft – wie erwähnt – die Anthropologie. So konzentriert sich die von Rudolf Unger propagierte Problemgeschichte auf grundlegende menschliche (existenzielle) Fragen. Sie vermag jedoch auch für unseren Zusammenhang Beachtliches zu leisten, wenn sie sich mit sozialen Beziehungen wie Liebe und Freundschaft beschäftigt. Die einschlägigen Bücher von Paul Kluckhohn über die romantische Liebe und von Wolfdietrich Rasch über Freundschaft waren über eine lange Zeit hinweg Standardwerke – auch für historisch interessierte Soziologen. Eine anthropologische Grundierung weisen ebenfalls die eher soziologischen Kategorien Generation und Stamm auf.
Den Begriff der ‚Generation' hatte bereits Dilthey ins Spiel gebracht, um die einzelnen Phasen der Deutschen Bewegung zu unterscheiden. Wie der Epochenbegriff vereint diese Kategorie Diskontinuität mit Kontinuität. Sie verbindet zudem die Zeit- mit der Sozialdimension und überbrückt die Differenz von individualistischen und kollektivistischen Konzepten, indem die Einzelnen besondere, historisch bedeutsame Erlebnisse und Einstellungen mit etwa Gleichaltrigen teilen. Wie andere soziale Gruppen wird auch die Generation als homogene Gemeinschaft gedacht:
[D]ie Schicksalsgleichheit der Vielen, die denselben Kräften unter gleicher Disposition ausgesetzt sind und in dem Widerspiel sich behaupten müssen, verbindet sie zu Gruppen und schließt sie zur Einheit. Auch der Einzelne, der das Steuer führt und das Segel richtet, repräsentiert den Willen der Gemeinschaft.
Eben diese Fähigkeit zur Synthese erlaubt es, das Ererbte mit dem Erlebten und Erlernten, geistige Gebilde mit Menschengruppen in empirisch überprüfbaren Konstellationen zu verklammern. Auf eine soziale Verortung etwa in einem Klassen- oder Schichtenmodell verzichten die meisten Untersuchungen, obwohl dies zwanglos möglich wäre. Über die jeweils veränderten Voraussetzungen und Reaktionsmuster lassen sich jedenfalls kollektive Wahrnehmungs- und Ausdrucksweisen zusammenführen und durch das „Zeitmaß der Generation, die in ihrer substantiellen Zusammensetzung mit dem Volksgeist, in ihrer periodischen Ablösung mit dem Zeitgeist zusammentrifft", historische Prozesse auf durchaus plausible Weise strukturieren. Julius Petersen dient diese Kategorie dazu, eine Synthese der vielfältigen Ansätze zur Romantikforschung und ein geregeltes Verlaufsschema der Jahrzehnte um 1800 zu erstellen:
Das gegenseitige Verhältnis der Generationen, die sich in der deutschen Geistesgeschichte gegen die Wende des 18. Jahrhunderts aneinanderreihen, gibt ein vollständiges Beispiel für das Auftreten der drei Möglichkeiten [These, Antithese, Synthese; H. D.] in ihrer gesetzmäßigen Aufeinanderfolge. Die Vernunft-These der Aufklärung findet ihre offene Antithese im Irrationalismus des Sturmes und Dranges. Die Klassik stellt das synthetische Gleichgewicht von Rationalismus und Irrationalismus her, sowohl in der Philosophie Kants als in der Kunstlehre Goethes und Schillers als auch in dem Gleichmaß, das Leben und Form in ihrer Dichtung finden. Der Romantik aber bleibt nur noch die Steigerung des irrationalen Elementes bis zur Überspannung, die den geschlossenen Kreis sprengt und in eine zur Unendlichkeit führende Parabel auflöst.
Man darf sich nicht von dieser forcierten Überschematisierung täuschen lassen. Petersens zitierte Äußerung operiert hier auf einem sehr hohen Abstraktionsniveau. Die Ordnungsleistung der Kategorie Generation bewährt sich jedoch gerade im Mikro-Bereich und fasziniert bis in die Gegenwart.
Historisch erledigt dagegen ist die Kategorie des Stammes. Sie wurde vor allem von Josef Nadler ins Spiel gebracht, der sich seit circa 1910 um eine neue sichere Grundlage für die Erforschung der Literatur bemühte. Er suchte nach „historischen Entwicklungszügen [...], die im denkbar Realsten wurzeln," und fand sie „in der Erde und den Menschen". Ohne Zweifel, Nadler verfolgte eine kollektivistische Perspektive, wenn er „nach der Gemeinschaft, nicht nach dem determinierten Individuum" fragte. Bei der „Frage, auf welche der soziologischen Formen der Bevölkerungsgruppe ihre geistigen Erzeugnisse zu beziehen sind", wandte sich Nadler gegen das Staatsvolk, den Stand oder die religiöse Gemeinschaft, um sich für den „Stamm als natürliche Volksgruppe" zu entscheiden: „die letzte Instanz ist immer die natürliche Volksgruppe". An anderer Stelle präzisierte er seine Position:
Es gibt nur einen Bereich, in dem ich hinreichende Gründe für das nachgewiesene Auftreten überpersönlicher Gemeinschaften erwarten kann: die biologische Gemeinschaft. Diese ist das Leben selber und in Person; jenes Leben, aus dem die Persönlichkeit eine zeitliche und individuelle Erscheinung ist; die wahrhafte Überpersönlichkeit, in der die gewesenen und gleichzeitig lebenden Persönlichkeiten ein völlig reales Ganzes sind. Die biologische Disziplin, die den Menschen zum Gegenstande hat, heißt Familienkunde.
„Familienkunde" begreift Nadler als „Arbeitsgemeinschaft von Biologie und Geisteswissenschaft", denn:
Die Ehe ist die Urzelle aller menschlichen Lebensvorgänge. In der Familie lösen sich die Antinomien von Natur und Geist, Trieb und Wille, Gesetz und Freiheit zu der Harmonie des Menschentums auf. [...] Ohne Familienkunde keine Aussagen von den überpersönlichen Kräften, deren Wirkungen von der schaffenden Persönlichkeit her in den Schriftwerken, das ist im Objekt der Literaturwissenschaft, sichtbar werden. Und es sind nur diese sonst unerklärlichen Wirkungen aus einem überpersönlichen Bereich, von denen die Literaturwissenschaft gezwungen wird, ihren Ursachen nachzugehen. [...] Literatur ist nicht die mechanische Summe, sondern der geistige Organismus aus Büchern, die zusammen ein gegliedertes Lebensganzes bilden. Alle verwebt in dichtes Geflecht ungezählter Fäden, deren die Wissenschaft nur einen kleinen Teil sichtbar machen kann. Literatur ist der Inbegriff des Lebens aus Natur, Seele und Geist.
Nadler ignoriert die gängigen Wissensordnungen, die von einer Trennung der Natur- und Geisteswissenschaften ausgehen. Beim Literaturbegriff, für ihn handelt es sich um ‚Schriftwerke', folgt er nicht dem üblichen, sich an den Normen der Goethezeit orientierenden Verständnis. Dieser Non-Konformismus machte ihn zum Außenseiter in seinem Fach und zu einem Lieblingsgegner der Geistesgeschichtler, der nach 1945 als Sündenbock für die Verfehlungen einer nationalsozialistischen Germanistik herhalten musste (mit Sicherheit keineswegs völlig zu Unrecht).
Man darf aber nicht verkennen, dass das Stammeskonzept in den 1920er- und 1930er-Jahren sowohl in der Wissenschaft wie in der kulturellen Öffentlichkeit (Hugo von Hofmannsthal, Rudolf Borchardt und andere) sehr ernst genommen wurde. Denn gerade sein unbedingtes Sachinteresse, das sich durch wissenschaftliche Konventionen kaum disziplinieren ließ, ermöglichte es Nadler, komplizierte und wechselnde Beziehungen zwischen Genealogie, Ethnografie, Kulturgeografie und Lamprechts Kulturgeschichte herzustellen, bei denen nicht immer ganz sicher ist, welche Kräfte jeweils dominierten. Nadler lässt sich da kaum festlegen, denn die Berücksichtigung der unterschiedlichen Wissensgebiete diente der Suche nach „den natürlichen soziologischen Gemeinschaften", die als soziale Basis der Literatur fungieren. Die theoretische Entscheidung für die Kategorien Stamm und Landschaft führten zu einer Berücksichtigung regionaler Literaturentwicklungen und von Textsorten, die bis dahin außer Acht gelassen wurden. Epochen wurden als typische Stilformen eines bestimmten Raumes an den jeweiligen Stammescharakter gebunden und damit sowohl regional wie sozial verankert. Hinzu kamen kulturpolitische Interessen, die eine Aufwertung der süddeutsch-österreichisch-schweizerischen katholischen Literatur gegenüber der norddeutsch-preußischen protestantischen Hegemonie im literarischen Kanon beabsichtigen. Mit all dem sorgte Nadler für Unruhe in seiner Disziplin, blieb aber mit seiner viel und heftig diskutierten Theorie weitgehend isoliert. Mit seiner Fixierung auf eine sichere, gewissermaßen ‚natürliche' Fundierung literarischer Prozesse unterschied er sich jedoch kaum von der überwiegenden Mehrheit seiner Fachgenossen.
Wie Nadler suchte auch Erich Rothacker eine soziale Basis jetzt nicht nur für die Literatur, sondern auch für geistige Prozesse. Als Ausgangspunkt seiner Kulturanalytik (später: Kulturanthropologie) dient das von Karl Marx stammende Basis-Überbau-Modell, das jedoch folgenreich umbesetzt wurde. Dieses Schema war ja auch einer Geistesgeschichte nicht völlig fremd, die den Geist als eine Funktion des Lebens begriff. Als Unterbau fungiert bei Rothacker „die lebendige Praxis eines Kulturzweigs", als Überbau „deren jeweilige Ideologie, die ideelle Ausdeutung, Klärung, Rechtfertigung und Lenkung dieser Praxis". Die Frage nach einem Primat von Über- oder Unterbau lässt er offen. Viel wichtiger ist ihm, dass „ein offenbar unüberwindliches Bedürfnis des praktischen Lebens [existiert], sich über sich selbst zu besinnen, klar über sich zu werden, sich zu rechtfertigen, sein Verhalten zu begründen", anders gesagt: „eine Praxis sucht ihre Ideologie". Das kann durch das „Explizieren und Implizieren eines immanenten Logos", durch Reflexion, durch Bewusstmachung der Regeln oder auch durch eine dogmatische beziehungsweise metaphysische Theorie geschehen.
Den Unterbau, das heißt die Lebenspraxis, beschreibt Rothacker als Verhalten der Menschen in besonderen Situationen, die von ihnen jeweils gedeutet werden und ihnen Reaktionen abnötigen, ohne dass diese Entscheidungen selbst vorab determiniert wären. Allerdings prägen sich im Laufe der Zeit – Rothacker denkt dabei wie Nietzsche an sehr lange Zeiträume – bestimmte kulturelle Muster ein, die als typische Formen des Gesamtverhaltens zu bezeichnen sind: „Lebensgestaltungen, Formen der Lebenshaltung, Lebensstile." Diese „Phänomene des mehr oder weniger durchgeprägten Lebensstiles [bilden] den eigentlichen Mittelpunkt aller weiteren Fragen nach treibenden Kräften der kulturellen Entwicklung".
Ohne diesen Überlegungen hier weiter zu folgen, ist es für meine Argumentation wichtig zu sehen, dass hier ein Rückgriff auf die Soziologie und damit eine soziologische Umdeutung geistesgeschichtlicher Theorien stattfindet. Rothacker bezieht sich dabei hier nicht nur auf Karl Marx, sondern ebenso auf Karl Mannheims Wissenssoziologie, die er für den wohl „scharfsinnigste[n] Versuch" hält, „die ‚Seinsverbundenheit', ‚Standortsgebundenheit' und ‚Aspektstruktur' von Wissens- und Denkformen zu untersuchen". Die Geistesgeschichte beziehungsweise der ideologische Überbau sucht sich einen sozialen Unterbau und findet ihn in den „Lebensweisen, Lebensformen, Lebenshaltungen, Formen menschlichen Verhaltens, Lebenstile[n]".
In diesen Lebenshaltungen, welche von relativ geschlossenen Kulturkörpern in langen Prozessen ganz im Sinn der Kulturkreislehre hochstilisiert werden, sind auch notwendigerweise die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, staatlichen und sonstigen Verhaltungen dieser Kulturen eingeschlossen. Die Lebenshaltungen sind zugleich der Inbegriff und als Ganze der tragende Boden jeder besonderen Praxis.
Das Soziale wird in kulturelle Praktiken transformiert. Man kann die Umdeutungen der soziologischen Theorie, wenn man einmal das Denken in Ganzheiten vernachlässigt, durchaus mit Gewinn wieder zurückübersetzen, wie Wolfgang Eßbach feststellt: „Was heute als Handlung und Struktur in der Soziologie verhandelt wird, erscheint bei Rothacker als Sich-Verhalten und geprägte Form." Man muss aber auch die Unterschiede sehen, die besonders dann deutlich hervortreten, wenn man Rothackers Konzept mit Mannheims Überlegungen vergleicht.
Wenn Rothacker die Beständigkeit in der Geschichte sucht, also das, was sich im Verlaufe langer Zeiträume (evolutionär) bewährt hat, dann handelt es sich auch um eine Antwort auf Mannheims Wissenssoziologie, der von der Aktualität der Gegenwart ausgeht und damit von einem schnelleren Wandel, der auch das seinsgebundene Denken erfasst. Stabilität (einer einheitlichen Wertehierarchie, Erkenntnistheorie und Ontologie) ist unter diesen Voraussetzungen das Unwahrscheinliche; sie wird geradezu erklärungsbedürftig, zumal wenn man eine „Fülle der verschiedenst gearteten Lebenskreise" mit je eigener Weltsicht annimmt, denn:
Es gehört zur Struktur der Demokratisierung des Geistes, daß hierbei jede Partikularansicht die Aspiration hat, zum universellen Auslegungsschema zu werden, und es gehört zur Soziologie des Geistes, zu sehen, daß auch in der Methodologie – im Gewande der Denkschemata – letzten Endes soziale Kräfte und Impulse sich gegenüberstehen.
Man kann mit Mannheim dann eine konservative Denkbasis, die sich auf die Beharrungskraft der Geschichte beruft, von einer liberalen, die auf eine rationale Diskussion und Verständigung setzt, und einer sozialistischen, die sich an polit-ökonomischen Interessen ausrichtet, unterscheiden. Diese Typen sind bereits Effekt einer Polarisierungsbewegung, die verschiedenste Standpunkte schon plattformartig gebündelt hat. Solche Synthesen beruhen auf den diversen Positionsnahmen, die sich jeweils herausbilden durch „ein existentielles Experimentieren der einzelnen Gruppen mit lauter partikularen Ordnungsschemen, von denen keines einzeln ausreicht, um die heutige Wirklichkeit in toto zu erfassen". Damit werden die Geltungsansprüche von Rothackers Ganzheit reklamierender Denkweise relativiert. Das betrifft nur vordergründig die nationalistische oder völkische Ideologie, viel grundsätzlicher aber seine spezifische Form der Weltdeutung, nämlich das konservative Denken. Deshalb reagiert auch ein Ernst Robert Curtius, bei dem der Humanismus an die Stelle des Nationalismus rückt, so heftig auf Mannheims Soziologie des Geistes, weil dessen „analytische Welterkenntnis" ein umfassendes Kontingenzbewusstsein impliziert: „alles könnte auch anders sein". Gegen diesen Relativismus verbünden sich der Humanist Curtius, indem er Europa und das lateinische Mittelalter mobilisiert, und der Nationalsozialist Rothacker, indem er die longue duree nationaler Lebensweisen beschwört.
Im Bereich der Literatursoziologie zeigen sich die Folgen dieser Option. Unter dem Titel Zur Lehre vom Menschen veröffentlichte Rothacker 1933 in der Deutschen Vierteljahrsschrift für Geistesgeschichte und Literaturwissenschaft ein „Sammelreferat über Neuerscheinungen zur Kultursoziologie". Den meisten Raum in diesem Aufsatz nimmt eine Kritik an Levin L. Schückings Soziologie der literarischen Geschmacksbildung ein. Das zentrale Problem in dessen Konzeption sieht Rothacker darin, dass „der repräsentative Charakter [großer Kunstwerke] mit dem Erfolge" beim Publikum identifiziert werde, denn damit finde eine „Verwechslung von Masse und Volkstum [...] [statt], die bis tief in die Ideologie von Parteien reicht, welche eigentlich berufen wären, dem tieferen Sinn des Volksgedankens ohne Fehl gerecht zu werden". Als Fehlverhalten wirft Rothacker Schücking vor, die rechten Maßstäbe für kulturelle Leistungen zu verkennen. Objektivität wird an soziale Repräsentativität gebunden, die erst durch „die Übernahme eines Gemeinschaftsethos und Gemeinschaftsschicksals in [die] Verantwortung" eines schaffenden Genius entstehe. Es gehe also um eine „Eingliederung in ein geistesgeschichtliches Ganzes", das Substanz in sozialer und Konstanz in temporaler Hinsicht garantiert. Kunststile werden an Lebensstile gebunden, die sich in sehr großen Zeiträumen herausbilden. „Aus der Mitte des vollendeten Stils heraus aber repräsentativ zu schaffen, ist jedem, der nicht Glied dieser Jahrhunderte alten Lebensgemeinschaft geworden ist, verschlossen." Bei diesen Lebensgemeinschaften handelt es sich um nichts anderes als die Nationen, deren Charakter ein „Kenner intuitiv und praktisch auf der Folie fremden Volkstums fast irrtumslos" erkennen könne: Ebenso wenig wie ‚irgendeine Nachfrage' (Marx) oder ‚geistige Konkurrenz' (Mannheim) Kants Kritik der reinen Vernunft entstehen ließ, habe, so Rothacker,
umgekehrt die jahrhundertelange Existenz philosophischer Lehrstühle in Polen dennoch noch nie einen polnischen Philosophen von europäischem Rang hervorzubringen vermocht [...], noch die außerordentliche Musikalität, musikalische und literarische Bildung der westeuropäischen Juden je einen Komponisten oder Dichter vom Range Bachs, Mozarts, Beethovens, Goethes, Schillers, ja selbst mit der einzigen Ausnahme des Marannen Spinoza nie wieder Denker ähnlichen Rangs (dafür hervorragende mittlere Talente wie Heine, Börne, Mendelssohn-Bartholdy, Offenbach, Bergson) und dies trotz stürmischer Nachfrage und trotz der Neigung der modernen Presse, jede Eintagsfliege mit Goethe zu vergleichen.
Rothackers Sammelreferat zur Kultursoziologie bricht „aus Gründen des Raummangels" recht abrupt ab. Eine Fortsetzung wurde für das nächste Heft der Zeitschrift angekündigt – und erschien nie. Seit dem Sommer 1932 engagierte sich Rothacker öffentlich für den Nationalsozialismus und strebte „1933/34 eine führende Position im Bereich der Kulturpolitik" an, um seine „Arbeit am Imaginären des Deutschen" mit institutionalisierter Macht durchzusetzen. Auf seinen Aufsatz Zur Lehre vom Menschen, vor allem aber auf die neue politische Situation, stützten sich 1934 gleich zwei programmatische Aufsätze zur Literatursoziologie, um die Gunst der Stunde zu nutzen. Wie die anderen Vordenker des Nationalsozialismus scheiterte auch Rothacker schnell mit seinem politischen Programm, um sich nach dieser kurzen politischen Karriere wieder stärker der wissenschaftlichen Arbeit zuzuwenden.
1934 wurde die gleichgeschaltete Zeitschrift Euphorion in Dichtung und Volkstum umbenannt. Im Jahr 1930 verhandelte Hermann Gumbel unter dem gleichen Titel Dichtung und Volkstum in dem repräsentativen Sammelband Philosophie der Literaturwissenschaft das Wechselverhältnis von Literatur und Gesellschaft. Gumbel fasst die wesentlichen Ergebnisse der seinerzeit aktuellen Forschung zusammen und leistet damit eine Überprüfung der referierten Konzepte und Begriffe. Dabei geht er systematisch vor. Bevor er die recht umfangreiche wissenschaftliche Literatur kritisch sichtet, bemüht er sich um eine Klärung des Begriffs ‚Volkstum'. Es handle sich, so seine zunächst wenig überraschende Bestimmung, um „eine geschichtlich gewordene Größe", deren „Entstehung [...] von vielen Faktoren der politischen, territorialen, handels- und verkehrstechnischen Entwicklung bestimmt" sei; es seien aber komplexe „Vorgänge jüngeren Datums, als wir bisher annahmen". Mit diesem Nachsatz widerspricht er Rothackers Annahme einer sehr langwierigen Prägung nationaler oder volkstümlicher Lebensstile. Auch Gumbels Befunde zu den Kategorien Rasse, Stamm beziehungsweise Landschaft und Generation sind erhellend.
„Bei der Zurückführung der Dichtung und der Dichtungen auf die rassische Eigenart" ist für Gumbel „die höchste Vorsicht, größte Vorurteilslosigkeit und weitherzigste Begrifflichkeit vonnöten." Was das genau heißen soll, ist mir nicht ganz klar. Aber für viel relevanter hält Gumbel den Vorgang, dass die aktuelle Dichtung zur „Bildung von Rassenidealen, von Wertbewußtsein seelisch-kollektiver Art" entschieden beitrage, dass hier also ein ideologischer Einfluss vorliege. Gegenüber Nadlers Konzept hegt Gumbel „weitgehende Zweifel am Vorhandensein wirklicher Landschaftsgeistigkeit". Man müsse zur Kenntnis nehmen, „daß Stammescharakter und Volkscharakter noch nicht wissenschaftlich zugänglich erfaßbar seien". Die „Herausbildung geistiger Traditionen" über Generationszusammenhänge könne man „nicht vor der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, deutlich erst im 19. Jahrhundert" nachweisen; unmittelbar danach würden sie jedoch „den vereinheitlichenden, aufs Großräumige zielenden Tendenzen des 19. und 20. Jahrhunderts langsam [...] unterliegen".
Selbst „[d]ie Sprache ist nicht und macht nicht das Volkstum". Von der Volkskunde dürfe man keine Antworten auf die Frage erwarten, „was volkstümlich sei und warum"; dieser Disziplin empfiehlt Gumbel, „sich objektiveren und ferneren Gegenständen, etwa fremdem Volksgut zuzuwenden, um hier zu lernen und auf festen Boden zu kommen". Das Resümee seines Forschungsüberblicks lautet:
Auch Dichtwerke sind ‚Verkehrsgut', und mehr von den faßbaren Wirklichkeiten politischen Geschehens, dynastischer Führung, territorialer Konsolidierung, verkehrsbestimmter Zügigkeit bedingt als von bluthaften und mystischen Erblichkeiten, Stammeseigenarten und Landschaftsgeistigkeiten.
Damit sind die vermeintlich ‚natürlichen', die substanziellen und konstanten Grundlagen von ‚Dichtung und Volkstum' abgeräumt, mit denen die Geistesgeschichte immer dann mit Vorliebe operiert, wenn sie soziale Zusammenhänge in den Blick nimmt. Bei der Entstehung eines Nationalcharakters müsse man vielmehr, so Gumbel, „von einem Primat der politischen und sozialen Einflüsse" ausgehen. Das spräche für die Berücksichtigung soziologischer Kategorien, für eine soziologische Aufklärung. Diese Schlussfolgerung zog Hermann Gumbel jedoch nicht.
Als in den 1960er-Jahren eine breite sozialgeschichtliche und literatursoziologische Forschung einsetzte, knüpfte sie an Theorietraditionen (Georg Lukács, Walter Benjamin, Frankfurter Schule) an, die in den 1920er- und 1930er-Jahren entwickelt wurden, damals jedoch im fachlichen Kontext auf keine nennenswerte Resonanz stießen. Auch die vom Fach jetzt bevorzugten Forschungsfelder, die Aufklärungsliteratur des 18. Jahrhunderts und die Literatur der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, standen im Gegensatz zu den Präferenzen der geistesgeschichtlichen Literaturwissenschaft.
By Holger Dainat
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