Dyan Elliott, The Corrupter of Boys. Sodomy, Scandal, and the Medieval Clergy. Middle Ages Series. 2020 University of Pennsylvania Press Philadelphia, PA, 9780812252521, £ 37,–
Die Anregung zur vorliegenden Studie ging von aktuellen Missbrauchsfällen aus, wie Dyan Elliott, Professorin an der Northwestern University, wiederholt betont. Die Verfasserin versteht es dezidiert als ihre Aufgabe, mögliche Verbindungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart aufzuzeigen. Kenntnis- und detailreich zeichnet sie auf der Basis theologischer und kanonistischer Texte, normativer wie historiographischer Quellen den Umgang der Kirche mit männlich-gleichgeschlechtlicher Sexualität und sexuellem Missbrauch von der Spätantike bis ins Hoch- und Spätmittelalter nach.
Im ersten Teil wird die Entwicklung der klerikalen Päderastie vom 4. bis ins späte 13. Jahrhundert in chronologischer Abfolge dargestellt. Dabei werden nach Begriffsklärungen (Päderastie, Pädophilie, Sodomie) grundlegende Themen behandelt: das Problem der Sünden von Geistlichen, die Herausbildung der sakrosankten Stellung des Klerus, die sexuelle Objektifizierung von Jungen, die negative Konnotation des Kindes, das Oblatentum, Gewalt in Erziehung und Schule, homoerotische Dichtung und „Toleranz" gegenüber männlich-gleichgeschlechtlichen Handlungen im Hochmittelalter, die Entwicklung der Beicht- und Bußpraxis sowie das Verbot der Priesterehe, der Zölibat, „sodomistische" Anschuldigungen als Waffe der päpstlichen Reformer, die zunehmende Bedeutung des Beichtgeheimnisses und die Angst der Kirche vor Skandalen.
Der zweite Teil bietet einzelne, mitunter spektakuläre und erschütternde Fälle aus Frankreich, Italien, England und dem Reich vom 14. bis ins frühe 16. Jahrhundert vor dem Hintergrund einer Analyse von vier typischen Missbrauchsmilieus – fast durchweg „totale Institutionen": dem Kloster, dem Knabenchor, den Schulen und der bischöflichen Kurie.
Im Fazit werden die Linien prägnant zusammengeführt und ein Bogen vom Konzil von Trient über die Spanische Inquisition bis in die jüngste Vergangenheit geschlagen, dabei immer wieder Parallelen zwischen Mittelalter und Moderne aufgezeigt.
Stringent zeichnet Elliott in diesem Buch die systemische Dimension des Phänomens der klerikalen Päderastie in der longue durée nach. Als begünstigende Aspekte und Bedingungen werden dabei vor allem der Zwangszölibat, aber auch die kirchliche Misogynie und die milieutypischen Lebensumstände festgemacht. Mit wenigen Ausnahmen war Kindeswohl kein Thema, im Gegenteil, in den allermeisten Fällen kam es zur Täter-Opfer-Umkehr. Die Weigerung der kirchlichen Autoritäten, Maßnahmen gegen Übergriffe von Geistlichen auf Kinder und Jugendliche zu ergreifen, die mangelhafte Verfolgung der Taten und die sich herausbildende Strategie einer „Kultur" des Verschweigens, Verharmlosens und Vertuschens sind nicht zu verstehen ohne die sakrosankte Stellung des Klerus, die Herausbildung von Sonderrechten wie der Immunität vor weltlicher Gerichtsbarkeit, ein „exculpatory mind-set" (S. 9), die Buß- und Beichtpraxis sowie die vorherrschenden Prinzipien der Diskretion und der Vermeidung von Skandalen zum Schutz der Reputation der Kirche.
Für historische Untersuchungen mitunter ungewöhnlich deutlich sind die ethischen Urteile in der Studie, die „all those, living or dead, who have suffered sexual abuse" gewidmet ist. Das tut jedoch der ebenso fundierten wie überzeugenden und gut lesbaren Darstellung der historischen Entwicklung im Umgang der kirchlichen Autoritäten mit der verbotenen, gleichwohl offenbar weit verbreiteten Praxis männlich-gleichgeschlechtlicher Sexualität keinen Abbruch. Zu Recht betont Elliott eine „tragic continuity" (S. 13): Die „conspiracy of silence" (S. 3) sei nach wie vor aktiv, damals wie heute sei die Angst vor Skandalen die „Achillesferse der Kirche" (S. 238). Die Kenntnis der historischen Wurzeln eines Phänomens dient auch dem Verständnis jüngster Entwicklungen. Nicht nur deshalb ist dieses Werk essentiell für jede künftige Beschäftigung mit dem Thema.
By Anja Thaller
Reported by Author