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Schule, Körper und Geschlecht: Die Ausdifferenzierung des schulischen Mädchenturnens zwischen 1890 und 1918.

Berner, Esther
In: Sport und Gesellschaft, Jg. 19 (2022-04-01), Heft 1, S. 1-29
Online serialPeriodical

Schule, Körper und Geschlecht: Die Ausdifferenzierung des schulischen Mädchenturnens zwischen 1890 und 1918  School, body, and gender: The differentiation of girls' school gymnastics between 1890 and 1918 

Der Beitrag widmet sich der Einführung und Etablierung des Mädchenturnens mit Schwerpunkt auf den preußischen Schulen, wie es sich an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg vollzogen hat. Die Frage richtet sich dabei auf die Art und Weise, wie dieser Prozess verlief, aber auch darauf, weshalb die Ausdehnung des Schulturnens auf die Mädchen mit einiger Verzögerung gegenüber dem Knabenturnen zu einem bestimmten Zeitpunkt schließlich stattgefunden hat. Als Grundlage der Untersuchung dienen normative Quellen (Richtlinien, Lehrmittel) ebenso wie einschlägige Zeitschriftenliteratur, anhand derer sich der die Entwicklungen begleitende Diskurs rekonstruieren lässt. Ein besonderer Fokus richtet sich dabei auf die Rolle des sich wandelnden Körper- und Geschlechterwissens, wie es sich in zeitgenössischen wissenschaftlichen Texten (z.B. Physiologie und Medizin) und populären (Lehr-)Büchern zum Thema Leibesübungen und Gesundheit manifestiert hat.

Summary: This contribution examines the introduction and establishment of girls' gymnastics in the period from the turn of the 20th century through to the beginning of the First World War, with an emphasis on Prussian schools. The aim is to establish the nature of this process, but also to ask why, ultimately, the provision of school gymnastics was rolled out to girls at a particular point in time, somewhat later than it was to boys. The study is based on normative sources (guidelines, teaching materials) as well as pertinent journal literature that makes it possible to reconstruct the discourse accompanying the developments. A particular focus here is the role played by changes in knowledge around the body and gender, as manifest in contemporary scientific texts (e.g. physiology and medicine) and popular (text)books on the theme of physical exercise and health.

Keywords: Turnen; Geschlecht; Schule; Geschichte; Preußen; Gymnastics; gender; school; history; Prussia

1 Einleitung

Die Tatsache, dass am Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert mit dem Turnen ein neues Schulfach entstand, fand in dieser bildungs- und schulgeschichtlich ansonsten gut erforschten Phase der „Systembildung" ([86]; [14]) bislang kaum Beachtung. Dies gilt ganz besonders für das Mädchenturnen, wie überhaupt die Kategorie Geschlecht in monografischen Darstellungen zur Geschichte des Schulturnens kaum auftaucht. Die (ältere) Forschung zum Schulturnen im späten Kaiserreich und zur Weimarer Republik, vorwiegend aus der Sportgeschichte stammend, bezieht sich auf das Turnen im Allgemeinen und meint damit in der Regel das Knabenturnen (z.B. [16]; [47]; [17]) und die Professionalisierung der Turnlehrer (z.B. [82], [18]). Auch in der neueren Einführungs- und Überblicksliteratur erscheint das frühe Mädchen- gegenüber dem Knabenturnen eher unterbelichtet (etwa [32], 2018). Dabei existieren durchaus Einzelbeiträge, die sich speziell der weiblichen Körpererziehung widmen, wobei sich in den vergangenen Jahren insbesondere die Sportwissenschaftlerin Gertrud Pfister dieses Themas angenommen hat. Diese Arbeiten liefern nun, neben allgemeinen Informationen zu der Frage, wann und in welcher Form Turnen für Mädchen Eingang in die Schulcurricula unterschiedlicher Schulstufen gefunden hat, auch Erkenntnisse hinsichtlich gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und politischer Entwicklungen, die diesen Prozess begleitet und begünstigt haben (z.B. Pfister und Langenfeld 1980; [64]). Lediglich in Ansätzen thematisiert wurde hingegen die Frage nach der Rolle des sich wandelnden Körper- und Geschlechterwissens mit Blick auf die Einführung und Konzeption des schulischen Mädchenturnens.

An diesem Punkt will der Beitrag anknüpfen. Leitend sind die Fragen, weshalb das schulische Mädchenturnen zu einem gewissen Zeitpunkt, nämlich an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, und dabei in welcher (geschlechtsspezifischen) Form eingeführt wurde. Dabei wird angenommen, dass den Entwicklungen im Bereich der modernen Humanwissenschaften für dessen Begründung und Rechtfertigung sowie dessen inhaltliches und methodisches Profil eine bedeutende Rolle zukam und somit wesentlich für das Verständnis des Wann und Wie sind. Hinweise darauf geben die historische Geschlechterforschung und die Körpergeschichte. Denn das sich im 19. Jahrhundert herausbildende physiologische und anatomische Wissen formierte sich über weite Strecken auch als Geschlechterwissen ([24]), und es ist davon auszugehen, dass es als solches in die Debatten, Überlegungen und Umsetzungen des Mädchenturnens einfloss. Umgekehrt wiederum erscheint ein transdisziplinärer, historisch-erziehungswissenschaftlich motivierter Zugang deshalb wichtig, da das Schulturnen in körperhistorischen Studien bislang, wenn überhaupt, dann lediglich am Rand Berücksichtigung fand. Dies gilt, obwohl die Volksschule im betrachteten Zeitraum mit der endgültigen Durchsetzung der allgemeinen Schulpflicht zu einem mächtigen Agenten der Vermittlung von Körpernormen und -wissen und entsprechenden Geschlechterstereotypen avancierte.

Die oben formulierten Leitfragen nach dem Wann, Weshalb und Wie der Einführung des schulischen Mädchenturnens legen eine zeitliche Eingrenzung auf das Wilhelminische Kaiserreich nahe. So fand jenes in Preußen formal 1894 (höhere Mädchenschulen) bzw. 1905 (Volksschule) Eingang in die Curricula. Zudem lässt sich ab den 1890er Jahren eine Intensivierung entsprechender Diskussionen feststellen, die zur allmählichen Durchsetzung des Mädchenturnens bis zum Ersten Weltkrieg führte. Zu diesem Zeitpunkt herrschte ein breiter Konsens hinsichtlich dessen Zweck und Nutzen, während sich die Einwände nun vermehrt auf die Partizipation von Frauen und Mädchen am Wettkampf- und Leistungssport verschoben. Als Grundlage der vorliegenden Analysen dienen einerseits normative Quellen wie Lehrpläne und offizielle Richtlinien, wie sie für Preußen umfassend vorliegen und in Serie auf Brüche und Kontinuitäten, aber ebenso auf geschlechtsspezifische Differenzen hin untersucht werden können. Dazu gehören auch Anleitungen speziell für das Mädchenturnen in den Schulen, wie sie ab den 1890er Jahren in größerer Zahl und nun auch von weiblichen Autorinnen verfasst auf den Markt kamen. Von besonderem Interesse sind dabei Werke, die über eine Zeitspanne in mehreren Auflagen erschienen sind, da allfällige Überarbeitungen ebenfalls Rückschlüsse auf diachrone Entwicklungen zulassen. Die Auswertung erfolgt unter Bezugnahme auf die zeitgenössischen Debatten zum Turnen und insbesondere zum Mädchenturnen, wie sie von Medizinern (teilweise auch Medizinerinnen) sowie Pädagogen (und mitunter Pädagoginnen) angeführt in entsprechenden Medien, v.a. in der expandierenden Fachpresse und Zeitschriftenliteratur geführt wurden. Drei bzw. vier Periodika wurden dabei einer systematischen Analyse unterzogen: die „Zeitschrift für Schulgesundheitspflege" (1888-1922), die Zeitschrift „Körper und Geist" (1902-1920) und deren Vorgängerorgan „Zeitschrift für Turnen und Jugendspiel" (1892-1902) sowie die „Monatsschrift für das Turnwesen" (1882-1920). Zu deren Herausgebern gehörten namhafte, diskursbestimmende Personen im Bereich der Propagierung von Turnen und Gymnastik und mitunter auch des Mädchenturnens, so dass dieser Gegenstand in regelmäßigen Abständen Eingang fand.

2 Turnen als Schulfach: Entwicklungen im 19. Jahrhundert

Die frühen Überlegungen zum Mädchenturnen nahmen ihren Ausgangspunkt beim Knabenturnen, wie es sich im 19. Jahrhundert herausgebildet hatte. Die neuzeitlichen Ursprünge einer pädagogischen Gymnastik, durchgeführt an Erziehungs- und Unterrichtsanstalten für die männliche bürgerliche Jugend, lassen sich auf die Bemühungen einzelner Philanthropen (insbesondere Johann Christoph Friedrich GutsMuths) zurückführen ([31]). Damals, im ausgehenden 18. Jahrhundert, gab es zwar bereits Ärzte, die sich für die leibliche Ertüchtigung des weiblichen Geschlechts aussprachen ([62]), jedoch ohne dass sich entsprechende Praxen vorerst breit durchgesetzt hätten. Demgegenüber erhielt das Knaben- und Männerturnen durch die an den Namen Friedrich Ludwig Jahn (1778-1852) geknüpfte Turnbewegung des frühen 19. Jahrhunderts einen kräftigen Impuls. Entsprechend ihres Ursprungs verfolgte diese in erster Linie militärisch-patriotische Erziehungsziele. Letzteres wurde Jahn und seiner Bewegung allerdings im Zuge der Napoleonischen Besatzung und der Befreiungskriege zum Verhängnis: Preußen verhängte 1820 im Rahmen der restaurativen Unterdrückung von Freiheitsbestrebungen eine Turnsperre ([30]). Das Turnverbot richtete sich in erste Linie gegen das Turnen auf öffentlichen Plätzen. Insbesondere in Gymnasien wurde sowohl als Ausgleich zur einseitigen intellektuellen Bildung wie zur Vorbereitung auf den Militärdienst verschiedentlich weiterhin geturnt; die Verbindung mit dem Schulunterricht etablierte sich allerdings erst nach dessen Aufhebung 1842 ([32]). Damals führte Preußen Turnen zuerst an Gymnasien, höheren Stadtschulen und Lehrerseminaren ein, 1860 schließlich auch in den Volksschulen.

Wesentlich dazu beigetragen hatte der Turnpädagoge Adolf Spieß (18101858), der sich wie Jahn darum bemühte, das Turnen in das Ganze der Volkserziehung zu integrieren, nun jedoch ohne das weibliche Geschlecht vom Turnen auszuschließen ([84]). Insgesamt lag auch bei Spieß das Hauptmotiv in der militärischen Ertüchtigung. Seine Ideen flossen in den ersten „Leitfaden für den Turn-Unterricht in den Preußischen Volksschulen" ein, der 1862 erschienen ist und diesen auf die Knaben beschränkten Unterricht bis ins Detail regelte. Der Regulierungs- und Normierungsgrad nahm 1877 mit dem Erscheinen eines „Uebungsplans für den Turnunterricht an den Preußischen Volksschulen" nochmals zu. Deutlich zeigt sich im Leitfaden und Übungsplan das Schwergewicht auf den Frei- und Ordnungsübungen, wie es das Spießsche System charakterisieren und den Turnunterricht auf Jahre und Jahrzehnte prägen sollte.

Freiübungen wurden einzeln und ohne Geräte ausgeführt, entweder in Grundstellung am Ort stehend, wobei die einzelnen Glieder in repetitiver Abfolge exakt auf Befehl bewegt wurden, oder im Takt gehend, laufend oder hüpfend. Die Bewegungsformen waren stark elementarisiert.

Graph: Abbildung 1 Freiübungen: Armstreckungen nach den fünf Grundrichtungen ([51]: 21)

Ordnungsübungen bezeichneten die Bildung und Umbildung von Reihen und Reihenkörpern durch verschiedene Bewegungsformen, wobei sich die ganze Turnklasse auf Kommando gleichförmig und aufeinander abgestimmt bewegte. Beide von Spieß begründeten Übungsformen verweisen auf die Ausrichtung des Körpers und seiner Bewegungen an militärischer Disziplin und Korpsgeist.

Die mit dem Turnen verbundenen Erziehungsziele waren äußerst vielfältig und reichten von der Charaktererziehung bis zur Gewöhnung des Körpers an eine „naturgemäße schöne Haltung" ([51]: 5). Die Ausbildung der Fähigkeit, einen Befehl rasch und genau auszuführen, verweist auf die Rolle des Turnens im Hinblick auf den „künftigen Wehrdienst im vaterländischen Heere", wie der „Leitfaden" explizit festhielt ([51]: 5). Jede Übung, ja jede Bewegung war auf Kommando „genau mit Ernst und Aufwendung der nöthigen Kraft bis zur möglichen Vollkommenheit" auszuführen ([51]: 5). An die Frei- und Ordnungsübungen schlossen Geräteübungen und Turnspiele an.

Sowohl was die Übungen anbelangt wie in Bezug auf die Erziehungsziele hatte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine „Grammatik" körperlicher Erziehung herausgebildet, die deutlich eingeschlechtlich, männlich, geprägt war. Diese bildete die praktische und konzeptionelle Folie, auf der das Mädchenturnen gegen Ende des Jahrhunderts vorerst debattiert und in starker Anlehnung an Spieß entworfen wurde (z.B. [36]): Annahmen betreffend die verminderte Leistungsfähigkeit und Belastbarkeit der Mädchen, aber auch Kriterien der Ästhetik und Schicklichkeit ließen Frei- und Ordnungsübungen (bzw. Reigen) für diese als besonders geeignet erscheinen.

Die Einführung des Mädchenturnens erfolgte zwar 1894 anfänglich nur für die höheren Schulen und wurde erst 1905 auf die Volksschule ausgedehnt. Dennoch findet sich bereits im Ministerialerlass zum „Leitfaden für den Turnunterricht in den Preußischen Volksschulen" von 1895 der Hinweis, dass „auch bei den Mädchenschulen, soweit für den Turnunterricht bei diesen die im Leitfaden ausgeführten Uebungen überhaupt in Frage kommen, [...] die Turnsprache und die Befehlsformen des Leitfadens fortan gleichmäßig zur Anwendung gebracht werden" sollen (Ministerialerlass zum Leitfaden von 1895 sowie abgedruckt in: [54]: IV). Dieser neue Leitfaden war in enger Anlehnung an denjenigen von 1862 bzw. 1868 noch immer ganz auf das Knabenturnen ausgerichtet, wobei die Vorbereitung auf den Wehrdienst nach wie vor ein wichtiges Ziel darstellte ([54]: 1). Eine explizite Nennung der Mädchen und Angaben dazu, wie deren Turnunterricht in Abgrenzung zu den Jungen aussehen sollte, findet man dann allerdings drei Jahre später in der „Theoretisch-praktischen Anweisung zur Erteilung des Turnunterrichts in Knaben- und Mädchenschulen" (1898). Dieses Dokument schloss an den „Leitfaden" von 1895 an und löste den „Uebungsplan" von [53] ab. Tatsächlich findet man hier erstmals in der Darstellung der verschiedenen Übungsformen eine Unterteilung der Lektionen in solche für Knaben und solche für Mädchen, wobei insbesondere die Geräteübungen für letztere eine Reduktion erfuhren. Weiterhin auffällig ist, erstens, das gleichzeitige Auftreten expliziter Bezüge auf physiologische Wissensbestände, die in den älteren Richtlinien fehlten. Darauf rekurrierend finden sich Erörterungen über spezifische Defizite des weiblichen Körpers, die nun aber, und dies erscheint als zweiter wichtiger Punkt, nicht (mehr) als Argument für den Ausschluss der Mädchen von Praktiken körperlicher Ertüchtigung dienten, sondern gerade deren besondere Notwendigkeit nahelegten. Als Nächstes soll nun jenes physiologische Körperwissen in seiner Bedeutung für die Einführung des obligatorischen Schulturnens als Teil umfassender schulhygienischer Überlegungen genauer beleuchtet werden. Darauf aufbauend gilt es dann zu prüfen, ob bzw. welche besonderen Einsichten sich ausgehend davon für das Mädchenturnen ableiteten.

3 Physiologie, Schulhygiene und Turnen

Im 19. Jahrhundert stiegen die Physiologie und die Psychophysiologie zu neuen Leitwissenschaften mit vielfältigen Anwendungsbezügen auf ([76]; [11]). Zu deren zentralen Untersuchungsgegenständen gehörten die Funktionsweise von Muskeln und Nerven, die Übertragung von Willensimpulsen und die Rolle von Ermüdungsfaktoren, wie überhaupt die Frage nach dem Energieverbrauch des „Motor[s] Mensch" (Rabinbach 1992), der leitender Gesichtspunkt der experimentellen Untersuchungen des Körpers und seiner Bewegungen war. Entsprechende Erkenntnisse fanden ausgehend von der industriellen Arbeit bald auch Anwendung auf die geistige Arbeit und damit auf Probleme der modernen Massenbeschulung. Diese wurden unter den Stichwörtern „Überbürdung" und „Schulhygiene" ([96]; [87]; [2]) debattiert. Wegweisend waren v.a. die Arbeiten Emil [28] zur geistigen Arbeit und Ermüdung. Ausgehend von seinen eigenen und den Untersuchungen seines Mitarbeiters Ragnar Vogt (1899) kam Kraepelin ([27], [29]) zu einem vernichtenden Urteil in Bezug auf die Psychophysiologie schulischer Arbeit und leitete daraus weitreichende Reformvorschläge ab. Zu den wichtigen Themen gehörten die Frage der Stundenplan- und Pausengestaltung, die Schulbank- und Schulhausfrage und auch das Schulturnen (z.B. [72]). Turnen sollte dabei einen Ausgleich zur Überbürdung als Folge einer überhandnehmenden Intellektualisierung und Rationalisierung des Unterrichts schaffen, zu deren Folgen sowohl körperliche (Skoliose, Kurzsichtigkeit, Bleichsucht etc.) wie psychische Krankheiten (Nervosität, Neurasthenie) gerechnet wurden. Der Schularzt und Sanitätsrat Ferdinand August Schmidt machte das lange Sitzen in unorthopädischen Schulbänken nicht nur verantwortlich für Rückgratsverkrümmungen, sondern sah darin, „verbunden mit der Luftverschlechterung im gefüllten Schulsaal", auch die Ursache einer „Herabminderung der Lungen- und Herztätigkeit", die wiederum zusammen mit einer „Überanstrengung des Nervensystems" verantwortlich sei für den gerade „bei unseren Schulmädchen am weitesten verbreiteten Schwächezustand" ([79]: 152).

Die Schulhygienedebatte und mit ihr die Forderung nach der Einführung des Schulturnens reihten sich ein in eine generelle Krisenwahrnehmung, verbunden mit der rasch voranschreitenden Modernisierung. Die Rationalisierung und Technisierung von Arbeit und Leben, Schule und Lernen, die zunehmende Urbanisierung und Beschleunigung ließ Sehnsüchte nach einer Rückkehr zur Natur aufkommen. Natur wurde eine Ausgleichsfunktion gegenüber der ständigen Reizüberflutung – gefolgt von nervösen Störungen ([8]; [70]; [75]) – zugeschrieben. Tendenzen in diese Richtung lassen sich etwa auch 1905 am Kunsterziehungstag in Hamburg, der der Musik und der Gymnastik gewidmet war, erkennen ([44]). Damit einher ging der Ruf nach alternativen, am natürlichen Rhythmus orientierten Bewegungsformen sowie der Aufnahme gymnastischer Elemente. Problematisiert wurde insbesondere die Tatsache, dass die auf Spieß zurückgehenden Frei- und Ordnungsübungen den Turnenden ein hohes Maß an Anspannung, Konzentration und geistiger Aufmerksamkeit abverlangten und somit diejenigen Tendenzen verstärkten, an denen das moderne Subjekt gemäß physiologisch unterfütterter Modernisierungskritik bereits zunehmend litt.

Ein Bewusstsein für die problematischen Auswirkungen der modernen Zivilisation sowie deren physiologisch-wissenschaftliche Deutung lässt sich auch der bereits erwähnten „Theoretisch-praktischen Anweisung zur Erteilung des Turnunterrichts in Knaben- und Mädchenschulen" von 1898 entnehmen. Leitend für die Methodik des Turnunterrichts war nun die Einsicht in die „innige[r] Verbindung und Wechselwirkung" von „Leib und Seele" (1). Gerade ein „Kulturvolk", wie das angesprochene, bedürfe einer „naturgemäßen Jugenderziehung", denn „[m]it den Fortschritten der Kultur seien die Anforderungen an die geistige Leistungsfähigkeit gewachsen, und damit sei zugleich die Verpflichtung dringender geworden, durch geregelte Leibesübungen der geistigen Bewegung und Erregung ein Gegengewicht zu bieten" (ebd.). Sowohl die Problematisierung wie die Ableitung von Gegenmaßnahmen erfolgten in der „Theoretisch-praktischen Anweisung" auf neuer physiologischer Wissensgrundlage. Tatsächlich tauchen hier nun erstmals lauter physiologische und medizinische Begriffe und Argumente auf. Es ist die Rede vom „Muskelsystem", „Muskelfasern", dem „Stoffwechsel", „Herz", „Kreislauf", „Lunge", „verdorbenen Gase[n]" und v.a. dem „Nervensystem" (5f.). Der schon früher postulierte Zusammenhang zwischen Leibesübung und Geistesübung, zwischen Leibeskraft und Geisteskraft wurde auf der Grundlage physiologischer Erkenntnisse wissenschaftlich neu gefasst. Man dürfe nämlich „nicht dabei stehen bleiben, die Leibesübungen nur deshalb zugleich für Geistesübungen zu halten, weil bei ihnen gelegentlich zugleich Selbstüberwindung oder Unterordnung des Einzelnen unter ein Ganzes oder denkende Auffassung räumlicher Verhältnisse geübt wird" – so die bisherige Annahme –, „sondern man muß sich gewöhnen, die ganze zweckmäßige Leibesthätigkeit selbst im Lichte der zu Grunde liegenden geistigen Funktionen zu betrachten" (7) – so das neue Paradigma.

Ebenfalls der „Theoretisch-praktischen Anweisung" zu entnehmen ist, dass das als relevant erachtete physiologische Körperwissen durchsetzt war mit Geschlechterwissen. So litten Mädchen in besonderem Maß an „Gesundheitsstörungen" – „Muskel- und Nervenschwäche, Bleichsucht, Schmal- und Engbrüstigkeit, Verkrümmungen des Rückgrats" (12) werden angeführt –, weshalb für diese das Turnen noch wichtiger sei als für die Knaben. Dabei sollten die Übungen für die Mädchen einfacher und leichter sein, denn es galt Rücksicht zu nehmen auf deren „feinere[n] Knochenbau", das „schwächere Muskelsystem" und die insgesamt „zartere Struktur des weiblichen Organismus" (13). Wegen ihres geringeren Leistungsfähigkeit sollte der Schwerpunkt auf den traditionellen Frei- und Ordnungsübungen, ergänzt durch Reigen und Spiele, liegen. Ganz abzusehen sei von tiefen Rumpf- und Kniebeugen sowie Grätschen (19).

4 Die Frau als Mängelwesen

Die in der „Theoretisch-praktischen Anweisung" anklingende humanwissenschaftliche Bestimmung der Frau als Mängelwesen hat eine lange Tradition. Bis weit ins 20. Jahrhundert erscheint der männliche Körper in den einschlägigen Lehrbüchern unverändert als Norm, während die weiblichen Merkmale tendenziell relational zu jenem, immer an zweiter Stelle, als Abweichungen zur Darstellung kommen (z.B. [13]; [37]; [5], [6]). Vor allem wurden immer wieder die Gestalt und die räumliche Anordnung der weiblichen Geschlechtsorgane durch deren Lage innerhalb des Leibes bei gleichzeitiger Offenheit nach außen mit einer besonderen Anfälligkeit für Krankheiten in Zusammenhang gebracht, was wiederum auf deren Unvollkommenheit hindeutete ([24]; [75]). Auch Menstruation, Schwangerschaft und Geburt wurden in der wissenschaftlichen Literatur des 19. Jahrhunderts häufig als „abstoßend und pathologisch" bewertet ([63]: 16). Gemäß dem Begründer der Gynäkologie Johann Christian Gottfried Jörg etwa bilden Mann und Frau „eine Hälfte des gesamten Geschlechtsapparates", dennoch sei anzunehmen, „daß der Mann die einfachere und vollkommenere Hälfte besitze, das Weib dagegen mit der unvollendetern und mannigfaltigeren Hälfte begabt worden sei" ([25]: 22). Fast gleich lautet noch 1900 das Urteil Max Runges, nur dass er sich jetzt auf „biologische Thatsache[n]" (Runge 1900: VI) und die reine Objektivität, wie sie nur dem Gynäkologen zukomme, berufen konnte. „[D]ie Frage, ob das Weib von der Natur anatomisch und physiologisch ebenso vollkommen angelegt ist wie der Mann" (Runge 1900: 25), musste er angesichts verschiedener organischer ,Fehlkonstruktionen', die ihr eine Unzahl von Krankheiten und Beschwerden von der Menstruation bis zum Kindbett bescheren, verneinen. Häufig tritt die Sonderstellung und Abwertung des weiblichen gegenüber dem männlichen Körper im 19. Jahrhundert in Verbindung mit Vorstellungen auf, wonach die Frau gegenüber dem höher entwickelten Mann auf einer tieferen Stufe der Evolution stehen geblieben sei ([89]). Die Annahme führte, wohl beeinflusst von der von Ernst Haeckel 1866 formulierten biogenetischen Grundregel , auch zu Vergleichen der Frau mit dem Kind. Die behauptete Kindlichkeit der weiblichen Körpermerkmale und -beschaffenheit fungierte ebenfalls als Defizitbeschreibung, so etwa noch 1906 in einer Reihe von Vorträgen des Anatomen Oskar Schultze unter dem Titel „Das Weib in anthropologischer Betrachtung". Der Autor kommt zu dem Schluss, dass die Frau hinsichtlich Körperbau dem Kind näher stehe als dem Mann ([83]: 9). Belege dafür lieferten ihm neben Größe und Gewicht der inneren Organe (Dünndarm, Niere, Hirn etc.), Körpertemperatur und Muskulatur v.a. die Gestalt des Schädels. Schultze erklärte all dies mit dem Menstruationszyklus, denn „[d]ie Periodizität" sei nicht nur „eine wesentliche Ursache für die Tatsache, dass das Weib vor allem an Ausbildung der Muskulatur und an Kraft dem Manne nicht gleichkommt", sondern auch dafür, „dass seine Organe zum grossen Teil dem kindlichen Typus näher bleiben" ([83]: 55).

Die zitierten Beispiele legen den Schluss nahe, dass gerade die neuen Wissenschaften vom Menschen, das Vordringen naturwissenschaftlicher Zugänge und Methoden in der Physiologie, Medizin, Anthropologie oder Psychologie im 19. Jahrhundert das Interesse auf die körperlichen und psychischen ,Eigenheiten' der Frau gelenkt haben. Diese Annahme bestätigt der Blick in die so genannte „Physiologie der Leibesübungen", die sich um die Jahrhundertwende als ein eigenes praxisbezogenes Forschungsfeld ausdifferenzierte. Die daraus hervorgegangenen Publikationen adressierten ein breites wissenschaftliches Publikum (insbesondere Ärzte), Funktionäre (Schulverwaltung, Turnerschaft, Lehrpersonen etc.) sowie sportlich und körpererzieherisch interessierte Laien. Lag diesen zuerst der (Leistungs-)Körper im Allgemeinen – und damit der männliche Körper – zugrunde ([35], franz. Original [34]), finden sich darin nach der Jahrhundertwende vermehrt auch Ausführungen speziell den weiblichen Körper betreffend. So heißt es etwa in Schmidts „Physiologie der Leibesübungen" (1914), dass das frühere Einsetzen der „Reifeentwickung" bei den Mädchen „besondere Rücksichtnahme" erfordere – „wie überhaupt nach dem 12. Lebensjahre die Leibesübungen der Mädchen einen anderen Charakter annehmen müssen als die der Knaben" ([81]: 153). Ferdinand August Schmidt (1852-1929) war der wohl eifrigste Förderer des Turnens im Kaiserreich bis nach dem Ersten Weltkrieg und machte sich als Arzt um die medizinisch-wissenschaftliche Fundierung eines orthopädischen Schulturnens verdient ([78]). Seiner Propagierung der Leibeserziehung der Mädchen lagen geschlechtsspezifische körperliche Defizitannahmen zugrunde, wie sie auch in der „Theoretisch-praktischen Anweisung zur Erteilung des Turnunterrichts in Knaben- und Mädchenschulen" zu finden sind (vgl. Kap. 3). Schmidt erkannte darin ein geeignetes Mittel zur Vorbeugung und Korrektur der bei den Mädchen scheinbar besonders häufigen Haltungsfehler, als deren Ursache er eine allgemeine Muskelschwäche erkannte.

Im nächsten Kapitel soll die Ausdifferenzierung eines geschlechtsspezifischen Mädchenturnens genauer untersucht werden. Als vorläufiger Endpunkt dieses Prozesses kann im Untersuchungszeitraum der preußische Leitfaden von 1913 gelten, der nun speziell das Schulturnen der Mädchen adressierte und 1916 mit geringfügigen Änderungen nochmals neu herausgegeben wurde. Grundlage der Analysen bietet die einschlägige Zeitschriftenliteratur, im Folgenden insbesondere die „Zeitschrift für Schulgesundheitspflege" (1888-1922), die Zeitschrift „Körper und Geist" (1902-1920), die „Zeitschrift für Turnen und Jugendspiel" (1892-1902) sowie die „Monatsschrift für das Turnwesen" (1882-1920). Weiter hinzugezogen werden einschlägige Lehrmittel speziell für den Unterricht des Mädchenturnens, wie sie ab den 1890er Jahren vermehrt aufkamen.

5 Die Entwicklung des Mädchenturnens im Kontext von Körper- und Geschlechterwissen

Sowohl der „Leitfaden für den Turnunterricht in den Preußischen Volksschulen" (1895) wie die „Theoretisch-praktische Anweisung zur Erteilung des Turnunterrichts in Knaben- und Mädchenschulen" ([55]) (vgl. Kap. 2) sprechen noch für ein Mädchenturnen, das sich an den im Knabenturnen etablierten Übungsformen orientierte, wobei es lediglich zu einer graduellen Anpassung des Schwierigkeitsgrades u.a. mittels Ausschluss gewisser Übungen kam. In den Jahren bis zum Erlass eines preußischen Leitfadens speziell für das Mädchenturnen (1913) fand nicht nur eine rege Diskussion bezüglich der Ausgestaltung und Reform des Turnens für Mädchen statt, es entstand auch eine ganze Reihe von Handreichungen für den Gebrauch von Turnlehrern und Turnlehrerinnen für den Turnunterricht der Mädchen. Beides verweist darauf, dass sich bis zum Ersten Weltkrieg ein gewisser Konsens hinsichtlich des prinzipiellen Nutzens und der Notwendigkeit des Schulturnens für Mädchen etabliert hatte. Im Vordergrund stand allerdings die Frage, wie dieses (in Abgrenzung zum Knabenturnen) zu gestalten sei. Diese Erörterungen und die Rolle, die das zeitgenössische Körper- und Geschlechterwissen dabei als argumentatorischer Bezugspunkt spielte, gilt es im Folgenden näher zu beleuchten.

5.1 „Ist ein verschiedener Turnstoff für die Knaben- und Mädchenschulen aus rein physiologisc...

Die Frage, ob „ein verschiedener Turnstoff für die Knaben- und Mädchenschulen aus rein physiologischen Gründen erforderlich" sei, bildete den Titel eines Artikels, der [56] in der Monatsschrift für das Turnwesen erschienen ist. Die Fragestellung zeigt, dass die Physiologie eine wichtige Basis entsprechender Überlegungen darstellte, während nun etwa Kriterien der Ästhetik und Schicklichkeit zunehmend in den Hintergrund traten. Die Mehrheit der beigezogenen Experten, darunter F.A. Schmidt und der Mediziner Richard Zander, relativierte auf der Grundlage physiologischer und anatomischer Erkenntnisse Unterschiede körperlicher Art zwischen den Geschlechtern, ausgenommen die Geschlechtsorgane. Man war sich deshalb weitgehend einig, dass das Turnen der Mädchen bis zur Pubertät keine besonderen Rücksichtnahmen erforderte. Graduell anders sah es allerdings ab dem Einsetzen der Reifezeit aus. Bei gewissen Übungen, insbesondere bei Sprüngen und Niedersprüngen, wie sie auch beim Geräteturnen vorkamen, mahnte die Mehrheit der Befragten zur Vorsicht. Grund waren Gefahren, die man mit der Erschütterung der weiblichen Geschlechtsorgane in Verbindung brachte. Auch deshalb erachtete man Lektionen, die der Haltungskorrektur und -prophylaxe sowie der Stärkung des Unterleibs dienten, als für Mädchen besonders geeignet. Diese Übungen waren an das so genannte Schwedische Turnen angelehnten (vgl. Kap. 5.2), welches denn auch, wie der Artikel hervorhob, keine geschlechtsbezogenen Differenzierungen kannte. Insgesamt tauchen in dem Artikel drei Schwerpunkte auf, um die sich die Diskussionen um das Mädchenturnen vorerst im Allgemeinen drehten: 1) die Frage, welche aus dem Knabenturnen überbrachten Turnelemente, gegebenenfalls angepasst an die weibliche Konstitution, übernommen und welche prinzipiell auszuschließen waren; 2) die Propagierung des Schwedischen Turnens gerade für die Mädchen; 3) die Debatte um die weibliche Pubertät, die für die Mädchen als deutlich belastender betrachtet wurde als für die Jungen.

Mit Bezug auf die erste Frage lassen sich einige stets wiederkehrende Themen identifizieren, darunter die Geräteübungen (insbesondere Barren, Reck, Bock, Pferd), die mit Blick auf die weiblichen Leistungs- und Belastungsgrenzen debattiert wurden. Damit in Zusammenhang stand die Frage der Angemessenheit von Sprungübungen ([73]: 143). Für den Rostocker Arzt Dornblüth etwa verstand es sich 1896 in seinem Beitrag „Das Turnen in der Mädchenschule" in der „Zeitschrift für Schulgesundheitspflege" noch von selbst, dass „alle gewaltsamen Kraft-, Gelenkigkeits- und Mutübungen vom Turnen der Mädchen vollständig auszuschließen" seien. „Wellen und Umschwünge, Aufstemmen, Knickstütze, Bock- und Pferdeübungen passen nicht für sie. Dagegen bieten Hangübungen an Reck, Leiter, Ringen und Rundlauf, leichtere Stütz- und Schwingübungen an diesen wie am Barren, Gehen auf der Schwebekante und auf dem Baum, Springen, hoch und weit, Schwungseil und Klettergerüst (für leichtere Formen)" zweckmäßige Übungsformen ([12]: 119). Um Erschütterungen der Beckenorgane zu vermeiden, riet dagegen der Berliner Arzt Karl Gerson in seinem Artikel zur „Hygiene des Mädchenturnens" von 1898 nicht nur vom Weit- und Hochsprung, sondern auch von Schwungübungen an Geräten ab ([15]). Noch restriktiver gab sich Schulrat Dr. [33] in der Monatsschrift für das Turnwesen. Er wollte das Geräteturnen am liebsten ganz aus dem Mädchenturnen verbannen, insbesondere aber Barren, Pferd, Bock, Reck und dabei v.a. Hock- und Spreizübungen sowie Sprünge, vom Klettern ganz zu schweigen. Doch auch Freiübungen mit Grätsche oder tiefer Hocke kamen für den Autor nicht in Frage. Im Gegensatz zu seinem Kollegen Gerson, der anatomische Argumente vorbrachte, waren für Küppers weiterhin die Kriterien der Anmut und Sittlichkeit leitend.

Blickt man in die Lehrmittel für das Mädchenturnen, so zeigen sich hinsichtlich der problematisierten Übungen durchaus Unterschiede. Sowohl die Zeitschriften- wie die Turnliteraturanalyse verweist dabei aber für die Zeit bis zum Ersten Weltkrieg insgesamt auf folgende Tendenzen: den zunehmenden Einbezug des Geräteturnens sowie des Springens, wobei die Frage der Schicklichkeit gegenüber der Gesundheit mehr und mehr in den Hintergrund trat; eine Steigerung der Leistungsanforderungen und schließlich vor allem auch eine Ausdifferenzierung von spezifischen, an den weiblichen Körper angepassten gymnastischen Übungsformen.

Als Beispiel eines frühen Lehrmittels für das Mädchenturnen an höheren Schulen, das nachweislich einige Verbreitung im gesamten Reich fand ([73]), mag Klara Heßlings „Wegweiser zur Erteilung eines methodischen Turnunterrichts" von [23] dienen. Erwartungsgemäß stehen Frei- und Ordnungsübungen im Zentrum, werden aber ergänzt durch Turnspiele und recht anspruchsvolle Geräteübungen. Zwar spricht sie von besonderen Rücksichtnahmen auf die zartere Konstitution des weiblichen Geschlechts, jedoch ohne gewisse Übungen von vornherein auszuschließen.

Etwas anders sieht es bezüglich der von Alfred Maul verfassten Anleitungen zum schulischen Mädchenturnen aus, denen einige Vorbildwirkung zukam. Seine „Turnübungen für Mädchen" in vier Teilen (1879) und der daraus hervorgegangene „Turnunterricht in Mädchenschulen" erlebten viele Auflagen und fanden in den untersuchten Zeitschriften eine positive Aufnahme (z.B. [48]). Auch hier findet man die übliche Aufteilung in Frei- und Ordnungsübungen, Turnspiele und Geräteübungen, wobei letztere in ihrem Anspruch sehr reduziert waren, und zwar in erster Linie auf Übungen mit Handgeräten (Stab, Hanteln etc.) und dem Springseil ([38]). Interessant sind einige Veränderungen in der dritten Auflage von [39]. Die Geräteübungen fanden eine – wenn auch geringe – Erweiterung; v.a. aber wird die Bedeutung des Mädchenturnens in der den Lektionenplan rahmenden Programmatik („Die Aufgaben des Turnbetriebs") nun hervorgehoben, während andere Formulierungen, die in der Auflage von 1892 auf eine Herabsetzung der Wichtigkeit und der Anforderungen an das Mädchen- gegenüber dem Knabenturnen hinauslaufen, wegfielen.

Ein weiteres auflagenstarkes und – darauf deuten erneut die positiven Rezensionen in den untersuchten Fachzeitschriften (z.B. [95]; [10]) – breit rezipiertes Lehrwerk bildete der „Lehrgang für das Mädchenturnen" zuhanden der Turnlehrer und Turnlehrerinnen von Alfred Böttcher und Arno Kunath. Auch hier erweist sich der Vergleich zwischen der ersten Auflage von 1897 und den späteren Ausgaben als aufschlussreich. Bereits in der ersten Auflage finden sich bezogen auf [38] einige vergleichsweise anspruchsvolle Geräteübungen, die auch den Niedersprung sowie Hang- auch Stützübungen einschließen. Ab der zweiten Auflage von 1903 rückten gesundheitliche Aspekte stärker in den Vordergrund, und zwar mit dem dezidierten Ziel, „Muskel- und Nervenleiden" sowie Haltungsschäden entgegenzuwirken (Böttcher und Kunath 1897: IV). Entsprechend wurden die Geräteübungen nun vermehrt auf die Kräftigung der Rücken- und Bauchmuskulatur ausgerichtet sowie Anregungen aus der Schwedischen Gymnastik aufgenommen. Zudem fand bis zur fünften Auflage von 1911 eine deutliche Reduktion der Ordnungsübungen statt (Böttcher und Kunath 1911: IVf.).

Die Beschränkung der (geistig ermüdenden) Ordnungsübungen war eine wiederkehrende Forderung, bei der mit psychophysiologischen Erkenntnissen argumentiert wurde. Vor allem aber trat das bereits mehrfach erwähnte Schwedische Turnen ab der Jahrhundertwende zunehmend in den Fokus, gerade mit Bezug auf das Mädchenturnen. Ein eifriger Proponent schwedisch-gymnastischer Turnelemente war der bereits zitierte Mediziner und Sanitätsrat Prof. Dr. Ferdinand August Schmidt. Er war maßgeblich mitverantwortlich für eine entsprechende Reform des an Spieß orientierten Mädchenturnens, gehörte zu den Herausgebern von „Körper und Geist" und publizierte regelmäßig in den untersuchten Zeitschriften. Im Gegensatz zu den stark elementarisierenden (Glieder-)Übungen des herkömmlichen ,deutschen' Freiturnens lag ein Schwergewicht des Schwedischen Turnens auf der Kräftigung der Rumpfmuskulatur und damit des Körpermittelpunktes. Man versprach sich davon eine heilgymnastische Wirkung auf die Körperhaltung und die Atmung.

5.2 Schwedisches Turnen

Obwohl sich im Untersuchungszeitrum eine Tendenz in Richtung Angleichung der turnerischen Leistungsanforderungen an Mädchen und Jungen abzeichnet, hielten sich einige Defizitzuschreibungen an den weiblichen Körper hartnäckig. Dazu gehörte eine besondere Neigung zu Haltungsproblemen, die man aus einem früheren Beginn der Geschlechtsreife und des Wachstums bei den Mädchen sowie aus anatomischen Unterschieden ableitete. Mediziner sahen in dem intensivierten Längenwachstum ab ca. dem zehnten Lebensjahr, einhergehend mit einer Veränderung der Beckenform und des Körperschwerpunktes, die Ursache dafür, dass Haltungsfehler bei Mädchen besonders verbreitet waren. Dem nun sollte eine am Schwedischen Turnen orientierte Gymnastik, insbesondere Rumpfübungen oder etwa Hangübungen an der Sprossenwand, entgegenwirken ([78], 1914). Problematisiert wurde aber auch die häusliche Erziehung der Mädchen, die diese allzu häufig zur sitzenden Tätigkeit verurteilte und sie durch häusliche Arbeiten zusätzlich belastete (Poetter 1908). Wilhelm Reese aus Hamburg beurteilt in seinem Artikel „Über die körperliche Erziehung der Mädchen im Entwicklungsalter" (1909) die sitzende (Hand-)Arbeit der Mädchen als besonders ungesund. Sie hemme die körperliche Entwicklung, führe zu Muskelschwund und Blutarmut und sei äußerst schädlich für das Nervensystem ([71]: 323). Seine Forderung lautete: „Das Weib muß wieder Vollmensch werden" ([71]: 325). Dies könne aber nur durch eine Leibeserziehung gelingen, die umfassender sei als der übliche Turnunterricht, d.h. ergänzt werde durch Schwimmen, Wandern, Jugendspiele etc. Hinzu käme, so der Chemnitzer Stadtbezirksarzt Dr. Poetter ([61]), dass das weibliche Geschlecht noch stärker unter den gesundheitsschädlichen Auswirkungen des modernen städtischen Lebens litt als das männliche (ebd.; auch Krieg 1914). Nicht nur partizipierten immer mehr Mädchen an einer – auch höheren – schulischen Bildung, auch die Anforderungen an die erwachsene Frau in der Arbeits- und Berufswelt hatten sich verändert. Die Aufmerksamkeit galt deshalb nun nicht mehr nur den Schulmädchen, sondern weitete sich aus auf die leibliche Ertüchtigung auch der schulentlassenen Mädchen und jungen Frauen ([85]). Man sah in der Schwedischen Gymnastik ein geeignetes Mittel, um den weiblichen Teil der Bevölkerung von der Schulzeit an für die Bewältigung ihrer häuslichen und anderweitigen Pflichten zu ertüchtigen und zugleich einen Ausgleich zu diesen Belastungen und Beanspruchungen zu bieten.

Zu den Proponent:innen der Schwedischen Gymnastik speziell für Mädchen und Frauen gehörte Dorothea Meinecke. Sie ging von den üblichen Defizitannahmen hinsichtlich des Mädchenkörpers aus, die von Blutarmut bis zu fehlerhafter, schlaffer Körperhaltung reichten. Auch ihr Plädoyer für die Schwedische Gymnastik geht dabei mit einer Kritik an den Ordnungsübungen einher, die im Mädchenturnen traditionell breiten Raum einnahmen ([40]). Meinecke wie Schmidt verbanden mit dem Anspruch, die Mädchen und Frauen mittels Leibesübungen auf ihre Lebensaufgaben vorzubereiten, durchaus die stärkere Partizipation der Frauen am öffentlichen Leben ([79]; [41]): Ob nun durch „die Not oder die Sehnsucht" hinausgetrieben „ins öffentliche Leben", wolle doch niemand die Frau „müde ins Haus zurückkehren sehen" ([41]: 137f.). Die Schwedische Gymnastik sollte es der modernen berufstätigen und anderweitig engagierten Frau also ermöglichen, ihren häuslichen Pflichten weiterhin in voller Frische nachzukommen. Auch für die Frau wurde die Arbeit an ihrem Körper um die Jahrhundertwende und dann verstärkt um und nach dem Ersten Weltkrieg zur nationalen Pflicht, zur Notwendigkeit im Kampf ums Dasein, und deren Förderung zur sozialpolitischen Aufgabe ([42]; z.B. auch Pulwer 1896).

5.3 Pubertät und Menstruation

Im Vergleich zu den Jungen wurde die Reifeentwicklung im Fall der Mädchen physisch und psychisch als deutlich belastender aufgefasst ([12]), weshalb die Überlegungen hinsichtlich Leibesübungen bei diesen deutlicher auf die Pubertät zentriert waren ([4]). Damit rückte der Fokus auf den weiblichen Geschlechtsapparat, den es von früh an zu kräftigen galt, und die Menstruation, welche nun zunehmend unter energetischen Gesichtspunkten abgehandelt wurde. Dabei berief sich der Hamburger Arzt J. Krieg in seinem Artikel „Über die Notwendigkeit einer Reform der körperlichen Erziehung des weiblichen Geschlechts" von 1914 wiederholt auf die Sonderphysiologie des weiblichen Geschlechts und beurteilte es als „Hauptfehler" der Vergangenheit, „daß man ohne Überlegung das Turnen der Knaben auch den Mädchen gab" (Krieg 1914: 379). Gemäß Krieg litt die große Zahl der Mädchen und Frauen unter „mehr oder weniger starken Störungen der Verdauung und der Menstruation" (Krieg 1914: 378), weshalb für ihn die Menstruation zu den „großen Schattenseiten" weiblichen Turnens und Sporttreibens zählte. Derweil er das Turnen während der Monatsblutung dem persönlichen Empfinden überlassen wollte, lag für ihn die Sache bezüglich der Tage unmittelbar davor ganz anders. Als Grund gibt er eine „außerordentliche Ansammlung von Blut in den Unterleibsorganen und deren zuleitenden Gefäßen" an (Krieg 1914: 380), begleitet von verschiedenen Symptomen, darunter Kopfschmerzen aufgrund der „Blutleere im Gehirn", „auch starke Reizbarkeit, Launen und ähnliches" (Krieg 1914: 381). Deshalb galt es während der „Vorperiode" auf alle Übungen zu verzichten, die die Blutzufuhr zum Unterleib erhöhten, namentlich solche, die zentrifugale Kräfte freisetzten; hingegen empfahl Krieg Lauf- und Sprungübungen, da diese zur Verteilung des Blutes im Körper beitrugen.

Bei aller Uneinigkeit in den Details sprachen die Befunde dafür, dass sich die zyklischen Veränderungen auf Größen wie Atmung, Blutdruck, Körpertemperatur und Herzfrequenz auswirkten und zu einer Verringerung der Muskelkraft führten. Dem energetischen Paradigma folgte auch der Schweizer Frauenarzt [19]. Er warnte vor zu großen physischen Anstrengungen während der Pubertät, da dieses Entwicklungsalter ganz besondere Anforderungen an den „Haushalt des Organismus" stelle ([19]: 33). Grundsätzlich erkannte er aber in der körperlichen Ertüchtigung der Frau hin zu einem funktions-tüchtigen Muskelsystem „einen wesentlichen Faktor für den glatten Ablauf der Geburt" ([19]: 32). Auch damit ging eine Favorisierung von Übungen zur Stärkung des Rumpfes, d.h. der Rücken-, Beckenboden- und Bauchmuskulatur einher. Dornblüth (1909) empfahl, „während der kritischen Tage alle körperlichen Übungen" zu unterlassen, und zwar ebenfalls wegen dadurch hervorgerufener Erhöhung des Blutdruckes im Bereich der Bauchorgane (Dornblüth 1909: 15). Schmidt wiederum riet, auf das Springen insbesondere während der prämenstruellen „Hyperämie" (Blutstau) zu verzichten. Er und andere Autor:innen befürchteten, dass „alle heftigeren Erschütterungen des Körpers oder [...] plötzliche Änderungen in der Blutverteilung (z. B. durch schnelles Eintauchen in kaltes Wasser beim Baden) oft dauernde Schäden" etwa „in der Lagerung der Unterleibsorgane usw. zur Folge haben" ([81]: 154).

Jene Argumente geben einen Hinweis darauf, dass der weibliche Körper in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg zunehmend als „Gattungskörper" (Sobiech 1994; [67]) Betrachtung fand – eine Tendenz, die nach dem (verlorenen) Krieg noch zunehmen sollte. Demgegenüber blieben Stimmen, die sich konsequent gegen Annahmen einer weiblichen Sonderart in körperlicher, geistiger und seelischer Hinsicht aussprachen, deutlich in der Minderzahl. Neben dem bereits erwähnten Arzt Richard Zander (vgl. Kap. 5.1), der sich in Zeitschriften- und anderen Beiträgen (vgl. bereits [97]) immer wieder für die weitestgehende Gleichartigkeit der männlichen und weiblichen Körperbeschaffenheit hinsichtlich Muskeln, Nerven, Organen und deren Funktionsweise aussprach, lassen sich die Arbeiten der Ärztin Alice Profé nennen. Sie wandte sich in ihren Beiträgen (z.B. [68], 1913) durchaus polemisch gegen vom Mann aufoktroyierte Vorstellungen betreffend die Eigenart des weiblichen Gemütslebens, ihrer Anmut und Grazie , welche die Mädchen vom Geräteturnen fernhalten und zum Reigenturnen verurteilen.

6 Der „Leitfaden für das Mädchenturnen in den preußischen Schulen" (1913)

Die Tatsache, dass Preußen 1913 einen ersten Leitfaden speziell für das Mädchenturnen herausgab, zeigt, dass sich ein solches bis zum Ersten Weltkrieg in spezifischer Form herausgebildet und etabliert hatte. In diesem Sinn formulierte F.A. [80] anlässlich einer Sitzung des Zentralausschusses für Volks- und Jugendspiele im Ausschuss für die Ertüchtigung des weiblichen Geschlechts als erste These: „Daß im Schulalter eine geeignete körperliche Erziehung für die Mädchen genau so notwendig sei wie für die Knaben, bedarf keiner besonderen Erörterung. Die Gründe dafür sind bekannt" (Tagesordnung des XIII. Deutschen Kongresses für Volks- und Jugendspiele [57]: 49). Der Leitfaden sollte in sämtlichen Schulen mit Mädchenturnen sowie in der Lehrerinnenbildung Anwendung finden, scheint aber in erster Linie die höheren Mädchenschulen bzw. Mittelschulen im Blick gehabt zu haben. In ihm kam der Ausbildung einer guten, gesunden Körperhaltung ein besonderer Stellenwert zu. Im Gegensatz zu den früheren, vom Knabenturnen übernommenen und an die Leistungsfähigkeit der Mädchen angepassten Übungen wurde der Anteil komplexer Ordnungsübungen und den Körper stark elementarisierender, statischer Freiübungen nun deutlich reduziert. An deren Stelle traten Übungsformen, die v.a. der Kräftigung des Unterleibes und insbesondere der Beckenmuskulatur dienten. Sie zielten auf die Vorbeugung und Korrektur der viel beklagten Haltungsfehler sowie die Stärkung des Geschlechtsapparates. Eine Ausweitung fand auch die Abteilung „Spiele".

Graph: Abbildung 2 Freiübungen: Haltungsübung (Leitfaden 1913: 55)

Grundsätzlich galt, „daß Schülerinnen, die sich nicht wohl fühlen, beim Turnen in jeder Weise zu schonen sind, namentlich bei Beginn der Reifeentwicklung" (14, Hervorhebung i.O.). Auch an anderen Stellen fordert der „Leitfaden" von 1913 besondere Rücksichtnahme, sei dies um die Verletzungsgefahr zu minimieren oder um die schwächeren Schülerinnen zu motivieren. Im Vergleich zum Knabenturnen sollte es weniger um Leistung gehen als um die Förderung der Gesundheit. Dennoch gab es auch anspruchsvolle Lektionen, etwa im Geräteturnen. Sprünge aller Art waren durchaus vorgesehen, etwa auch Stabhochsprung, wobei besonders auf weiche Landung und die Benutzung von Matten zu achten war. Stützübungen (z.B. Barren, Reck, Pferd), wie sie im Zusammenhang mit dem Mädchenturnen oftmals kritisiert wurden, kamen vor, der Vorzug wurde jedoch den im Schwedischen Turnen verwendeten Hangübungen (z.B. Reck, Sprossenwand, Ringe) gegeben. Auch die richtige Atmung fand eigens Berücksichtigung. Die im Vorangehenden v.a. anhand der Zeitschriftenliteratur herausgearbeiteten Tendenzen schlugen sich somit unmittelbar in den neuen Normen nieder.

Der (Sport-)Pädagoge Edmund Neuendorff setzte den neuen Leitfaden für das Mädchenturnen in seiner Besprechung in der „Monatsschrift für das Turnwesen" mit der Schaffung eines neuen preußischen Mädchenturnens gleich. Durch ihn würde dieses ganz den Zielen des Knabenturnens angeglichen, er habe „den Begriff eines besonderen und eigenartigen Mädchenturnens überhaupt zerstört" ([49]: 90). Dem widersprach offenbar nicht, dass, wie er selber bemerkte, der Leitfaden für den Turnunterricht der Mädchen im Geräteturnen stärkeres Gewicht auf Haltungsübungen legte und einige Geschicklichkeitsübungen wegfielen. Auch war für Mädchen z.B. der Reit- und Grätschsitz am Barren nicht vorgesehen – wohl doch noch ein Zugeständnis an überkommene Sittlichkeitsvorstellungen, wie Neuendorff bedauernd feststellt. Hingegen begrüßte dieser die Aufnahme von für Mädchen besonders geeigneten Übungen mit Bällen, Keulen, Springübungen mit Reifen sowie spezielle Geh- und Hüpfübungen (ebd.).

Die bereits vor und dann v.a. nach 1900 sich vollziehende Einbettung der Überlegungen zur schulischen Körpererziehung in den Modernisierungs- und Überbürdungsdiskurs ließ gesundheitliche Aspekte des (Schul-)Turnens allgemein in den Vordergrund rücken, scheint aber die Überlegungen zum Mädchenturnen besonders beeinflusst zu haben. Damit einhergehend lassen sich im Leitfaden von 1913 nun auch reformpädagogische bzw. lebensreformerische Motive (etwa das Credo „Licht, Luft und Wasser") erkennen. Schließlich legte dieser besonderes Gewicht auf Übungen, „die vornehmlich geeignet erscheinen, die wichtigsten Organe des Körpers durch planmäßige Erhöhung ihrer Tätigkeit in Licht und Luft nachhaltig zu kräftigen" (Leitfaden 1913: 3). Hinzu kam die Aufnahme rhythmisch-gymnastischer Elemente.

Die Orientierung an Natürlichkeit, Rhythmus und einem ganzheitlichen Gesundheitsverständnis trug zwar eine weibliche Signatur, war aber kennzeichnend für ein neues körperkulturelles Paradigma, das in der Weimarer Republik – jenseits geschlechtlicher Differenzierungen – zur Hochblüte gelangen sollte ([91], [93]). Auf eine entsprechende Gesamttendenz deutet der „Entwurf zu einem Leitfaden für den Turnunterricht der männlichen Jugend in den preußischen Schulen" von 1919. Zwischen diesem und dem Leitfaden von 1913 für das Mädchenturnen existieren Analogien sowohl im Wortlaut wie Aufbau, so dass die Annahme berechtig ist, dieser hätte jenem als Vorlage gedient.

7 Fazit & Ausblick

Gegenstand der vorangehenden Ausführungen war die Einführung und Etablierung des Mädchenturnens in den Volks- und höheren Schulen mit Fokus auf Preußen. Dabei zeigte sich, dass sich das Turnen für Mädchen zum Zeitpunkt von dessen verpflichtender Aufnahme in die Curricula, also an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, noch weitgehend am Knabenturnen orientierte. Allerdings fanden sich bereits kritische Stimmen, die die Ausbildung eines speziell an den Voraussetzungen und Bedürfnissen von Mädchen orientierten Turnens forderten. Ein entsprechender Differenzierungsprozess fand in der Zeit bis zum Ersten Weltkrieg statt. Dafür spricht auf der normativen Ebenen auch der Erlass eines preußischen Leitfadens speziell für das Mädchenturnen im Jahr 1913. Die Fragen nach dem Wie und Weshalb jenes Prozesses lassen sich auf der Grundlage folgender Ergebnisse detaillierter beantworten.

Über den gesamten Zeitraum war die Annahme leitend, dass die Leistungsanforderungen an das Mädchenturnen aufgrund physiologischer und anatomischer Defizite des weiblichen gegenüber dem männlichen Körper zu verringern seien. Neben einer generellen Senkung des Leistungsanspruchs führte dies zum Ausschluss gewisser Elemente des Knabenturnens, insbesondere von als zu gefährlich beurteilten Geräteübungen, während das Schwergewicht auf die Frei- und Ordnungsübungen zu liegen kam. Insgesamt wurde das Turnen am Ende des 19. Jahrhunderts verstärkt unter gesundheitlichen Gesichtspunkten betrachtet. Leibesübungen wurden zunehmend in ihrer Funktion als Mittel des Ausgleichs zu als problematisch erachteten Folgeerscheinung der Modernisierung (mit Bezug auf das Schulturnen etwa die Folgen der modernen Massenbeschulung, zunehmender Verwissenschaftlichung und Intellektualisierung etc.) erörtert. Eine wichtige Referenz boten die (Psycho-)Physiologie und Anatomie, aber auch andere ,moderne' Wissenschaften vom Menschen wie die Anthropologie und Psychologie. Das darauf basierende neue Körperwissen formulierte sich dabei immer auch als Geschlechterwissen.

Mit den genannten Entwicklungen (neue naturwissenschaftliche Zugänge zum Körper und dessen Bewegung, Hygiene- und Überbürdungsdiskurs, Fokus auf den Aspekt der Gesundheit) einher ging ein grundlegender argumentatorischer Paradigmenwechsel: Die weit in die Geschichte zurückreichenden Defizitannahmen betreffend den weiblichen Körper sprachen nun unter den neuen wissenschaftlichen Vorzeichen und im Kontext eines zwischen Fortschrittoptimismus und Kulturkritik oszillierenden Modernisierungsdiskurses nicht mehr für einen Ausschluss der Mädchen vom Turnen, vielmehr sollten diese nun in besonderem Maß von einem solchen profitieren. Mit ausschlaggebend war die Tatsachte, dass der Pflichtschulbesuch der Mädchen inzwischen nicht nur demjenigen der Jungen entsprach, sondern jene auch häufiger weiterführende Schulen besuchten. Zudem begannen die Frauen vermehrt am öffentlichen sowie dem modernen Arbeits- und Berufsleben teilzunehmen, was mitunter als Gefährdung des weiblichen (Gattungs-)Körpers diskutiert wurde. Damit und vereint mit den genannten Defizitannahmen begannen sich die Überlegungen zur körperlichen Erziehung und leiblichen Ertüchtigung zu Beginn des 20. Jahrhunderts zunehmend auf die weibliche Hälfte der Bevölkerung zu richten.

Die Analyse der Debatten um das Mädchenturnen auf der Grundlage einschlägiger Zeitschriftenliteratur und weiterer Fachpublikationen u.a. von prominenten Diskursteilnehmern und vermehrt auch -teilnehmerinnen hat einige wiederkehrende Themen, geschlechtliche Differenzannahmen und darauf basierende Argumente zutage gefördert. Demnach wiesen Mädchen einen zarteren Knochenbau, schwächere Muskeln und feinere Nerven auf, weshalb sie besonders stark unter (Zivilisations-)Krankheiten wie Blutarmut, Bleichsucht, Haltungsfehlern und nervösen Störungen litten. V.a. ging man davon aus, dass die Pubertät, begleitet von einem intensiveren Wachstumsschub und dem Einsetzen der Menstruation, bei jenen besonders krisenhaft verlief. Dementsprechend verbreitet war die Forderungen nach an das Schwedische Turnen angelehnten Übungen, die der Kräftigung der Rücken-, Bauch- und Beckenmuskulatur dienten, während man (Geräte-)Übungen, die als schädlich für die Geschlechtsorgane galten, problematisierte und teilweise ausschied. Das Ergebnis war insofern ambivalent, als diskursive Bezugnahmen auf den weiblichen Geschlechtsapparat und dessen Reproduktionsfunktion bis zum (und v.a. auch nach dem) Ersten Weltkrieg zwar zunahmen, sich die Praxis – soweit aus den untersuchten Quellen zu rekonstruieren – aber ein Stück weit von dem herangezogenen Körper- und Geschlechterdiskurs abgekoppelt zu haben scheint. Denn es lässt sich im Untersuchungszeitraum (und, so eine weiterführende These, nochmals verstärkt in der Weimarer Republik) durchaus eine gewisse Annäherung der Leistungsanforderungen des Mädchenturnens an diejenigen des Knabenturnens beobachten.

Die für die Mädchen vorgesehenen Übungsinhalte und Methoden favorisierten Vorstellungen von natürlichen, rhythmischen, am Körperschwerpunkt ansetzenden Bewegungen, gesunde Atemtechnik sowie einen spielerischen Zugang zur körperlichen Erziehung. Hier bestanden durchaus Übereinstimmungen mit lebensreformerischen bzw. reformpädagogischen Idealen von Körper und Bewegung. Entsprechende Anklänge finden sich in dem preußischen „Leitfaden für das Mädchenturnen" von 1913. Diese neuen Bewegungsnormen traten – so eine zweite These mit Blick auf weiterführende Analysen zu den Entwicklungen nach dem Krieg – im Untersuchungszeitraum unabhängig von geschlechtlichen Zuordnungen in Konkurrenz zu den überbrachten männlich geprägten, drillmäßigen und stark elementarisierenden Bewegungsformen und überlagerten die in diesem Beitrag aufgezeigten geschlechtsspezifischen Differenzierungen. Einen Hinweis darauf gibt der [59] publizierte „Entwurf zu einem Leitfaden für den Turnunterricht der männlichen Jugend in den preußischen Schulen". Dieser weist mit Bezug auf die genannten Tendenzen weitgehende Übereinstimmungen mit dem Leitfaden für das Mädchenturnen auf, so dass tatsächlich davon auszugehen ist, dass letzterer nun jenem als Vorlage diente.

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[52] erschien eine zweite, erweiterte Auflage des Leitfadens von 1862, der allerdings keine nennenswerten Änderungen oder Ergänzungen aufweist. Zum Rhythmus-Diskurs des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts und dessen Bezüge zu Wissenschaft, Körper und Bewegung vgl.[1] ; [3] ; [74] ; [9] ; [7]. Zur langen Geschichte der Wahrnehmung der Menstruation und der damit zusammenhängenden Vorgänge als pathogene Besonderheit der Frau vgl.[77]. Die Monatsblutung galt zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch als ein geradezu mystisches Phänomen. Der Frauenarzt J.Ch.G. Jörg etwa statuierte 1832 diesbezüglich, es hätten bereits viele Physiologen Erklärungen für „diese höchst merkwürdige Function" gesucht, „allein noch Keinem ist gelungen, hinlängliche Aufschlüsse darüber zu geben" (23). Dies änderte sich zwar auf der Grundlage neuen Wissens, wenngleich der Zusammenhang zwischen Ovulation und Menstruation noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts umstritten war ([77] : 193). Theorien, wonach sich in der Ontogenese die Phylogenese wiederholt bzw. diese rekapituliert, existierten bereits vor Haeckel, erlangten aber durch die evolutionsbiologische Grundlegung neue wissenschaftliche Geltung. [83] nutzte anatomische und physiologische Unterschiede als Beweismittel für die Notwendigkeit einer gesellschaftlichen (und ökonomischen) „Arbeitsteilung" zwischen Mann und Frau ([83] : 59), wobei die Frau zur „Trägerin der Kultur innerhalb der Familie" wird (ebd.). Damit fügte sich Schultze in die Reihen der Gegner weiblicher Emanzipationsbestrebungen ein und wandte sich dezidiert gegen die bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufkommende These, wonach körperliche und geistige Unterschiede zwischen den Geschlechtern, also die postulierten weiblichen Defizite, ein Ergebnis der sozialen und kulturellen Unterdrückung der Frau darstellten ([83] : 57). Zur Rechtfertigung der geschlechtsspezifischen als einer natürlichen Arbeitsteilung insbesondere im 19. Jahrhundert vgl.[22] , [21]. Die These von der intellektuellen Unterlegenheit der Frau aufgrund geringerer Schädel-/Gehirngröße wurde seit den Anfängen entsprechender anatomischer Untersuchungen im 18. Jahrhundert und auch im hier vorliegenden Zeitraum kontrovers diskutiert ([50] ; Stahnisch 2005). Der „Leitfaden" wurde 1916 – abgesehen von einigen terminologischen Änderungen, v.a. die Kommandos betreffenden – fast identisch neu herausgegeben. U.a. wurde das Ziehspiel „Türkenkopf" (1913:233) 1916 umbenannt in „Ringender Kreis" ([58] : 237) – die Türkei kämpfte seit 1914 an der Seite des Deutschen Kaiserreichs. Rossow hielt in seiner „Statistik des Schulturnens in Deutschland" von 1908 zum Mädchenturnen in Preußen fest: „Die Gerätübungen werden nur in wenigen Schulen so bevorzugt, daß sie im Mittelpunkt oder gar im Vordergrund des Unterrichts stehen; fast ebenso häufig werden sie vollständig gemieden" ([73] :143). Hamburg etwa hatte gemäß seiner Erhebung durch „behördliche Verfügung" das Geräteturnen sowie den Tiefsprung in der 7. und 6. Klasse ganz untersagt ([73] : 511). Auch setzte man dort im 8. Schuljahr das Turnen für Mädchen ganz aus, da sie sich in der „Entwickelungsstufe" befänden ([73] : 512). Das „Schwedische Turnen" geht auf Pehr Henrik Ling (1776-1839) zurück. Zuerst im so genannten „Barrenstreit" (1860-1863) von Verfechtern des Deutschen Turnens abgelehnt, gewann die Schwedische Gymnastik im hier untersuchten Zeitraum auch im Deutschen Reich vermehrt Anhängerschaft. Zu den publizistisch aktiven Verfechtern, die sich in den untersuchten Zeitschriften auch immer wieder gegen den Vorwurf, ein undeutsches Turnen zu propagieren, wehren mussten, gehörte neben F.A. Schmidt v.a. der Altonaer Turninspektor Karl Möller ([45] , [46]). Ein entsprechender Erlass zur Pflege der männlichen Schulentlassenen Jugend (vom 18.1.1911) wurde 1913 vom preußischen Ministerium auch auf die weiblichen Schulentlassenen ausgedehnt und beinhaltete auch Angebote und Maßnahmen der körperlichen Erziehung. Zum gendering von Muskeln, Nerven etc. im Hygienediskurs des 19. Jahrhunderts vgl.[75]. Profé wandte sich dabei offenbar gegen die von F.[26] anlässlich der Jahresversammlung des Württembergischen Turnlehrer-Vereins aufgestellten Leitsätze für das Mädchenturnen, die er an „die Eigenart ihres Körperbaus, ihres Geistes- und Gemütslebens, den praktischen Aufgaben der Mädchenerziehung und landläufigen Anschauungen über Sitte und Art" angepasst wissen will. Ein Nachdruck verschiedener Aufsätze Profés findet sich in [66]. Spiele waren seit Beginn des Schulturnens Teil des Turncurriculums, wenngleich sie im Rahmen der üblichen Einteilung des Turnstoffs in Frei-, Ordnungs- und Geräteübungen nur einen geringen Raum einnahmen. Preußen erließ 1882 im Rahmen der so genannten Spielbewegung ([20] ; [90]) einen so genannten Spielerlass, mit dem das Unterrichtsministerium Spiele an den Schulen propagierte. 1891 kam es zur Gründung des Zentralausschußes zur Förderung der Jugend und Volksspiele mit einem eigenen Zeitschriftenorgan (Zeitschrift für Turnen und Jugendspiel). Im Untersuchungszeitraum rückten die Forderungen nach einer stärkeren Berücksichtigung von Spielen (Turnspiele, Wettkampfspiele, volkstümliche Spiele etc.) im Turnlehrplan, aber etwa auch als obligatorischer Spielnachmittag oder mit der Einrichtung von Spielplätzen, nochmal in den Vordergrund. Ein weiterer Diskussionspunkt, etwa auch in den untersuchten Zeitschriften, betraf die Gegenüberstellung von englischem Wettkampfsport und deutschen Turnspielen. Es ist anzunehmen, dass dies einerseits in Anknüpfung an andere, den wissenschaftlichen Körper- und Geschlechterdiskurs durchkreuzende Diskurse (z.B. Lebensreformdiskurs) geschah, sich andererseits mit Bezug auf Turnen, Sport und Gymnastik im Zuge zunehmender Institutionalisierung, Professionalisierung und Kommerzialisierung ein eigener Spezialdiskurs herausbildete. Atemtechnik war nicht nur innerhalb des Schwedischen Turnens Thema, sondern seit Beginn des 20. Jahrhunderts allgemein eng mit körperpädagogischen Programmen verknüpft, so etwa auch im populären Frauengymnastik-System der amerikanisch-niederländischen Ärztin Bess [43]. Zu den bedeutsamen asiatischen Einflüssen (Hinduismus, Yoga) vgl.[94].

By Esther Berner

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Titel:
Schule, Körper und Geschlecht: Die Ausdifferenzierung des schulischen Mädchenturnens zwischen 1890 und 1918.
Autor/in / Beteiligte Person: Berner, Esther
Link:
Zeitschrift: Sport und Gesellschaft, Jg. 19 (2022-04-01), Heft 1, S. 1-29
Veröffentlichung: 2022
Medientyp: serialPeriodical
ISSN: 1610-3181 (print)
DOI: 10.1515/sug-2022-0004
Schlagwort:
  • WORLD War I
  • TWENTIETH century
  • TEACHING aids
  • GYMNASTICS
  • GENDER
  • PRUSSIA (Germany)
  • Subjects: WORLD War I TWENTIETH century TEACHING aids GYMNASTICS GENDER
  • gender
  • Geschichte
  • Geschlecht
  • Gymnastics
  • history
  • Preußen
  • Prussia
  • school
  • Schule
  • Turnen
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Alternate Title: School, body, and gender: The differentiation of girls' school gymnastics between 1890 and 1918.
  • Language: German
  • Document Type: Article
  • Geographic Terms: PRUSSIA (Germany)
  • Author Affiliations: 1 = Professur für Erziehungswissenschaft, insbesondere Ideen- und Diskursgeschichte, Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften, Helmut-Schmidt-Universität / Universität der Bundeswehr Hamburg, Holstenhofweg 85, 22043 Hamburg, Germany

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