Keywords: Schopenhauer; Homer; Friedrich August Wolf; Genius; Philologie
Am 28. Mai 1869 hielt Nietzsche, frischgebackener Professor für Klassische Philologie an der Universität Basel, die Antrittsvorlesung Über die Persönlichkeit Homers (Weihnachten 1869 unter dem Titel Homer und die klassische Philologie privat gedruckt). In einem Brief an Carl von Gersdorff verrät er, dass diese Antrittsrede, die seine „Geburtsurkunde" als Philologe darstelle, den wachsenden Einfluss der Philosophie Schopenhauers auf jeden Aspekt seines Denkens, einschließlich des wissenschaftlichen, bezeuge: „man muß schon tüchtig sich in Schopenhauer hineingelebt haben, um an ihr [sc. der Antrittsvorlesung] zu fühlen, wo alles der bestimmende Zauber seiner eigenthümlichen Denkart mächtig ist" (28. September 1869, Nr. 32, KSB 3.60).
Seinem Freund Gersdorff hatte Nietzsche bereits im April 1869 (als er mit der Endfassung der Antrittsrede beschäftigt war) die Absicht mitgeteilt, seine philologische Forschung und Lehrtätigkeit auf die Philosophie Schopenhauers zu stützen. Vermöge seiner philosophischen Neigung ist er fest davon überzeugt, der Gefahr, in Philisterei zu verfallen, besser entgegen gehen zu können als die meisten Philologen:
zu tief wurzelt schon der philosophische Ernst, zu deutlich sind mir die wahren und wesentlichen Probleme des Lebens und Denkens von dem großen Mystagogen Schopenhauer gezeigt worden, um jemals einen schmählichen Abfall von der „Idee" befürchten zu müssen. Meine Wissenschaft mit diesem neuen Blute zu durchdringen, auf meine Zuhörer jenen Schopenhauerischen Ernst zu übertragen, der auf der Stirne des erhabnen Mannes ausgeprägt ist – dies ist mein Wunsch, meine kühne Hoffnung (11. April 1869, Nr. 632, KSB 2.386).
Trotz dieses ausdrücklichen Glaubensbekenntnisses wurde in der Nietzsche-Forschung noch nicht gründlich untersucht, worin eigentlich der Einfluss Schopenhauers in Über die Persönlichkeit Homers besteht. In dem vorliegenden Beitrag werde ich versuchen, diese verborgene Wirkung der Philosophie Schopenhauers ans Licht zu bringen und zu zeigen, dass sie sowohl Nietzsches Bestimmung des epistemologischen Status, der Methode und der Ziele der Klassischen Philologie, als auch seine Lösung der Homerischen Frage betrifft.
Im Frühjahr 1867 beginnt Nietzsche, sich mit der kritischen Literatur über die Homerische Frage zu befassen. Wie er an Hermann Mushacke schreibt, hatte er daran gedacht, den Titel des Doktors „mit einer Abhandlung de Homero Hesiodoque coaetaneis" zu erwerben (20. April 1867, Nr. 541, KSB 2.214). In einem Brief an Friedrich Ritschl im Februar 1868 erklärt Nietzsche, er möchte hinsichtlich der „Frage nach Homers und Hesiods ἰσοχρονία" zwar keinen „anachronistischen Standpunkt der Wissenschaft" vertreten, sondern zunächst untersuchen, „worauf jener Glaube [an die genannte ἰσοχρονία] sich stützt und wie er sich im Verlaufe der Zeit ausgebildet hat" (17. Februar 1868, Nr. 563, KSB 2.259). Im Dezember 1868 verrät er seinem Freund Erwin Rohde allerdings einige Zweifel daran:
mein guter Sänger Homer, den ich mit allen fünf Fingern festzuhalten glaubte, zerrann mir eines schönen Morgens wie ein Gespenst; jetzt ist er wieder ein mythisches Scheusal, das die seltsamsten Transformationen durchgemacht hat [...]. Dies hat mir die Sache jetzt etwas verleidet, und ich habe sie darum zurückgelegt (9. Dezember 1868, Nr. 604, KSB 2.349).
Die Auseinandersetzung mit der Homerischen Frage hatte Nietzsche dazu veranlasst, über den Einfluss der intellektuellen Strömungen einer bestimmten Epoche auf die philologischen Studien nachzudenken. Schon zu dieser Zeit, wie auch in seiner Antrittsrede, stellt er fest, dass die (damals) vorherrschende Ausrichtung der akademischen Philologie, die sich ausdrücklich an der idealistisch-hegelianischen Philosophie orientierte, die Diskussion über die Homerische Frage de facto zum Erliegen gebracht hat. Es wird ihm somit klar, dass die Ergebnisse der philologischen Forschung durch die (unbewusst oder auch programmatisch vertretenen) philosophischen Annahmen des Philologen geprägt werden. Demzufolge habe er die „Geschichte der literarischen Studien im Althertum und in der Neuzeit" als das wahre Hauptziel seiner Studien erkannt:
jetzt zieht mich das Allgemein-Menschliche an, wie das Bedürfniß einer literarhistorischen Forschung sich bildet und wie es unter den formenden Händen der Philosophen Gestalt bekommt. Daß wir alle aufklärenden Gedanken in der Literaturgeschichte von jenen wenigen großen Genien empfangen haben, [...] und daß alle guten und fördernden Leistungen auf dem besagten Gebiete nichts als praktische Anwendungen jener typischen Ideen waren, daß mithin das Schöpferische in der litterarischen Forschung von solchen stammt, die selbst derartige Studien nicht oder wenig trieben, daß dagegen die gerühmten Werke des Gebietes von solchen verfaßt wurden, die des schöpferischen Funkens bar waren – diese stark pessimistischen Anschauungen, in sich einen neuen Kultus des Genius bergend, [...] machen mich geneigt, einmal die Geschichte darauf hin zu prüfen. An mir selbst stimmt die Probe; denn mir ist es so, als ob Du bei den niedergeschrieben
Diesen Überlegungen gemäß versucht nun Nietzsche, die Philosophie Schopenhauers zum Polarstern seiner philologischen Forschung zu machen. Wie zahlreiche Stellen aus dem Nachlass 1867/68 beweisen, teilt er vor allem Schopenhauers Geringschätzung des rein historischen Wissens.
In den Meisterwerken der Kunst und der Dichtung sieht Schopenhauer ein tieferes Verständnis der menschlichen Natur als in der historischen Forschung. Denn der Historiker habe „die Begebenheiten und die Personen nicht nach ihrer inneren, ächten, die Idee ausdrückenden Bedeutsamkeit anzusehen und auszuwählen; sondern nach der äußern, scheinbaren, relativen, in Beziehung auf die Verknüpfung, auf die Folgen, wichtigen Bedeutsamkeit" – d. h. nach dem vermeintlich wichtigen Einfluss auf die Gegenwart. Ganz im Gegenteil fasse der Dichter „die Idee", „das Wesen der Menschheit, außer aller Relation, außer aller Zeit" auf. Jeder wahre Künstler stelle also in seinen Werken nur das dar, was unter einem ästhetischen und moralischen Gesichtspunkt, unabhängig von jeglicher historischen Kontingenz, bedeutsam ist.
Nach Nietzsche sollen die Philologen das Altertum nicht aus einem historischen, sondern eher aus einem künstlerischen Gesichtspunkt betrachten: Nur auf diese Weise können sie einerseits das erkennen, was in der Literaturgeschichte einen ästhetischen und moralischen Wert hat, andererseits aus den philologischen Studien das ausschließen, was bloßer Ausdruck eines bestimmten Zeitgeists ist.
Jedes wahre Kunstwerk muß ohne historische Voraussetz. genießen sein. Dagegen giebt es Schriften, deren ganzer Werth in ihrer historischen Stellung liegt. Die Literaturgeschichte betrachtet sowohl die Kunstwerke als die Machwerke, sofern sie die Zeit repräsentiren. [...] Die aesthet. Würdigung verlängert nur wenigen Schriften das Leben, die litterarhistorische allen (Nachlass 1867/68, 56[
Nach Nietzsche steckt also „die Fruchtbarkeit der Philologie [...] überall, wo ihre Studien ein Allgemein Menschliches berühren" (Nachlass 1867/68, 58[
Das in diesen Notaten entworfene Projekt einer „Literatur ohne Geschichte derselben" wurde bald aufgegeben. Um seinen Standpunkt zu den Methoden und Zielen der Klassischen Philologie auszudrücken, wählt Nietzsche daher gerade die Homerische Frage als Thema seiner Antrittsrede.
Bekanntlich war die Homerische Frage durch die Veröffentlichung der Prolegomena ad Homerum von Friedrich August Wolf wieder in den Mittelpunkt des Interesses der deutschen Philologie gerückt. Nach Wolf konnte es aufgrund der Schriftlosigkeit im archaischen Griechenland keinen einzigen fixierten Text der homerischen Gedichte geben. Zur Zeit der Abfassung der Ilias und der Odyssee waren wahrscheinlich nur einzelne (in verschiedenen Zeitaltern und aus Versen von mehreren Dichtern zusammengesetzte) Lieder und ein ungenaues, von den Rhapsoden verschiedenartig weitergegebenes Handlungsgerüst im Umlauf. Auf Geheiß des athenischen Tyrannen Pisistratus wurde die erste schriftliche Fassung der homerischen Gedichte erst in der Mitte des 6. Jahrhunderts v. Chr. erstellt; aus diesem Grund hielt Wolf es nicht für möglich, ihre ursprüngliche Form zurückzugewinnen.
Diese These hatte allerdings starke Bedenken geweckt. Schopenhauer selbst, welcher die Vorlesungen Wolfs in Berlin mit großen Interesse besucht hatte, hielt in Parerga und Paralipomena (1851) das „Abstreiten der Persönlichkeit und Identität Homers" für einen jener „glänzenden Irrthümer", die, „von talentvollen Leuten ausgehend, so scheinbar begründet auftreten und mit so viel Verstand und Kenntniß vertheidigt werden, daß sie, bei ihren Zeitgenossen, Ruhm und Ansehn erlangen." In seinen Werken stellt er nämlich die Individualität Homers nie in Frage: Homer müsse als ein echtes Genie betrachtet werden, das mit Shakespeare und Goethe auf einer Stufe stehe.
Dem jungen Nietzsche schienen sich nun Philosophie und Philologie in entgegengesetzte Richtungen zu bewegen. Auch aus diesem Grund will er der philologischen Forschung, die durch bestimmte philosophische Voraussetzungen auf einen falschen Weg geführt wurde, neues Leben einhauchen. Wie im Folgenden gezeigt werden soll, ist Nietzsches Beitrag zur Lösung der Homerischen Frage eine „praktische Anwendung" des fruchtbaren Standpunkts von Schopenhauer, die es im Gegensatz zu Wolfs historisch-idealistischem Ansatz wieder ermöglichen soll, die Individualität des Dichters der Ilias zu behaupten.
Wegen der neuen methodischen Herangehensweise an die homerischen Texte gelten Wolfs Prolegomena ad Homerum nicht nur als Initialzündung der Homerischen Frage in der Neuzeit, sondern auch als Grundlegung der Altertumswissenschaften im 19. Jahrhundert. Eine Systematisierung des Forschungsfeldes der Altertumswissenschaften nahm er in der Darstellung der Alterthumswissenschaft nach Begriff, Umfang, Zweck und Werth (1807) vor (deren Thesen entwickelte er in den Vorlesungen über die Altertumswissenschaft an der Universität Berlin). Um Wolfs Stellungnahme zur Homerischen Frage zu hinterfragen, musste sich Nietzsche daher notwendigerweise auch mit Wolf als Erfinder der Altertumswissenschaften auseinandersetzen.
In seiner programmatischen Schrift hatte Wolf versucht, den Altertumswissenschaften einen starken enzyklopädischen Charakter zu geben, um zu zeigen, „wie sich die einzelnen [...] Doctrinen zu einem organischen Ganzen vereinigen ließen, um alles, was zu vollständiger Kenntniß des gelehrten Alterthums gehört, zu der Würde einer wohl geordneten philosophisch-historischen Wissenschaft emporzuheben." Die systematische und organische Gliederung der Altertumswissenschaften, deren Hauptziel nach Wolf das Verständnis des Gesamtlebens der alten Völker in seiner Entwicklung sei, lässt den Einfluss des deutschen Idealismus auf die Darstellung der Alterthumswissenschaft klar durchblicken. In seinem Vorwort zur Phänomenologie des Geistes (1807) stellte Hegel nämlich fest, dass „das Wissen nur als Wissenschaft oder als System wirklich ist und dargestellt werden kann." Um die Philologie analog zu den anderen Wissenschaften zu betrachten, musste Wolf die Altertumswissenschaften als ein organisch strukturiertes System vorstellen. Er knüpfte ausdrücklich auch an Schellings Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums (1803) an:
Auf den Namen der Wissenschaft kann die alte Geschichte ohnehin erst dann Anspruch machen, wann die nothwendigen Sichtungen ihres zerstreuten Stoffes durch Untersuchung der einzelnen Facta befriedigender vollendet und die Ketten der Begebenheiten so durchmustert seyn werden, daß nirgends ein Hauptglied ungeprüft blieb; erst als denn kann die Geschichte, für den Verstand hinreichend vorbereitet, ihre ganz wissenschaftliche Gestalt für die Vernunft empfangen; wodurch sie eben das im Idealen seyn muß, was die Natur im Realen ist, und die Welt-Begebenheiten, so weit es die dem Menschen vom Schicksal gestattete Freiheit leidet, nur eine andere Art von Erzeugnissen als die Produkte der Natur.
Genau diese Grundannahme wird von Nietzsche zu Beginn seiner Antrittsrede in Frage gestellt. Er verweist auf den zusammengesetzten Charakter der Philologie, also auf ihren konstitutiven Mangel an begrifflicher Einheit: Die Altertumswissenschaften machen einen „unorganischen Aggregatzustande verschiedenartiger wissenschaftlicher Tätigkeiten" aus, die „nur durch den Namen „Philologie" zusammengebunden" seien (Homer und die klassische Philologie [= HKP], KGW II 1.249).
Diese Feststellung ist bereits aus dem Fragment Enzyklopädie der Philologie (1868) klar herauslesebar. Aus diesem Exkurs über die historische Entwicklung des Begriffs der Philologie gehe die Unmöglichkeit hervor, die unterschiedlichen Vorstellungen über die Aufgabe der literarischen Studien zur Einheit zu bringen. Nietzsche erkennt einerseits Wolfs Verdienst an, die „„Kenntniß der alterthüml
In der Darstellung der Alterthumswissenschaft hatte Wolf gefordert, dass die Philologie sich „mit der moralischen Seite der Menschheit beschäftigt." Das wahre „Objekt" der Altertumswissenschaften sei „de[r] moralisch[e] Mensch."Das Ziel der die Altertumswissenschaften ausmachenden „realen Disziplinen" bestehe in der „Kenntniß der altertümlichen Menschheit selbst, welche Kenntniß aus der durch das Studium der alten Ueberreste bedingten Beobachtung einer organisch entwickelten bedeutungsvollen National-Bildung hervorgeht." Die gespaltenen Züge des griechischen Volkes, das in sich selbst die vollkommenen Eigenschaften der echtesten Menschheit gezeigt habe, sollen auf diese Weise in einer einheitlichen Betrachtung wieder vereint werden.
Wenn aber die Philologie sich mit der moralischen Seite der Menschlichkeit befasst, muss sie Nietzsche zufolge „ein künstlerisches und auf aesthetischem und ethischem Boden imperativisches Element in sich" bergen, „das zu ihrem rein wissenschaftlichen Gebahren in bedenklichem Widerstreite steht" (HKP, KGW II 1.249). Daher sei es unmöglich, die Philologie „organisch" zu systematisieren. Sein Einwand stützt sich auf Schopenhauers These, dass Wissenschaft und künstlerische Weltbetrachtung in einem radikalen Gegensatz zueinander ständen, denn während die Wissenschaften dem Satz vom Grunde untergeordnet seien, sehe die Kunst von ihm völlig ab. Das Erkennen eines künstlerischen Elements in der Philologie impliziert, dass sie nicht als reine Wissenschaft betrachtet werden kann. Folglich ist sie gleichzeitig Geschichte, Naturwissenschaft und Ästhetik:
Geschichte, insofern sie die Kundgebungen bestimmter Volksindividualitäten in immer neuen Bildern, das waltende Gesetz in der Flucht der Erscheinungen begreifen will: Naturwissenschaft, soweit sie den tiefsten Instinkt des Menschen, den Sprachinstinkt, zu ergründen trachtet: Aesthetik endlich, weil sie aus der Reihe von Altertümern heraus das sogenannte „klassische" Altertum aufstellt, mit dem Anspruche und der Absicht, eine verschüttete ideale Welt heraus zu graben und der Gegenwart den Spiegel des Klassischen und Ewigmustergültigen entgegen zu halten (HKP, KGW II 1.249 f.).
Der Geschichte fehlt nach Schopenhauer der Grundcharakter der Wissenschaft, und zwar „die Subordination des Gewußten, statt deren sie bloße Koordination desselben aufzuweisen hat." Ebenso bestimmt Nietzsche als eigentliches wissenschaftliches Element der Philologie die Untersuchung des Sprachinstinkts und nicht die historische Betrachtung.
Schopenhauer zufolge halten „die Werke der großen, unsterblichen Dichter" dem, der „die Menschheit, ihrem inneren, in allen Erscheinungen und Entwickelungen identischen Wesen, ihrer Idee nach, erkennen will", „ein viel treueres und deutlicheres Bild vor[], als die Historiker je vermögen." Entsprechend ist Nietzsche davon überzeugt, dass die Philologie nur als Ästhetik ihre pädagogische Aufgabe erfüllen kann. Dass so „verschiedenartige[] wissenschaftliche[] und aesthetisch-ethische[] Triebe sich unter einen gemeinsamen Namen [...] zusammengethan haben", werde durch die Tatsache erklärt, dass die Philologie „ihrem Ursprunge nach und zu allen Zeiten zugleich Pädagogik gewesen ist" (HKP, KGW II 1.250). Unter diesem pädagogischen Gesichtspunkt „war eine Auswahl der lehrenswerthesten und bildungförderndsten Elemente geboten, und so hat sich aus einem praktischen Berufe unter dem Drucke des Bedürfnisses jene Wissenschaft oder wenigstens jene wissenschaftliche Tendenz entwickelt, die wir Philologie nennen."
In der Fortsetzung seiner Antrittsrede führt Nietzsche die geringe Wertschätzung der Klassischen Philologie in der öffentlichen Meinung auf ihren zusammengesetzten Charakter zurück: Die Uneinigkeit zwischen „ausgezeichnete[n] Naturen", die sich in jeder möglichen „Richtung" der Philologie ausgedrückt haben, habe nämlich zu einer „Unsicherheit des Urtheils" und „eine[r] durchherrschende[n] Erschlaffung der Teilnahme an philologischen Problemen" geführt (HKP, KGW II 1.250). Wegen des allgemeinen und berechtigten Zweifels an der Nützlichkeit ihrer Bemühungen muss sich die Philologie gegen den Hass verteidigen, der überall lebt, „wo das Ideal als solches gefürchtet wird, wo der moderne Mensch in glücklicher Bewunderung vor sich selbst niederfällt, wo das Hellenenthum als ein überwundener, daher sehr gleichgültiger Standpunkt betrachtet wird" (HKP, KGW II 1.251).
In diesen letzten Betrachtungen bezieht sich Nietzsche auf die Kritik der hegelianischen Überschätzung der „Jetztzeit", welche Schopenhauer zufolge einer der Hauptgründe für den Verfall des ästhetischen Geschmacks der Gegenwart darstellt. Die gegenwärtige Zeit – „welche sich recht passend mit dem selbstfabricirten [...] Worte ‚Jetztzeit' bezeichnet, als wäre ihr Jetzt das Jetzt κατ'ἐξοχήν, das Jetzt, welches heranzubringen alle andern Jetzt allein dagewesen" – ist „durch die Verehrung des Schlechten in jeder Gattung" gekennzeichnet, also durch den Versuch, der „Schule" der Alten zu entlaufen.
Die Feindseligkeit gegenüber der Klassischen Philologie ist daher für Nietzsche ein Zeichen des kulturellen Verfalls. Diesem sollen nun die Philologen zusammen mit den Künstlern und den „künstlerischen Naturen" entgegenwirken,
da sie allein nachfühlen können, wie das Schwert des Barbarenthums über dem Haupte jedes einzelnen schwebt, der die unsägliche Einfachheit und edle Würde des Hellenischen aus den Augen verliert, wie kein noch so glänzender Fortschritt der Technik und Industrie, kein noch so zeitgemässes Schulreglement, keine noch so verbreitete politische Durchbildung der Masse uns vor dem Fluche lächerlicher und skythischer Geschmacksverirrungen und vor der Vernichtung durch das furchtbar-schöne Gorgonenhaupt des Klassischen schützen können (HKP, KGW II 1.251).
In dieser Hoffnung auf ein Verteidigungsbündnis zwischen Künstlern und Philologen könnte sich Nietzsches Wunsch verraten, den inneren Konflikt zwischen seiner künstlerischen Neigung und dem Philologenberuf zu lösen. Dieser Konflikt ist in den autobiografischen Aufzeichnungen dieser Zeit ausführlich dokumentiert. Seinem angeborenen philosophischen „Ernst" schreibt Nietzsche es zu, dass seine Erziehung trotz der vielfältigen und zerstreuten Neigungen seiner Natur nicht beeinträchtigt wurde:
Das Gefühl, in der Universalität nicht zum Grunde zu komm
Seine ursprüngliche Berufung erkennt Nietzsche nicht in der Philologie, sondern in der Kunst, und er führt seine Berufswahl auf rein philosophische Gründe zurück: „wenn ich so zurücksehe, wie ich von der Kunst zur Philosophie, von der Philosophie zur Wissenschaft und hier wieder in ein immer engeres Bereich gerathen bin, so sieht dies fast aus, wie eine bewußte Entsagung" (BAW 5.251). In der Antrittsrede scheint Nietzsche seinen Konflikt zwischen künstlerischen Neigungen und wissenschaftlicher Strenge auf eine objektive Ebene gehoben zu haben, wenn er den Begriff der Philologie wie folgt bestimmt:
Stellen wir uns wissenschaftlich zum Alterthum, mögen wir nun mit dem Auge des Historikers das Gewordene zu begreifen suchen, oder in der Art des Naturforschers die sprachlichen Formen der alterthümlichen Meisterwerke rubrizieren, vergleichen, allenfalls auf einige morphologische Gesetze zurückbringen: immer verlieren wir das wunderbar Bildende, ja den eigentlichen Duft der antiken Athmosphäre, wir vergessen jene sehnsüchtige Regung, die unser Sinnen und Geniessen mit der Macht des Instinktes, als holdeste Wagenlenkerin, den Griechen zuführte (HKP, KGW II 1.252).
Keineswegs führe die wissenschaftliche Stellung, nach welcher die Philologen so fleißig streben, zu einem besseren Verständnis des klassischen Altertums. Schon 1868/69 hatte Nietzsche diesbezüglich eingewandt: „Der Genuß, die aesthetische Ausbeute des Alterthums wird nicht etwa gesteigert durch eine sehr gründliche Kenntniß desselb., sondern eher vermindert" (BAW 5.270). In der vorbereitenden Fassung der Antrittsrede steht noch ausdrücklicher: „Stellen wir uns historisch zum Alterthum, so degradieren wir es gewissermaßen: wir verlieren das Bildende. Überhaupt stehn wir Philologen dem klass. Alterthum fast zu nahe, den Einzelheiten zu vertraut, um noch jene tiefe Sehnsucht nach ihm und den ganzen Duft desselben zu empfinden" (BAW 5.269).
Der Gegensatz zwischen den Wissenschaften, die immer nur die „Einzelheiten" zum Gegenstand haben, und der Philosophie, „als welche die Dinge vom allgemeinsten Gesichtspunkt aus betrachtet und ausdrücklich das Allgemeine zum Gegenstande hat", ist ein Thema, das wiederum Schopenhauer in seinen Werken gründlich behandelt hat. Da die Wissenschaften „eine solche Breite der Ausdehnung" erlangt haben, „daß wer etwas ‚darin leisten' will nur ein ganz specielles Fach betreiben darf", könnte man „so ein[en] exklusive[n] Fachgelehrte[n]" eigentlich wie einen „Fabrikarbeiter" betrachten, der außerhalb seines speziellen Fachs ein wahrer „Ochse" bleibt.
Es ist also kein Zufall, dass Nietzsche in den Jahren 1867/68 die Philologen als „Fabrikarbeiter im Dienste der Wissenschaft" bezeichnet, in denen die Neigung, „irgend ein größeres Ganze zu umfassen oder weitere Gesichtspunkte in die Welt zu setzen", erstorben sei (Nachlass 1867/68, 52[
Den Philologen warf es Schiller vor, dass sie den Kranz des Homer zerrissen hätten. Goethe war es, der, früher selbst ein Anhänger der Wolfischen Homeransichten, seinen „Abfall" in diesen Versen kundgab: „Scharfsinnig habt Ihr, wie Ihr seid, von aller Verehrung uns befreit, und wir bekannten überfrei, dass Ilias nur ein Flickwerk sei. Mög' unser Abfall niemand kränken; denn Jugend weiss uns zu entzünden, dass wir ihn lieber als Ganzes denken, als Ganzes freudig ihn empfinden" (HKP, KGW II 1.252).
Bekanntlich waren Goethe und Wolf durch eine aufrichtige Freundschaft und gegenseitige Wertschätzung verbunden. Im Laufe der Zeit hat Goethe allerdings sein Urteil über Wolfs Prolegomena ad Homerum mehrmals verändert. In seiner Elegie Hermann und Dorothea (1795) äußerte er sich darüber noch ziemlich begeistert; in einem Brief an Schiller aus dem Mai 1798 schien er jedoch von der Einheit und Unteilbarkeit von Ilias und Odyssee überzeugt zu sein. In dem Gedicht Homer, wieder Homer (1821), das Nietzsche in der Antrittsrede zitiert, nahm er schließlich Abstand von Wolfs These, weil sie zum Verlust jener Ehrfurcht vor der klassischen Altertümlichkeit führen würde: Die Prolegomena ad Homerum hätten den dichterischen Mythos schlechthin zerstört.
Angesichts dieser mangelnden Verehrung gegenüber dem klassischen Altertum fragt sich Nietzsche, „ob es den Philologen überhaupt an künstlerischen Fähigkeiten und Empfindungen fehle, so dass sie unfähig seien, dem Ideal gerecht zu werden, oder ob in ihnen der Geist der Negation, eine destruktive bilderstürmerische Richtung mächtig geworden sei" (HKP, KGW II 1.253 f.). In seiner Antrittsrede nimmt er sich daher vor, die von Goethe geäußerten Zweifel zu zerstreuen: Gegen die Bedenken der „Freunde des Alterthums" will Nietzsche zeigen, dass „die gesammte wissenschaftlich-künstlerische Bewegung dieses sonderbaren Centauren" – d. h. der Klassischen Philologie – „mit ungeheurer Wucht, aber cyklopischer Langsamkeit darauf aus[geht], jene Kluft zwischen dem idealen Alterthum [...] und dem realen zu überbrücken." Die von ihm vorgeschlagene Schopenhauersche Lösung für die Homerische Frage soll die „Freunde des Alterthums" überzeugen, dass „die bedeutendsten Schritte der klassischen Philologie niemals vom idealen Alterthum weg, sondern zu ihm hin führen."
Am Anfang des zweiten Teils der Antrittsrede erkennt Nietzsche an, dass „die moderne Welt" in Bezug auf die neueste Lösung der Homerischen Frage die fruchtbare Anwendung „eine[s] grossen historischen Gesichtspunkt[s]" in den literarischen Studien endlich „erprobt" hat (HKP, KGW II 1.254 f.). Aus diesem Grund sei der Einfluss der historisch-hegelianischen Perspektive Wolfs auf die Literaturwissenschaft zweifelsohne als fruchtbar zu beurteilen:
Hier hat man gelernt, in den scheinbar festen Gestalten älteren Völkerlebens verdichtete Vorstellungen zu erkennen, hier hat man zum ersten Male die wunderbare Fähigkeit der Volksseele anerkannt, Zustände der Sitte und des Glaubens in die Form der Persönlichkeit einzugiessen. Nachdem die geschichtliche Kritik sich mit voller Sicherheit der Methode bemächtigt hat, scheinbar konkrete Persönlichkeiten verdampfen zu lassen, ist es erlaubt, das erste Experiment als ein wichtiges Ereigniss in der Geschichte der Wissenschaft zu bezeichnen, ganz abgesehen davon, ob es in diesem Falle gelungen ist (HKP, KGW II 1.255).
Dass Nietzsche hier auf den Standpunkt Wolfs anspielen will, verdeutlicht ein Notat aus der Zeit vom September 1868 – Herbst 1869:
Es kam in den ersten zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts die Sitte auf, bestimmte Persönlichkeiten der griech
Die These, dass die homerischen Dichtungen nicht das Werk eines einzelnen Autors seien, war in der Literaturwissenschaft allerdings nicht neu. Nach Nietzsche lässt sich Wolfs größter Einfluss auf die Deutung der Homerischen Frage nicht so sehr durch seinen methodologischen Ansatz, sondern eher mit der kulturellen Stimmung seiner Zeit erklären. Wie er in dem zitierten Notat (Nachlass 1868/69, 77[
Der ganze Diskurs Wolfs beruhe auf der Hypothese der alexandrinischen Grammatiker, dass alle Widersprüche der Ilias und der Odyssee nicht Homer, sondern der mündlichen Wiedergabe zuzuschreiben sind. Nietzsche wendet jedoch ein, dass jene alten Grammatiker die Individualität Homers gar nicht in Frage gestellt hatten, was auch im archaischen Griechenland kein Problem darstellte. In dem Zeitalter des Pisistratus bezeichnete das Wort „Homer" jedoch etwas Unbestimmtes, sodass es nicht mehr möglich war, seine Persönlichkeit und „die Grenzen ihrer Äußerungen wissenschaftlich zu umspannen." Angesichts des fortschreitenden Substanzverlustes von Homers Individualität im Laufe der Zeit bestehe die Homerische Frage eigentlich darin, ob der Name Homers als die Verkörperung der gesamten heroischen Dichtung betrachtet werden soll oder nicht. Die Romantiker hätten durch den Brückenbegriff der Volksdichtung versucht, das Paradox zu lösen, dass „Werke der Dichtung, mit denen zu wetteifern den größten Genien der Muth entsinkt, in denen ewig unerreichte Musterbilder für alle Kunstperioden gegen sind", nur „ein[em] hohl[en] Name" zugeschrieben werden konnten. Aber der ohnehin unklare Begriff der „dichtenden Volksseele" unterscheidet sich Nietzsche zufolge überhaupt nicht von dem der „dichterische[n] Volksmasse " (HKP, KGW II 1.258).
Dieser Einwand Nietzsches beruht auf dem Schopenhauerschen Begriff des Genies, der zweifellos dem romantischen Klima geschuldet ist, in dem Die Welt als Wille und Vorstellung (1819/1844) entstand; dies bedeutet jedoch nicht, dass Nietzsches Hauptbezugspunkte in der Antrittsrede jene anderen Autoren sind, aus deren Schriften Schopenhauer selbst schöpfte. Nietzsche verweist selbst erstens in seinen Briefen auf den Einfluss Schopenhauers auf Über die Persönlichkeit Homers und zweitens in der Antrittsvorlesung ausdrücklich auf die Unterschiede zwischen dem romantischen und Schopenhauers Geniebegriff.
Gemäß seinem radikalen anthropologischen Pessimismus unterstreicht Schopenhauer die dem Genie eigentümliche Einsamkeit: Als eine von der Natur nur sehr selten gewährte Ausnahme stehe es „in seinem Treiben und Leisten selbst, meistens mit seiner Zeit im Widerspruch und Kampfe." Während die Talentmänner „vom Geiste ihrer Zeit angeregt und vom Bedürfniß derselben hervorgerufen werden", trifft das Genie hingegen in seine Zeit wie „ein Komet in die Planetenbahnen, deren wohlgeregelter und übersehbarer Ordnung sein völlig exzentrischer Lauf fremd ist. Demnach kann es nicht eingreifen in den vorgefundenen, regelmäßigen Bildungsgang der Zeit, sondern wirft seine Werke weit hinaus in die vorliegende Bahn [...], auf welcher die Zeit solche erst einzuholen hat."
Obwohl das Meisterstück des Genies eine tiefgreifende und durchgreifende Wirkung „auf das gesamte Menschengeschlecht" hat, schätzen es die Zeitgenossen überhaupt nicht, und „die Anerkennung desselben fängt meistens erst bei der Nachwelt an." Der eigentliche Sinn von Kunstwerken und den „edelsten Erzeugnisse[n] des Genies" ist den meisten Menschen unzugänglich; sie bringen ihnen eine heuchlerische Wertschätzung entgegen, nur um
ihre eigene Schwäche nicht zu verrathen: doch bleiben sie im Stillen stets bereit, ihr Verdammungsurtheil darüber auszusprechen, sobald man sie hoffen läßt, daß sie es können, ohne sich bloß zu stellen, wo dann ihr lang verhaltener Haß gegen alles Große und Schöne, das sie nie ansprach und eben dadurch demüthigte, und gegen die Urheber desselben, sich freudig Luft macht. Denn überhaupt um fremden Werth willig und frei anzuerkennen und gelten zu lassen, muß man eigenen haben.
Schopenhauer zufolge ist es also nicht möglich, den Charakterzug des Genies einer großen Zahl von Individuen, d. h. der schöpferischen Volksseele, zuzuschreiben. In dieser Hinsicht steht er in radikalem Gegensatz zur Romantik, welche – wie Nietzsche in der Antrittsvorlesung bemerkt – den Erfolg der Prolegomena ad Homerum begünstigt hatte. Wolfs Stellungnahme zur Homerischen Frage ist mit der Ästhetik und dem anthropologischem Pessimismus Schopenhauers unvereinbar. Die Annahme, dass die Ilias und die Odyssee das Werk „einer lange[n] Reihe von Volksdichtern" – oder „eine[r] Reihe von urwüchsigen Genien" – sind, wirft nämlich die Frage auf, warum dieselbe Natur, die „mit ihrem seltensten und köstlichsten Erzeugnisse, dem Genius so karg und haushälterisch umgeht", in so kurzer Zeit und ohne verständlichen Grund beschlossen hat, „so außerordentlich großzügig zu sein" (HKP, KGW II 1.258 f.).
Demzufolge weist Nietzsche auf die Tatsache hin, dass jede Hypothese über die Urheber der homerischen Gedichte die dichterische Schöpfung eines einzigen Individuums sowieso vorausgesetzt hat: Einige hatten den Stempel des Genies in den einzelnen Liedern erkannt; andere hatten „in dem Entwurfe und der Auswahl des Ganzen die „göttliche" Natur Homers" identifiziert, und damit die Widersprüche der Handlung der Ilias und der Odyssee als „Folge von Ueberarbeitungen und Einschiebung" betrachtet. Abgesehen von den Argumenten, welche für die eine oder die andere Hypothese sprechen, beruhen diese beiden Richtungen auf der Annahme,
dass das Problem des gegenwärtigen Bestandes jener Epen zu lösen sei vom Standpunkte eines aesthetischen Urteils aus: man erwartet die Entscheidung von der richtigen Festsetzung der Grenzlinie zwischen dem genialen Individuum und der dichterischen Volksseele. Giebt es charakteristische Unterschiede zwischen den Aeusserungen des genialen Individuums und der dichterischen Volksseele? (HKP, KGW II 1.260).
An dieser Stelle folgte in der vorbereitenden Fassung:
Um auf diese Frage eine Antwort zu bekommen, giebt es einen einzigen methodischen Weg, nämlich über jenes Problem eben jene Volksseele zu befragen, die nach der einen Ansicht jene Dichtungen hervorgebracht hat, also das Urtheil jener griechischen Volksseele zu vernehmen über das, was ihr Homer war. Denn ist sie in diesem Falle schöpferisch gewesen, so ist sie auch allein im Stande über das Produkt zu urtheilen, dann muß sich die mütterliche Verwandtschaft zwischen ihr und ihrem Kinde kundgeben. Ist sie es nicht, so wird eine gewisse Fremdheit, eine Unfähigkeit es zu verstehen und zu würdigen sich ergeben (BAW 5.477).
Auch hier stützt sich die kritische Bemerkung Nietzsches implizit auf Schopenhauers Überlegungen zum konfliktreichen Verhältnis zwischen dem Genie und seiner Zeit: „die Leistung des Genies [geht] nicht über die Leistung, sondern auch über die Apprehensionsfähigkeit der Andern hinaus." Ausgehend von dieser Annahme ist Nietzsche der Ansicht, dass selbst Homer im archaischen Griechenland eine Ausnahme darstellte. In Einklang mit Schopenhauers Überzeugung, dass „nur schon bevorzugte Köpfe [...] die Werke des Genies wirklich genießen" können, hatte er schon 1867 festgestellt, dass „die Erbärmlichkeit des gemeinen Intellekts" dazu unfähig ist, nicht nur „große Werke" zu schaffen, sondern auch sie herauszuerkennen: „Der große Kanon der Klassiker ist allmählich von den Classikern gebilde
Die Ilias und die Odyssee einem Dichter namens „Homer" zuzuschreiben, macht nach Nietzsche ein „ästhetisches Urteil" aus: Im Gegensatz zur romantischen Ästhetik hält er für unmöglich, eine „Grenzlinie zwischen dem genialen Individuum und der dichterischen Volksseele" zu ziehen. Die Gegenüberstellung zwischen „Volksdichtung" und „Individualdichtung" oder „Kunstdichtung" sei also genauso unberechtigt: „es ist dies der Rückschlag oder [...] der Aberglaube, den die folgenreichste Entdeckung der historisch-philologischen Wissenschaft nach sich zog, die Entdeckung und Würdigung der Volksseele " (HKP, KGW II 1.260). Diese Entdeckung mache die Grundlage für eine neue „wissenschaftliche Betrachtung der Geschichte" aus, die bis dahin als „einfache Stoffsammlung" verstanden wurde,
mit der Aussicht, dass dieser Stoff sich ins Unendliche häufe, und es nie gelingen werde Gesetz und Regel dieses ewig neuen Wellenschlags zu entdecken. Jetzt begriff man zum ersten Male die längst empfundene Macht grösserer Individualitäten und Willenserscheinungen, als es das verschwindende Minimum des einzelnen Menschen ist; jetzt erkannte man, wie alles wahrhaft Grosse und Weithintreffende im Reiche des Willens seine am tiefsten eingesenkte Wurzel nicht in der so kurzlebigen und unkräftigen Einzelgestalt des Willens haben könne; jetzt endlich fühlte man die grossen Masseninstinkte, die unbewussten Völkertriebe heraus als die eigentlichen Träger und Hebel der sogenannten Weltgeschichte (HKP, KGW II 1.260 f.).
Die These, dass die unbewussten Instinkte der Völker die wahren Triebfedern der Weltgeschichte sind, geht auf Eduard von Hartmanns Auslegung der Philosophie Schopenhauers zurück. Seine Philosophie des Unbewußten wurde Ende 1868 mit dem Datum 1869 veröffentlicht und fand sofort großen Anklang. Der Briefwechsel macht deutlich, dass Nietzsche dieses Werk unmittelbar nach dessen Veröffentlichung gelesen hat (Heinrich Romundt an Nietzsche, 4. Mai 1869, Nr. 3, KGB II 2.9). Bekanntlich hat sich er später sehr kritisch über Hartmann geäußert; in diesen Jahren entnimmt Nietzsche jedoch mehrere Anregungen aus der Philosophie des Unbewußten für seine Geburt der Tragödie (1872).
Dass Nietzsche in Über die Persönlichkeit Homers eindeutig den zentralen Gedanken Hartmanns aufgreift, zeigt sich in seiner These, dass die „unbewußten Völkertriebe" als die eigentlichen Träger und Hebel der Weltgeschichte betrachtet werden sollen: „Nicht die Gewalt einzelner Ingenien ist es, was vornehmlich die Geschichte zeigt: vielmehr die dunkle Macht ungeheurer Instinkte, unbewußten Wollens" (Nachlass 1868/69, 77[
Seiner Ansicht nach handelt es sich um einen rein „philosophischen" Fehler, der auf den „Missbrauch eines allerdings verführerischen Schlusses nach der Analogie" zurückzuführen ist (HKP, KGW II 1.261); man ist dazu übergegangen, „auch auf das Reich des Intellektes und der künstlerischen Ideen jenen Satz von der grösseren Individualität anzuwenden, der seinen Werth nur im Reiche des Willens hat." Indem man ihr „den Kranz des Genie's auf das kahle Haupt setzte", wurde „der so unschönen und unphilosophischen Masse" wie nie zuvor geschmeichelt.
Auch in diesem Fall beruht der Einwand Nietzsches auf den Voraussetzungen Schopenhauers. Die Tatsache, dass der Verlauf der Weltgeschichte nicht „die Gewalt einzelner Ingenien", sondern „die dunkle Macht ungeheurer Instinkte" offenbart, lässt nicht den Schluss zu, dass dann auch die künstlerische Produktion einem „unbewussten Wollen" zugeschrieben werden sollte. Nach Schopenhauer besteht die Genialität nämlich „in einem abnormen Uebermaß des Intellekts, welches seine Benutzung nur dadurch finden kann, daß es auf das Allgemeine des Daseyns verwendet wird" (meine Kursivierung). Die Genialität stellt die Fähigkeit dar,
sich rein anschauend zu verhalten, sich in die Anschauung zu verlieren und die Erkenntniß, welche ursprünglich nur zum Dienste des Willens da ist, diesem Dienste zu entziehen, d. h. sein Interesse, sein Wollen, seine Zwecke, ganz aus den Augen zu lassen, sonach seiner Persönlichkeit sich auf eine Zeit völlig zu entäußern, um als rein erkennendes Subjekt, klares Weltauge, übrig zu bleiben.
Im Lichte dieser Annahmen stellt Nietzsche fest, dass auch die Volksdichtung „ein vermittelndes Einzelindividuum" erfordert. Außerdem hält er es für unmöglich, denjenigen Aberglauben zu rechtfertigen, „dass die Volksdichtung auf einen gegebenen Zeitraum bei jedem Volke beschränkt sei und nachher aussterbe", denn das würde bedeuten, dass „die Kunstdichtung" ohne ersichtlichen Grund „an die Stelle dieser allmählich aussterbenden Volksdichtung" trete. Die Entstehungsweise eines Kunstwerks bleibe im Laufe der Zeit immer dieselbe. Es gebe keinen Dichter einer bestimmten literarischen Epoche, der nicht auch ein Volksdichter sei; der Unterschied zu einem Dichter, der in einer analphabetischen Epoche lebte, bestehe nur in der Art und Weise, wie die Texte verbreitet und weitergegeben werden – d. h. in der Tradition, durch die diese Texte ursprünglich fremde Elemente aufnehmen (HKP, KGW II 1.262). Insofern man immer wieder „auf das dichterische Individuum" verwiesen werde, bringe die Theorie der Volksseele keinen Fortschritt in der Klärung der Homerischen Frage. Außerdem hält Nietzsche es nicht für möglich, durch die mechanische Methode das „Individuelle" in der homerischen Dichtung zu identifizieren: Das Sammeln von biografischen Daten, Informationen über historische und soziale Umstände usw. kann nicht erklären, warum eine bestimmte dichterische Individualität „sich so und nicht anders" gezeigt hat. In impliziter Anknüpfung an die Ethik Schopenhauers weist Nietzsche darauf hin, dass man „den bewegenden Punkt, das undefinirbar Individuelle nicht als Resultat [dieser Faktoren] herausbekommen kann" (HKP, KGW II 1.262).
Nach Schopenhauers Charakterlehre (auf die hier nicht näher eingegangen werden kann) lässt sich aus den Motiven, die ein Individuum zu einer bestimmten Handlungsweise veranlassen, nicht auf die Natur des individuellen Charakters schließen: „Die Motive bestimmen nicht den Charakter des Menschen, sondern nur die Erscheinung dieses Charakters, also die Thaten; die äußere Gestalt seines Lebenslaufs, nicht dessen innere Bedeutung und Gehalt: diese gehn hervor aus dem Charakter, der die unmittelbare Erscheinung des Willens, also grundlos ist."
Die bloß äußere Form der Erscheinung des Charakters eines bestimmten Individuums „hängt ab von den Umständen [...], von den Umgebungen, von den äußern Einflüssen, von den Motiven; aber nie ist seine Entscheidung auf diese Motive aus ihnen erklärlich." Dieselben Motive wirken sich je nach dem Charakter jedes Individuums unterschiedlich aus: Die Physiognomie des individuellen Charakters kann nicht so bestimmt werden, als würde es sich um ein bloßes Berechnungsexempel handeln. Demzufolge seien die zu tadeln, „welche eifrig bemüht sind, das Stoffliche der Dichterwerke [...], sodann die realen persönlichen Verhältnisse und Begebenheiten im Leben des Dichters, die zu seinem Werke Anlaß gegeben, zu erforschen und gründlich kennen zu lernen." Denn das Werk des Genies sei nicht das notwendige Ergebnis von bestimmten Umständen wie der kulturellen Stimmung einer Epoche. Jene Literaturkritiker zielen in Wahrheit darauf ab, die Verdienste des Genies herabzusetzen und das Minderwertigkeitsgefühl der gewöhnlichen Menschen gegenüber den herausragenden Geistern dadurch zu mildern – „um zu sehn, ob sie nicht dort irgend einen Makel an ihm entdecken könnten, zur Linderung der Pein, die sie ‚in ihres Nichts durchbohrendem Gefühl' beim Anblick eines großen Geistes empfinden."
Die Anwendung der mechanischen Methode in der Philologie ist daher für Nietzsche zum Scheitern verurteilt, und zwar in Bezug auf die Figur Homers, da uns nur die Werke und ein Name übrig geblieben sind. Insofern alle angeblichen Schwächen der homerischen Gedichte der Tradition zugeschrieben wurden, ist die Rekonstruktion der Individualität des Urhebers tatsächlich willkürlich: „als das Individuelle-Homerische" bleibt „nichts als eine nach subjektiver Geschmacksrichtung ausgewählte Reihe besonderer schöner und hervortretender Stellen."
Aus Nietzsches Sicht ist das Stocken dieser ganzen Diskussion auf den Fehler zurückzuführen, „Homer als de[n] Dichter der Ilias und Odyssee" nicht als „eine historische Ueberlieferung" zu betrachten, sondern als „ein aesthetisches Urtheil" zu erkennen. Die „Fabel" von dem Wettkampf Homers und Hesiods lehre, dass „Homer" mit der epischen Heroendichtung vor der Zeit Pisistratus identifiziert wurde, im Gegensatz zu der von Hesiod vertretenen didaktischen Dichtung: Erst nach der fortschreitenden Verfeinerung „des griechischen Schönheitsgefühls" sei die ästhetische Überlegenheit der Ilias und der Odyssee anerkannt worden, und „die alte stoffliche Bedeutung von Homer, dem Vater der epischen Heroendichtung, wandelte sich in die aesthetische Bedeutung von Homer, dem Vater der Dichtkunst überhaupt." Trotzdem sei der Dichter der Ilias und der Odyssee keine „Einbildung" oder „aesthetische Unmöglichkeit" (HKP, KGW II 1.264).
Nach Nietzsche lässt sich die Homerische Frage nur lösen, wenn man annimmt, dass derjenige, der den Plan der Ilias entworfen hat, nicht demjenigen entsprechen kann, der im Altertum als „Homer" bezeichnet wurde. Jener Plan macht kein „Ganzes" oder keinen „Organismus" aus, sondern „eine Auffädelung, ein Produkt der nach aesthetischen Regeln verfahrenden Reflexion", dem der „Gesammtblick" des wahren Dichters offensichtlich fehlt (HKP, KGW II 1.264 f.). Durch die geschickte „Anordnung nach einem begrifflichen Schema" habe der „anordnende Künstler" nur die bloße „Täuschung" erregt, „als ob das Ganze in einem kräftigen Augenblicke als anschauliches Ganze ihm vorgeschwebt habe." Allerdings hat dieses Produkt nach ästhetischen Regeln mit der „eigentliche[n] homerische[n] That" überhaupt nichts zu tun. Es soll hier daran erinnert werden, dass nach Schopenhauer „alle ächte Kunst aus der anschaulichen Erkenntniß [...], nie aus dem Begriff" hervorgeht; deshalb liegt „das Wesen des Genies" hauptsächlich „in der Vollkommenheit und Energie der anschauenden Erkenntniß." Folglich ist für Nietzsche der Plan der Ilias, als Produkt der Reflexion, kein Werk eines Genies. Außerdem ist dieser Plan ein jüngeres Produkt als die Berühmtheit Homers und enthält verschiedene durch die mündliche Überlieferung hinzugefügte Elemente, und die, „welche nach dem „ursprünglichen und vollkommenen Plane suchen", suchen nach einem Phantom" (HKP, KGW II 1.265). Ferner ist die Tatsache zu beachten, dass der ästhetisch konzipierte Plan der Ilias „gegen die mit instinktiver Kraft hervorquellenden Lieder unendlich zurückst[eht]"; ihr Autor hatte jedoch das Schicksal, „seinen Namen auf dem Altare des uralten Vaters der epischen Heroendichtung" zu opfern (HKP, KGW II 1.266).
Zum Schluss der Antrittsrede hebt Nietzsche daher hervor, dass allein „die Einsicht in die durchaus verschiedenartigen Werkstätten des Instinktiven und des Bewussten [...] die Fragestellung des homerischen Problems" lösen kann. Mit anderen Worten kann der Philologe nur durch die Vertrautheit „mit den großen Erwägungen der Philosophie" (Nachlass 1867/68, 57[
In dem letzten Teil der Antrittsrede verweilt Nietzsche noch einmal bei den Zielen der Klassischen Philologie. Obwohl er in der endgültigen Fassung des Textes jene Stellen weggelassen hat, die den Einfluss von Schopenhauer klar verraten, ist die Kontinuität mit den Überlegungen aus den Jahren 1867/68 gleichwohl offensichtlich.
Am Ende der Schrift wendet sich Nietzsche an die Künstler und die Freunde des Altertums, welche den Philologen „so gern Mangel an Pietät gegen große Begriffe und eine unproduktive Zerstörungslust" vorwerfen (HKP, KGW II 1.267). Durch die Vorführung der „philosophischen und aestethischen Grundzüge des homerischen Persönlichkeitsproblems" hofft er, zwei Tatsachen vor ihre Augen gestellt zu haben. Erstens weist er darauf hin, dass „jene großen Begriffe, wie [...] der vom unantastbaren einen und ungeteilten Dichtergenius Homer in der Vor-Wolfschen Periode", innerlich leer und schwer fassbar sind. Dass die Klassische Philologie jetzt diese alten Begriffe aufwertet, ist seiner Meinung nach das Ergebnis eines kritischen Umdenkens: „Ueberall spürt man es, dass die Philologen fast ein Jahrhundert lang mit Dichtern, Denkern und Künstlern zusammengelebt haben. Daher kommt es, dass jener Aschen- und Schlackenhügel, der ehedem als das klassische Altertum bezeichnet wurde, jetzt fruchtbares, ja üppiges Ackerland geworden ist."
Im Entwurf der Antrittsrede folgte aber darauf noch:
dasjenige aber gerade was jene Pietät erweckt hat und sie für alle Zeiten verdienen wird, zu sondern von den massenhaften Schlacken, die nur in der rothen Färbung des Enthusiasmus wie Gold aussehen: die Worfschaufel aber zu schwingen zu halten mit unbestechlichem Urtheil und sicherer Hand, dies ist die ernste und von leidenschaftlicher Zerstörungslust weit entfernte Aufgabe unserer Wissenschaft: wenn sie anders mit Recht als klassische Philologie bezeichnet wird. Sie darf und solle die Alterthümer nicht nur mit dem ruhigen Blicke des uninteressierten Beschauers ansehn: sie hat nicht gleichgültig Muscheln und bunte Steine zu sammeln, die das Meer der Vergangenheit auswirft, vielmehr ist ihre Aufgabe erhobnen Blickes nach dem Idealen und ewig Mustergültigen auszuschauen und es rein und unvermischt dem nachkommenden Geschlecht zu überliefern (BAW 5.479).
Diese in der endgültigen Fassung weggelassene Stelle offenbart den Einfluss der Philosophie Schopenhauers auf Nietzsches Konzept der Philologie. Die Suche nach dem Ideal und ewig Mustergültigen ist eine Aufgabe, die nach Schopenhauer nicht von der Geschichte erfüllt werden kann: Wie bereits Schopenhauer kritisiert Nietzsche den Eifer der Historiker, die sich einbilden, das Wesen der Menschheit durch die (notwendigerweise) unvollständige Sammlung der unzähligen Fakten der Geschichte erkennen zu können. Da die Geschichte „es mit dem schlechthin Einzelnen und Individuellen zu thun hat, welches, seiner Natur nach, unerschöpflich ist", kennt sie alles „nur unvollkommen und halb."
Nach Nietzsche hat es also keinen Sinn, dass der Philologe mit klassifizierendem Eifer jede Muschel oder jeden bunten Stein sammelt, die in das Meer der Vergangenheit geworfen wurden: Um die pädagogische Berufung der Klassischen Philologie zu verwirklichen, soll der Philologe hingegen vom Altertum das auswählen, was einen „allgemeinen menschlichen" Wert hat. Die Aufgabe der Philologie bestehe also darin, das Klassische im Sinne des „Ewiggültigen" aufzuzeigen und damit ein Gesamtbild des Altertums wiederzugeben, das als „künstlerische Produktion" zur moralischen Orientierung der nachfolgenden Generationen beitragen kann.
Die These Wolfs, dass alle „Monumenten und Zeugnisse vergangener Zustände [...], bis zu einem Fragmente eines mittelmäßigen Schriftstellers, bis zu der kunstlosesten Anticaglie herab, einen geschichtlichen Werth haben", scheint Nietzsche unhaltbar. Nach Wolf sind alle klassischen Werke als Denkmäler anzusehen; aber man würde das Studiengebiet der Klassischen Philologie zu sehr einengen, „wenn man [...], mit falschem Eckel bloß das Classische und Schöne aushöbe, alles übrige aber sogenannten Alterthums-Krämern überließe." Die Auseinandersetzung mit den Klassikern als Grundlage der sogenannten humanistischen Bildung sei daher der historisch-philologischen Forschung untergeordnet:
Allein der Gesichtspunkt von Seiten der Classicität einzelner Schriftsteller und Werke ihrer Gattung darf bei dem eigentlichen Alterthumskenner viel weniger vorwalten als der rein historische, der die Erscheinungen in ihrer organischen Entwickelung aufnimmt, wodurch allein man sich vor Vergleichungen der ungelehrten Liebhaberei und andern schiefen Urtheilen sichert.
Aus der Sicht Nietzsches ist diese Grundsatzerklärung nicht nur mit dem Denken Schopenhauers ganz unvereinbar, sondern sie stellt den Hauptgrund für die Feindschaft dar, welche die Freunde des Altertums gegenüber der Philologie entwickelt haben. Stattdessen sollten sie für „die mühsamste Gedankenarbeit zahlloser Jünger" der Philologie dankbar sein: Obwohl die Philologie nicht „die Schöpferin jener Welt [sc. des Altertums]" oder „die Tondichterin dieser unsterblichen Musik" ist, so hat sie doch das Verdienst, „jene Musik zum ersten Mal wieder ertönen zu lassen, sie, die so lange unentziffert und ungeschätzt im Winkel lag" (HKP, KGW II 1.268). Wenn auch sie nicht „eine Muse noch eine Grazia" ist, verdient die Philologie als „Götterbotin" immer noch Respekt, weil sie in einer düsteren Welt eine unverzichtbare tröstende Funktion erfüllt.
In Anbetracht dieser erbaulichen Funktion darf die Philologie nicht auf eine historische Wissenschaft reduziert werden; vielmehr muss sie ihre Verbindung mit der Philosophie als unverzichtbar bekräftigen. In Welt als Wille und Vorstellung bestimmt Schopenhauer die Geschichte als das Gegenteil und als das „Widerspiel" der Philosophie,
als welche die Dinge vom allgemeinsten Gesichtspunkt aus betrachtet und ausdrücklich das Allgemeine zum Gegenstande hat, welches in allem Einzelnen identisch bleibt; daher sie in diesem stets nur Jenes sieht und den Wechsel an der Erscheinung desselben als unwesentlich erkennt: φιλοκαθόλυ γὰρ ὁ φιλόσοφος (generalium amator philosophus).
Die Umkehrung des Satzes von Seneca – philosophia facta est quae philologia fuit –, mit dem Nietzsche „das Ziel des Strebens" des Philologen und „den Weg dahin in die Formel eines Glaubensbekenntnisses" zusammenfasst, setzt demzufolge bestimmte Annahmen der Philosophie Schopenhauers voraus: Die eigentliche „philologische Thätigkeit" sei nur diejenige, die „von einer philosophischen Weltanschauung" umgegeben ist, „in der alles Einzelne und Vereinzelte als etwas Verwerfliches verdampft und nur das Ganze und Einheitliche bestehen bleibt" (HKP, KGW II 1.268 f.).
Nietzsche drückt hier die programmatische Absicht aus, die in der Geburt der Tragödie ihre volle Verwirklichung finden wird. Mehr als eine „geistreiche Schwiemelei" stellt DieGeburt der Tragödie den Versuch dar, sich einem Verständnis von Philologie entgegenzustellen, das auf einer unzulänglichen philosophischen Grundlage beruht. Wie schon in der Antrittsrede hebt Nietzsche auch in seinem Erstlingswerk den heuristischen Wert der Philosophie Schopenhauers für die Philologie hervor. Heinrich Romundts Begeisterung über den Erfolg der Antrittsrede seines Freundes ist daher unbestreitbar sachbezogen:
Du kannst mit Recht am Schluß deine Philologie sich als Philosophie entschleiern lassen: denn, was Du hier Großes geleistet, gebührt dem philologisch erfahrenen Philosophen. Es ist wahrhaft erquickend zu sehen, wie Du alle Augenblicke einmal wieder untertauchst in allgemeinere Betrachtung und dann mit einem neuen fruchtbaren Gesichtspunkt aufsteigst, der die speziellen Fragen plötzlich um hundert Schritte weiterbringt. Das hätte kein bloßer Philolog vermocht (16. Juli 1869, Nr. 10, KGB II 2.23).
By Simona Apollonio
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