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Rassismus in der Klassischen Deutschen Philosophie?

Hahmann, Andree
In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Jg. 70 (2022-08-01), Heft 4, S. 641-662
Online academicJournal

Rassismus in der Klassischen Deutschen Philosophie? 

In Germany the voices calling for a critical discussion of racist ideas in the works of the so-called classics of philosophy are growing louder. So far, the focus has been primarily on Kant and Hegel, in whose works racist statements are easily detected. However, the role of these racist ideas in their respective systems remains unclear, and especially in the case of Kant, the question also arises whether Kant is the author of the statements at all. Moreover, the accusation itself is quite ambiguous both in terms of its premises and its subject matter. This paper aims to help clarify this debate. It is primarily concerned with Kant's philosophy, which is, however, situated in the context of some of the central assumptions of the Enlightenment. It will be shown that racist claims result from crucial elements of Kant's mature philosophical system.

Keywords: Immanuel Kant; racism; enlightenment; philosophy of history; teleology

In Deutschland werden die Stimmen immer lauter, die eine kritische Aufarbeitung rassistischen Gedankengutes in den Werken der sogenannten Klassiker fordern. Im Fokus liegen bislang vor allem die vermeintlichen Größen Kant und Hegel, die jeweils für eine ganze philosophische Epoche stehen. Ihnen lassen sich mit Leichtigkeit zahlreiche weitere Autoren hinzufügen, was sicherlich im weiteren Verlauf der Debatte geschehen wird. Ebenso sicher ist, dass es diese rassistischen Aussagen in ihren philosophischen Werken gibt. Das ist aber nahezu alles, was in dieser Debatte als gesichert gelten darf. Unklar ist nicht nur der systematische Status, den diese Bemerkungen haben. Speziell für Kant stellt sich auch die Frage, ob Kant überhaupt Urheber der Aussagen ist oder ob es sich um Zitate, studentische Ergänzungen, bloße Hypothesen etc. handelt. Hinzu kommt, dass der Vorwurf selbst diffus ist, und zwar sowohl, was die eigenen Voraussetzungen betrifft, als auch mit Blick auf den Gegenstand. Das erklärt zum Teil auch die Reaktionen hierauf: So wurde bislang vor allem mit philologischen Mitteln versucht, die angezeigten Bemerkungen in ihrer Wirkung zu entkräften oder man hat den Zeitgeist für die anstößigen Aussagen verantwortlich gemacht.

Ich möchte mit diesem Aufsatz einen Beitrag zur Aufklärung dieser Debatte leisten. Mir geht es dabei vor allem um die Philosophie Kants, die ich jedoch im Kontext einiger zentraler Annahmen der Aufklärung situiere. Ich werde zeigen, dass sich in Kants Philosophie nicht nur rassistische Elemente feststellen, sondern sich auch aus den ihnen zugrunde liegenden Annahmen erklären lassen. Zu diesem Zweck werde ich zuerst den Begriff von Rassismus skizzieren, auf dessen Grundlage die Vorwürfe erhoben werden. Zweitens werden die in Betracht gezogenen Schriften gegen philologische Einwände abgesichert. Drittens wird die systematische Relevanz der als rassistisch markierten Aspekte der kantischen Philosophie aufgezeigt und historisch kontextualisiert.

1 Welcher Rassismus?

Zweifellos handelt es sich bei der zugrunde gelegten Konzeption des Rassismus um einen zentralen Punkt der Debatte. Es ist daher erstaunlich, dass viele Diskussionsteilnehmer die Anstrengungen zur begrifflichen Klärung des Phänomens des Rassismus, die vor allem in den Sozialwissenschaften und verwandten Disziplinen unternommen wurden, ignorieren und stattdessen mit einem undifferenzierten Begriff von Rassismus arbeiten, der zum Teil dem Alltagsverständnis entnommen ist. Diesem alltäglichen oder ersten Verständnis zufolge bedeutet Rassismus eine biologisch motivierte Diskriminierung bestimmter Volksgruppen, die sich vor allem durch äußere Merkmale wie die Hautfarbe unterscheiden. Hierbei handelt es sich der Rassismusforschung zufolge um eine rudimentäre Form des klassischen Rassismus, der vor allem auf biologistischen Vorstellungen beruht und speziell in Deutschland noch immer durch die Erfahrungen des Nationalsozialismus, der aufgrund körperlicher Merkmale Rückschlüsse auf die Wertigkeit der Menschen zog, geprägt ist. Entsprechend richtet sich ein großer Teil der an Kant geäußerten Kritik auf eben solche Bemerkungen, in denen Kant die Menschen nach biologischen Kategorien in „Menschen-Racen" eingeteilt und hierarchisiert hat. In der aktuellen Diskussion ist der Status der klassischen Form des Rassismus umstritten und diese wird durch weitere Formen von Rassismus ergänzt. Seit den 1980er Jahren hat sich der Fokus vor allem auf den kulturell begründeten Rassismus verschoben. Fest steht, dass von Beginn an biologische und kulturelle Elemente miteinander vermischt wurden. Dies belegen auch einige der anstößigsten Bemerkungen Kants, in denen Kant eine Verbindung zwischen der biologischen Rasse und dem Potenzial der kulturellen Entwicklung sieht. Das Gewicht liegt scheinbar auf der biologischen Rasse, die primärer Bestimmungsgrund der kulturellen Bewertung sein soll. Inzwischen ist man jedoch davon überzeugt, dass diese Sicht verkürzt ist. Vielmehr soll es sich bei der biologischen Rasse in letzter Instanz um eine soziale Konstruktion handeln, die selbst aus einem tiefer liegenden kulturellen Rassismus resultiert.

Vor diesem Hintergrund erscheint das Vorgehen in der aktuellen philosophischen Debatte zum Rassismus bei den klassischen Autoren der Philosophie mehr als fragwürdig: Wird nämlich ein unreflektierter Begriff von Rassismus als Beurteilungskriterium zugrunde gelegt, verschiebt dies nicht nur den Fokus auf solche Texte, die weniger zentral für die philosophische Systematik sind. Außerdem übergeht man schlichtweg, dass es zahlreichen Autoren aus dem Bereich der Postcolonial Studies oder Critical Race Theory auch um kulturelle Zuschreibungen geht.

Was man sich nun im Einzelnen unter einem kulturellen Rassismus vorstellen muss, wird auf den Seiten der Bundeszentrale für Politische Bildung folgendermaßen dargelegt:

Rassismus lässt sich als ein Diskriminierungsmuster und Ausdruck gesellschaftlicher Machtverhältnisse beschreiben. In modernen Gesellschaften sind es vor allem kulturelle Merkmale, über die Menschen abgewertet und ausgeschlossen werden.

Weiter heißt es:

Die seit der Zeit der Aufklärung bis ins 20. Jahrhundert vorherrschende Idee, Menschen ließen sich nach biologischen Kriterien in klar voneinander abgegrenzte Rassen unterteilen, wurde wissenschaftlich konsequent zurückgewiesen. Damit hat sich aber das Aussagesystem des Rassismus keineswegs erübrigt. Der Gegenstand rassistischer Markierung hat sich lediglich verschoben von biologisch begründeten Differenzen zu kulturalistisch begründeten Differenzen (Kulturdifferenz). Kulturelle Differenzen unterliegen ebenfalls einem Ranking, in dem das der dominanten Kultur zugeschriebene Eigenschaftsset ganz oben und die den rassistisch markierten Kulturen zugeschriebenen Eigenschaftssets in untergeordneter Position eingeordnet werden. [...] Kulturdifferenz wird zur neuen rassifizierten Konfliktlinie und zum Ort der Herstellung sozialer Grenzziehungen und sozialer Hierarchien.

Zum entscheidenden Merkmal von Rassismus wird somit, dass die unterschiedlichen Kulturleistungen hierarchisiert, d. h. in eine absteigende Reihenfolge gebracht und dadurch systematisch geordnet werden. Die Ungleichheiten zwischen den Rassen werden durch den kulturalistischen Rassismus in eine Differenz zwischen Kulturen umcodiert. Diesen Punkt gilt es meiner Ansicht nach unbedingt zu beachten. Denn nimmt man diese für die aktuelle Diskussion entscheidende Konzeption von Rassismus ernst, hat das für die rassistische Bewertung nicht nur der Philosophie Kants, wie ich im Folgenden zeigen werde, sondern für die meisten Autoren der Aufklärung und der Klassischen Deutschen Philosophie, wie ich leider in diesem Text nur andeuten kann, weitreichende Folgen. Offensichtlich lässt sich die Diskussion des Rassismus in der Klassischen Deutschen Philosophie unter dieser Voraussetzung nicht auf die bislang vor allem thematisierten Aussagen zu biologisch unterschiedenen „Menschen-Racen" einschränken. Es zeigt sich vielmehr, dass sich die so verstandene Rassismuskritik in letzter Konsequenz auf eine entscheidende Grundlage der europäischen Aufklärung richtet, wie an zahlreichen Stellen von den Vertretern der postkolonialen oder kritischen Theorie angemerkt wird, auch wenn sich die genauen Zusammenhänge aus ihren Darstellungen oft kaum erschließen lassen.

2 Kants Rassismus

Kants abfällige Äußerungen über bestimmte Volksgruppen oder Bewohner anderer Erdteile sind lange bekannt. Die Diskussion dieser Bemerkungen ist aber insofern unbefriedigend, als nicht hinreichend zwischen den unterschiedlichen Schriften Kants bzw. ihrer Stellung innerhalb der kritischen Philosophie unterschieden wird. Dieser Umstand entkräftet die Einwände natürlich zu einem erheblichen Maße, da es auf diese Weise den Verteidigern Kants zu leicht gemacht wird, den Vorwurf des Rassismus gegen die kantische Philosophie abzuwehren oder doch zumindest abzuschwächen.

Ich werde daher im Folgenden einen anderen Weg einschlagen und in meiner Darstellung nicht alle Aussagen Kants gleichermaßen berücksichtigen. Einige und vielleicht sogar die anstößigsten Texte werden dezidiert nicht in Betracht gezogen, weil die Quellen, aus denen sie geschöpft werden, einen fragwürdigen Status haben. Meiner Ansicht nach sollte man den von Kant selbst publizierten Texten ein anderes Gewicht einräumen als den nicht von ihm zur Veröffentlichung vorbereiteten und freigegebenen Schriften. Hierunter fallen beispielsweise Reflexionen Kants, die er teils bei der Lektüre anderer Texte angefertigt hat oder die als Vorarbeiten für eigene Schriften angefallen sind. Ausschließen werde ich ebenfalls die Vorlesungsmitschriften, die von Studenten Kants verfasst wurden und die in unterschiedlicher Qualität einen Eindruck über Kants Vorlesungstätigkeit liefern. Die Stellung dieser Texte innerhalb des heute verfügbaren Textkorpus ist problematisch und ich denke nicht, dass sie gleichwertig mit Kants Publikationen behandelt werden sollten. Außerdem will ich kein Material in Betracht ziehen, das der sogenannten vorkritischen Phase Kants zugerechnet wird. Besondere Schwierigkeiten wirft hingegen eine Schrift auf, die für unsere Thematik hoch relevant ist und auch einschlägig diskutiert wird, und zwar die Physische Geographie. Kant hat den Text zwar nicht selbst publiziert, aber die Publikation autorisiert. Die Schrift beinhaltet vor allem Material, das Kant in seinen Vorlesungen verwendet hat und dessen Quellen nicht immer sorgfältig ausgezeichnet wurden. Der genaue Stellenwert des Textes ist unter den Experten daher umstritten. Sicher ist, dass dieser im Jahr 1802 veröffentlichte Text Vorarbeiten Kants vereint, die zu unterschiedlichen Zeiten angefertigt wurden. Ein großer Teil fällt in die oben beschriebene vorkritische Phase von Kants Denken. Hinzu kommt, dass die ursprünglichen Texte Kants später verloren gegangen sind. Wie genau der Herausgeber Friedrich Theodor Rink diese dann miteinander vereint hat, was er also wo ausgeschnitten und eingefügt haben könnte, ist nicht mehr nachvollziehbar. Wir wissen aber, dass es sich vor allem um Notizen gehandelt haben muss, die Kant für seine Vorlesung angefertigt bzw. gesammelt hat. Hinzu kommt nun, dass laut Kant das behandelte Fach oder die in der Vorlesung behandelten Sachgebiete die sogenannte reine und damit für Kant eigentliche Philosophie nicht berühren. Auch wenn einige Interpreten und Leser diese Unterscheidung zurückweisen, muss doch klar sein, dass die Physische Geographie genauso wie die Vorlesungen zur Anthropologie damit einen anderen Ort und systematische Stellung innerhalb von Kants Philosophie einnehmen. Das zeigt sich daran, dass alles, was in diesen Texten zu finden ist, ohne Probleme und ohne irgendeinen Einfluss auf alle anderen publizierten Texte weggelassen werden kann. Der Text selbst könnte also einfach aus der Sammlung der kantischen Schriften entfernt werden, ohne auch nur einen einzigen Buchstaben in einem der anderen Texte zu verändern bzw. irgendeinen Einfluss auf jene Texte auszuüben, die auch heute noch hochgeschätzt werden. Hinzu kommt, dass diese Schriften auch in der heutigen Lehre keine oder eine nur sehr geringe Rolle spielen. Entsprechend selten werden sie daher unterrichtet und nur wenige Studenten kommen in ihrem Studium oder selbst in ihrer späteren Forschung zu Kant mit diesen Schriften in Berührung.

Weil sich der Großteil der bislang diskutierten Passagen in einem dieser Texte befindet, fallen auch die Reaktionen der Kantforscher entsprechend aus: So klären diese mit philologischer Präzision den problematischen Ursprung dieser Äußerungen auf oder weisen auf den abseitigen Ort und den nebensächlichen Charakter hin. Berühren die rassistischen Äußerungen aber nicht die Grundsätze von Kants kritischer Philosophie, dann müsste Kant sich zwar den Vorwurf gefallen lassen, dass er nicht mit der gewohnten Gründlichkeit und Vorsicht solche Themen behandelt hätte, die heutigen Lesern besonders am Herzen liegen, philosophisch wären die Einwände aber nicht sonderlich weitreichend, vorausgesetzt natürlich, man geht nicht davon aus, dass auch die Befindlichkeiten und Reaktionen der Leser in die begriffliche Arbeit der Philosophie mit einfließen sollen. Folglich könnte man solche Äußerungen getrost mit dem entschuldigenden Hinweis beiseite legen, dass Kant eben auch in vielerlei Hinsicht ein Kind seiner Zeit gewesen sei.

Vor diesem Hintergrund weisen einige Verteidiger Kants sogar darauf hin, dass Kant nicht nur für seine Äußerungen entschuldigt werden müsse, vielmehr sollen sich bei ihm sogar die argumentativen Ressourcen entdecken lassen, die es den empörten und durch rassistische Anfeindung bedrohten Minderheiten erlauben würden, Gerechtigkeit einzufordern. Letztlich, so ist zu hören, böte nur die kantische Vernunft selbst die Mittel, mit der gegenwärtigen Vertrauenskrise der westlichen Werte umzugehen.

Dass diese Sicht jedoch in vielerlei Hinsicht verkürzt ist und daher weder dazu beitragen kann, die Empörung zu besänftigen, noch einen Weg aus dieser Krise zu finden, werde ich im verbliebenen Teil dieses Abschnitts zeigen. Denn anders als zunächst vermutet, lauert der von modernen Kritikern angezeigte Rassismus an einer, wie ich meine, zentralen Stelle im kritischen System und in solchen Texten, die den Kern der Philosophie Kants berühren. Zu diesen Schriften muss fraglos die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten gerechnet werden, auch wenn sie vielleicht, was die Vereinbarkeit gewisser Vorstellungen mit früheren und späteren Darstellungen zur Rechtfertigung des obersten Prinzips der Sittlichkeit angeht, einige Schwierigkeiten unter den Kantforschern aufwirft. Niemand würde deshalb jedoch Kants Ausführungen insgesamt als genuin kantische Position infrage stellen. Ganz im Gegenteil scheint Kant seine eigene kritische Haltung gegenüber der Kritik der reinen Vernunft in wichtigen Punkten der Moralphilosophie weiterentwickelt zu haben, da von nun an zum ersten Mal konsequent zwischen Moral und dem menschlichen Streben nach Glückseligkeit unterschieden wird, also einer der Grundzüge der von Kant auf ein universales Fundament gestellten Ethik herausgestellt wird. In ihrer vollendeten Form zeigt sich diese Errungenschaft in der von Kant im zweiten Abschnitt der Grundlegung vorgestellten Formel des kategorischen Imperativs. Vor allem unter angelsächsischen Moralphilosophen sind die von Kant im Anschluss gegebenen alternativen Formulierungen dieses reinen Imperativs beliebt. Mit der ersten sogenannten Naturgesetzformel scheint Kant die unter seinen Zeitgenossen populäre stoische Forderung eines Lebens im Einklang mit der Natur aufzugreifen und durch seine Grundlegung der Moral einer rationalen Rechtfertigung zuzuführen. Das ist alles soweit bekannt, wenn auch noch immer nicht im Detail geklärt, und braucht uns an dieser Stelle nicht weiter zu interessieren. Bemerkenswert ist vielmehr eine Erläuterung Kants, die vier Beispiele für Verpflichtungen bietet, denen der Mensch aufgrund seiner Vernunftnatur unterworfen ist. Dazu gehört nun nach Kant, dass alle Menschen verpflichtet sind, ihre Anlagen zu entwickeln:

Ein dritter findet in sich ein Talent, welches vermittelst einiger Cultur ihn zu einem in allerlei Absicht brauchbaren Menschen machen könnte. Er sieht sich aber in bequemen Umständen und zieht vor, lieber dem Vergnügen nachzuhängen, als sich mit Erweiterung und Verbesserung seiner glücklichen Naturanlagen zu bemühen. Noch frägt er aber: ob außer der Übereinstimmung, die seine Maxime der Verwahrlosung seiner Naturgaben mit seinem Hange zur Ergötzlichkeit an sich hat, sie auch mit dem, was man Pflicht nennt, übereinstimme. Da sieht er nun, daß zwar eine Natur nach einem solchen allgemeinen Gesetze immer noch bestehen könne, obgleich der Mensch (so wie die Südsee=Einwohner) sein Talent rosten ließe und sein Leben bloß auf Müßiggang, Ergötzlichkeit, Fortpflanzung, mit einem Wort auf Genuß zu verwenden bedacht wäre; allein er kann unmöglich wollen, daß dieses ein allgemeines Naturgesetz werde, oder als ein solches in uns durch Naturinstinct gelegt sei. Denn als ein vernünftiges Wesen will er nothwendig, daß alle Vermögen in ihm entwickelt werden, weil sie ihm doch zu allerlei möglichen Absichten dienlich und gegeben sind.

Ich denke, dass sich die generelle Stoßrichtung des Arguments auch ohne weitergehende Erläuterungen zur übergeordneten Argumentation erschließt. Der Mensch ist durch seine Vernunftnatur dazu verpflichtet, seine Anlagen und Talente nach Möglichkeit zu verwirklichen. Eine „Verwahrlosung seiner Naturanlagen" wäre hingegen unvernünftig, da man unmöglich wollen kann, sich selbst in seinen Absichten und Fähigkeiten einzuschränken. Es muss daher ein Zeichen der Unvernunft sein, die Ausbildung der eigenen Vermögen und Kenntnisse nicht voranzutreiben und mithin nicht am Fortschritt der gesellschaftlichen Kultur mitzuwirken. Wer die mit Mühe und Anstrengung verbundene Ausbildung nicht auf sich nimmt, vergeht sich daher auch an der menschlichen Natur bzw. dem vernünftigen Gesetz der Natur. Um die von Kant an dieser Stelle evozierte stoische Formel des Lebens in Einklang mit der Natur zu gebrauchen: Die Natur (qua gesetzlich geordnete Vernunftnatur) fordert den Menschen dazu auf, sich und seine Anlagen nach Möglichkeit zu entwickeln. Genügsamkeit mit den Gaben der Natur und freudige Anpassung an die glücklichen Umstände müssen hingegen als Verwahrlosung der eigentümlichen Natur des Menschen angesehen werden und degradieren folglich den Menschen als Vernunftwesen. Wer die eigenen Talente antriebslos nicht weiterentwickelt, stellt sich selbst auf eine Stufe mit den vernunftlosen Tieren, wie Kant in der nur kurzen Zeit später erschienenen Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht behauptet:

die Menschen, gutartig wie die Schafe, die sie weiden, würden ihrem Dasein kaum einen größeren Werth verschaffen, als dieses ihr Hausvieh hat; sie würden das Leere der Schöpfung in Ansehung ihres Zwecks, als vernünftige Natur, nicht ausfüllen.

Dass Kant in der Grundlegung anstelle des „Hausviehs" die „Südsee=Einwohner" als Kontrastfolie gewählt hat, ist kein Zufall, wie aus der nur kurz zuvor in derselben Zeitschrift publizierten Rezension von Herders geschichtsphilosophischem Hauptwerk deutlich wird. So hat Herder nach Kants Ansicht den Fehler begangen, in seiner Darstellung der Geschichte nicht auf diese Vernunftforderung Rücksicht zu nehmen, weshalb er auch zu einem falschen Begriff der Geschichte gekommen ist:

Meint der Herr Verfasser wohl: daß, wenn die glücklichen Einwohner von Otaheite, niemals von gesittetern Nationen besucht, in ihrer ruhigen Indolenz auch tausende von Jahrhunderten durch zu leben bestimmt wären, man eine befriedigende Antwort auf die Frage geben könnte, warum sie denn gar existiren und ob es nicht eben so gut gewesen wäre, daß diese Insel mit glücklichen Schafen und Rindern, als mit im bloßen Genusse glücklichen Menschen besetzt gewesen wäre?

Die Kritik Kants an seinem Zeitgenossen zielt darauf ab, dass die von Herder ins Zentrum seiner historischen Untersuchung gestellte Glückseligkeit für Kant keinen Grund dafür liefert, zwischen Menschen und Tieren zu unterscheiden. Kant betont hingegen, dass der Wert der menschlichen Existenz nur in seiner Vernunftnatur und der mit der Vernunft verknüpften Entwicklung der menschlichen Kulturleistung liegen kann. Eng hieran geknüpft ist auch die rechtliche Struktur des Staates. Die Bewohner Otaheites (oder Tahitis) sollen hingegen glücklich gepriesen werden, dass zivilisierte Besucher sie von der höheren Bestimmung des Menschen aufgeklärt haben. Ansonsten, so Kant, hätte die Insel genauso gut von Schafen und Rindern besiedelt sein können, ohne dass dies etwas am Wert der dort ansässigen Bewohner verändert haben würde. Kant greift mit der Vorstellung dieser wohlwollenden und gesitteten Besucher Tahitis einen Gedanken wieder auf, den er zuvor bereits in seiner eigenen geschichtsphilosophischen Abhandlung Idee zu einer allgemeinen Geschichte hat anklingen lassen. Nur kann man an dieser Stelle ersehen, dass Kant selbst über die nicht immer mit selbstlosen Intentionen handelnden Besucher im Klaren gewesen sein muss, mutmaßt er doch, dass diese Besucher „wahrscheinlicher Weise allen anderen dereinst Gesetze geben" werden.

Mit Blick auf diese Aussagen ist es allerdings nicht einfach, Kant gegen einen seiner schärfsten Kritiker in Schutz zu nehmen, wenn er darauf aufmerksam macht, dass in Kants Schriften „non-Europeans are generally seen not as persons but as ‚savages' and ‚barbarians'". Was Mills zur Stützung seiner Behauptung anführen könnte, sind die zahlreichen und über das ganze Werk Kants verstreuten Kommentare und Bewertungen der kulturellen Leistungen außereuropäischer Völker. In diesem Sinne anstößige Bemerkungen Kants finden sich nämlich nicht bloß in irgendwelchen abseitigen Schriften mit fragwürdigen Quellen, sondern beispielsweise auch in der Kritik der Urteilskraft, also einer der Hauptschriften Kants und damit zentral im System der kritischen Philosophie verankert. Kant bemerkt dort, dass es schwierig ist, der menschlichen Existenz einen vernünftigen Zweck zuzusprechen „wenn man etwa die Neuholländer oder Feuerländer in Gedanken hat" oder dass das Ungeziefer „die Wüsten von Amerika den Wilden so beschwerlich mache", damit „diese angehenden Menschen" zur Tätigkeit angespornt werden. Das bedeutet freilich, dass die tatsächlichen Behausungen kaum Rückschlüsse auf zivilisatorische Leistungen erlauben. Da sich die Bewohner dieser Erdteile tatsächlich noch immer in einer Art Naturzustand befinden, erlaubt der Blick auf ihre unterentwickelten Kulturen auch einen Blick zurück auf die Ursprünge der eigenen europäischen Zivilisation. Dieser Umstand wird für Kant in der Frage der ursprünglichen Anlagen des Menschen wichtig. Sofern die Bewohner anderer Erdteile es unterlassen haben, die eigenen Anlagen zu entwickeln, kann man an ihrem Beispiel sehr gut den natürlichen Hang des Menschen zur Bosheit ersehen:

Daß nun ein solcher verderbter Hang im Menschen gewurzelt sein müsse, darüber können wir uns bei der Menge schreiender Beispiele, welche uns die Erfahrung an den Thaten der Menschen vor Augen stellt, den förmlichen Beweis ersparen. Will man sie aus demjenigen Zustande haben, in welchem manche Philosophen die natürliche Gutartigkeit der menschlichen Natur vorzüglich anzutreffen hofften, nämlich aus dem sogenannten Naturzustande so darf man nur die Auftritte von ungereizter Grausamkeit in den Mordscenen auf Tofoa, Neuseeland, den Navigatorsinseln und die nie aufhörende in den weiten Wüsten des nordwestlichen Amerika [...], wo sogar kein Mensch den mindesten Vortheil davon hat, †) Wie der immerwährende Krieg zwischen den Arathapescau= und den Hundsribben=Indianern keine andere Absicht, als bloß das Todtschlagen hat. Kriegstapferkeit ist die höchste Tugend der Wilden in ihrer Meinung.

Es sollte jedem klar geworden sein, dass vor dem Hintergrund der oben herausgestellten Konzeption von Rassismus die hier angeführten Aussagen Kants als rassistisch bewertet werden müssen. Anders als bei den Zitaten, die aus Vorlesungsmitschriften oder späteren Kompilationen entnommen sind, besteht auch kein Grund, die Authentizität dieser Aussagen in Zweifel zu ziehen. Alle Bemerkungen sind aus publizierten Schriften Kants der sogenannten kritischen Phase, also nach der Publikation der Kritik der reinen Vernunft, entnommen. Natürlich sind auch diese Textpassagen nicht (zumindest nicht vollständig) in der Forschung ignoriert worden. Als Reaktion hierauf ist vorgeschlagen worden, dass es auch innerhalb der als kritisch ausgegebenen Philosophie eine weitreichende Entwicklung in Kants Denken gegeben haben soll. So soll Kant selbst zu einem Bewusstsein der Unverträglichkeit dieser Thesen mit Grundvorstellungen seiner universalistischen Moral gekommen sein, was schließlich zu einer radikalen Abkehr von seinen rassistischen Vorurteilen geführt haben soll. Gegen diesen Ansatz spricht allerdings, dass die angeführten Textstellen einen hohen Grad an Übereinstimmung aufweisen: So kreisen diese immer wieder um dieselbe Thematik der Vernunftentwicklung und der notwendigen Ausbildung der menschlichen Anlagen. Zusammengenommen decken die Texte einen großen Zeitraum der kritischen Phase ab. Zur Erinnerung: Die Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht wurde von Kant 1784 in der Berlinischen Monatsschrift veröffentlicht. In derselben Zeitschrift erscheint ein Jahr später seine Rezension von Herders Werk. Die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten wurde gleichfalls 1785 veröffentlicht. Die Kritik der Urteilskraft erscheint als dritte Kritik fünf Jahre später (1790). Die sogenannte Religionsschrift ist in mehreren Teilen in den Jahren 1793 und 1794 erschienen. Dass Kant 1795 in der Schrift Zum Ewigen Frieden seine Meinung dann tatsächlich radikal geändert haben könnte, ist nicht nur sehr unwahrscheinlich, sondern kann meiner Meinung nach aufgrund der weitergehenden systematischen Gründe, die zu Kants rassistischen Aussagen geführt haben, ausgeschlossen werden. Dieselben geschichtsphilosophischen Überlegungen finden sich daher auch in der Friedensschrift. Im nächsten Abschnitt werde ich noch etwas genauer auf die weitergehenden systematischen Gründe für Kants Rassismus eingehen und die zugrunde liegenden Annahmen historisch kontextualisieren.

3 Geschichtsphilosophie und das Projekt der Aufklärung

Wir haben gesehen, dass laut Kant jeder einzelne Mensch durch seine Vernunft dazu verpflichtet wird, seine eigenen Anlagen und Talente zur vervollkommnen und diese nicht, wie der faule Diener, von dem die Evangelisten Matthäus und Lukas berichten, zu vergraben. Bei der Vorstellung, dass die Menschen über gewisse Keime oder Anlagen verfügen, die durch äußere Anreize ausgebildet werden können und dies letztlich aus Vernunftgründen auch müssen, handelt es sich um ein gängiges Motiv der Philosophie der Aufklärung. Es geht um die Idee, dass der Mensch eine eigentümliche Bestimmung hat, die wiederum an die Vernunftnatur des Menschen gekoppelt ist. Die im 18. Jahrhundert populäre Vorstellung, dass Menschen eine besondere Vernunftbestimmung haben, ist in Deutschland eng mit dem Namen Johann Joachim Spalding verbunden, der mit seinem berühmten Aufsatz „Betrachtung über die Bestimmung des Menschen" (1748) die öffentliche Diskussion entfacht hat und damit die erst in ihrer Entstehung begriffene und für die weitere Entwicklung der deutschen Aufklärung zentrale Anthropologie entscheidend geprägt hat. Nicht zufällig wird Kant sein eigenes Projekt später unter der Frage zusammenfassen: „Was ist der Mensch?" Im selben Jahr, in dem Spalding die erste Fassung seines Aufsatzes publizierte, fragt der mit Spalding befreundete Theologe August Friedrich Wilhelm Sack ganz in diesem Sinn: „Was ist der Mensch? woher kommt er? wozu ist er bestimmt? und welche sind die Mittel, die ihn zu seiner Bestimmung bringen können?" Beide, sowohl Spalding als auch Sack, verstehen ihr Anliegen im Kontext der klassischen philosophischen Frage nach dem Zweck des Menschen in der Welt und danach, wie er diesen erfüllen kann.

Viele wichtige Vertreter der deutschen Aufklärung haben hierzu Stellung bezogen. Von Anfang an wurde die Beantwortung der Frage sehr eng mit einem philosophischen Blick auf die Geschichte verknüpft, die unter dieser Perspektive betrachtet zur Universalgeschichte wird, also zu einer Geschichte, die nicht nur einzelne Epochen oder gewisse Bereiche umfasst, sondern die Entwicklung des Menschen in seiner Gesamtheit thematisiert. Dieser Punkt ist bedeutsam für die hier behandelte Problematik. Wie sich die einzelnen Aspekte dieser Vorstellung ineinanderfügen und zur vernunftgeforderten Systematik einer Geschichte als Universalgeschichte verhalten, wird sehr gut deutlich in dem heute leider fast vergessenen Werk des Göttinger Professors August Ludwig Schlözer: Vorstellung seiner Universalgeschichte. Gleich zu Beginn seiner Ausführungen macht Schlözer klar, was er unter einer Universalgeschichte versteht, nämlich eine „systematische[...] Weltgeschichte". Das impliziert seiner Ansicht nach, dass die „grossen Weltbegebenheiten im Zusammenhange" betrachtet werden, also nicht isoliert oder für sich genommen ausgeführt werden. Denn im Unterschied zu den Spezialgeschichten umfasst die Universalgeschichte „alle Welttheile und Zeitalter, und sammlet alle Völker in allen Ländern zusammen. Ihr Gegenstand ist die Welt und das menschliche Geschlecht". Gegenüber einer bloßen Weltgeschichte (also der Sammlung aller Spezialgeschichten) zeichnet sich die Universalgeschichte zusätzlich dadurch aus, dass sie die Ereignisse systematisch – und das heißt für Schlözer: auf einen übergeordneten Zweck hin bezogen, der somit das Ordnungskriterium der Ereignisse liefert – anordnet. Ausgangspunkt der historischen Untersuchung ist die Vorstellung, dass „Alle Menschen [...] Geschöpfe von einer Art" sind. Sie haben alle denselben Stammvater in Moses, somit entspringen sie aus einem Ursprung. Dass sie trotzdem einander unähnlich sind, erklärt Schlözer mit dem Hinweis auf „Revolutionen", die sie erfahren haben sollen:

Der Mensch ist von Natur nichts, und kann durch Conjuncturen alles werden: die Unbestimmtheit macht den zweiten Theil seines Wesens aus. Tausend Kräfte schlummern in ihm, und werden ewig schlummern, wenn nicht Anlässe sie vom blossen Können zum Wirken rufen. Kommt er in Wildnisse, und wächst unter Schaafen auf: so wird er ein Schaaf, frißt Schaafkräuter, und blöket wie ein Schaaf. Kommt, er in Situationen, wo seine Vernunft erwacht: so rückt er von der Stufe weg, auf der er bisher neben dem Thiere stund, und steigt entweder aufwärts, und veredelt sich, und wird ein Sokrates, ein Antonin, ein Montesquieu [...].

Der Vergleich der Bewohner anderer Erdteile mit Schafen ist uns oben bereits bei Kant begegnet. Die Übereinstimmungen zu Kant sind auch, was andere Punkte betrifft, auffallend. Doch darauf kann ich an dieser Stelle nicht weiter eingehen. Ein Weg, der von Kants Forderung der Vervollkommnung der Vernunftanlagen des Menschen direkt zur hier ausgeführten Geschichtsphilosophie führt, besteht in der Feststellung, dass die Lebenszeit des einzelnen Menschen zu kurz dafür bemessen ist, alle Anlagen vollständig zu entwickeln. Aus diesem Grund wird die Entwicklung der Vernunftanlagen zur Aufgabe der menschlichen Gattung und somit zu einer Aufgabe, die sich auf zahllose Generationen von Menschen erstreckt, die sukzessive ihre Anlagen ausbilden. Angespornt wird der Mensch dabei durch seine eigene Natur, die in sich widersprüchliche Tendenzen vereint (Kant spricht z. B. von einer „ungeselligen Geselligkeit") und den äußeren Umständen, wie der Verschiedenheit der Sprachen und Religionen, die kontinuierlichen Anlass zu kriegerischen Auseinandersetzungen liefern. Denn ohne diesen „Antagonism" wären die Menschen zu einem „arkadischen Schäferleben" verurteilt. So würde das Menschengeschlecht zwar in Eintracht und Genügsamkeit leben, aber ebenso gutmütig wie die Schafe und daher auch ohne einen höheren Wert als die unvernünftige Kreatur. Die Menschen stehen laut Kant vielmehr in einem kontinuierlichen Wettstreit miteinander, der zu einem dauerhaften Kriegszustand zwischen ihren Gesellschaften führt, der zwar verwerflich, aber zugleich notwendig ist, da nur auf diese Weise rechtliche Verfassungen mit garantierten Freiheiten gestiftet und dauerhaft aufrechterhalten werden können. Diese Freiheiten sind für Kant nötig, um die Innovationskraft des Menschen zu fördern, was der Gemeinschaft wiederum Vorteile im Wettkampf mit anderen Staaten verschafft. Deutlich wird die Notwendigkeit dieses kriegerischen Wettbewerbs der Völker an Kants Einschätzung des Schicksals der Chinesen:

Man sehe nur Sina an, welches seiner Lage nach wohl etwa einmal einen unvorhergesehenen Überfall, aber keinen mächtigen Feind zu fürchten hat, und in welchem daher alle Spur von Freiheit vertilgt ist. Auf der Stufe der Cultur also, worauf das menschliche Geschlecht noch steht, ist der Krieg ein unentbehrliches Mittel, diese noch weiter zu bringen; und nur nach einer (Gott weiß wann) vollendeten Cultur würde ein immerwährender Friede für uns heilsam und auch durch jene allein möglich sein.

Chinas Problems besteht für Kant darin, dass es zu mächtig ist und keinen äußeren Feind zu fürchten braucht, weshalb es seinen Bürgern keinen inneren Freiheitsspielraum lässt, was wiederum für weitere, auch technische Innovationen erforderlich ist. Anders ausgedrückt: Weil die Rechtssicherheit und die durch die Gesetze gestifteten Freiheiten im Inneren fehlen, macht China keine Fortschritte in der Vernunftentwicklung und wird zudem sehr bald von den erstarkenden äußeren Feinden überwältigt werden.

Das sind in Kürze die Grundzüge von Kants Geschichtsphilosophie, die ausgehend von der vernunftgeforderten Aufgabe der vollständigen Entwicklung der menschlichen Anlagen zur Etablierung einer rechtlichen Ordnung als Voraussetzung für ihre Verwirklichung fortschreitet. Vor dem Hintergrund der oben herausgestellten Konzeption des Rassismus produziert diese Form der Geschichtsphilosophie rassistische Urteile, weil die außereuropäischen Gesellschaftsformen gemessen am Standard der von Kant geforderten Vernunftentwicklung rückständig erscheinen. Diese Beobachtung hat einige Kritiker dazu veranlasst, jede Form von Teleologie in der Geschichtsphilosophie zu verurteilen, was wie folgt begründet wird:

Das teleologische Urteil ist ein normatives Urteil, da es sich auf einen Zielpunkt hin orientiert. Dadurch können andere Entwicklungen nicht als solche gedacht werden, sondern lediglich als sich in grösserer Distanz zum Ziel befindend oder dieses verfehlend beurteilt werden. In einem kolonialen Kontext bedeutet dies, epistemische Macht auszuüben und die eigene Vorrangstellung zu etablieren und zu verteidigen. Das Othering ist keine zufällige Erscheinung in diesem Text, sondern mit dem teleologischen Urteil intrinsisch verbunden.

Man muss jedoch beachten, dass allein aus der teleologischen Betrachtungsweise und der hieran geknüpften Entwicklungsforderung nicht notwendig ein lineares und positives Geschichtsverständnis folgt, was wiederum zu einer problematischen Beurteilung der außereuropäischen Kulturentwicklung führt. Entscheidend ist vielmehr die Verbindung von Geschichte, Teleologie und einer allumfassenden (oder universalen) Vernunftsystematik. Die Forderung, dass die Geschichte systematisch abgefasst sein sollte, findet sich schon bei Schlözer, der Systematizität eng mit der teleologischen Ordnung verbunden hat, sodass sich das System durch die Auswahl und Anordnung der Ereignisse mit Blick auf einen übergeordneten Zweck ergeben soll. Kant baut diesen Gedanken weiter aus, indem er die Bedeutung eines übergeordneten „Leitfadens" zur Erstellung einer solchen Geschichte herausstellt. Als Bezugspunkt dieses Leitfadens dient die „Vorsehung", die als „verborgene[r] Plan[...] der Natur" die Verwirklichung der Bestimmung des Menschen vorantreibt. Mithilfe dieses Plans können die an sich unzusammenhängenden Ereignissen zu einem systematischen Ganzen verbunden werden, um auf diese Weise der Forderung der Vernunft nach systematischer Einheit gerecht zu werden:

Ein philosophischer Versuch, die allgemeine Weltgeschichte nach einem Plane der Natur, der auf die vollkommene bürgerliche Vereinigung in der Menschengattung abziele, zu bearbeiten, muß als möglich und selbst für diese Naturabsicht beförderlich angesehen werden. Es ist zwar ein befremdlicher und dem Anscheine nach ungereimter Anschlag, nach einer Idee, wie der Weltlauf gehen müßte, wenn er gewissen vernünftigen Zwecken angemessen sein sollte, eine Geschichte abfassen zu wollen; es scheint, in einer solchen Absicht könne nur ein Roman zu Stande kommen. Wenn man indessen annehmen darf: daß die Natur selbst im Spiele der menschlichen Freiheit nicht ohne Plan und Endabsicht verfahre, so könnte diese Idee doch wohl brauchbar werden; und ob wir gleich zu kurzsichtig sind, den geheimen Mechanism ihrer Veranstaltung durchzuschauen, so dürfte diese Idee uns doch zum Leitfaden dienen, ein sonst planloses Aggregat menschlicher Handlungen wenigstens im Großen als ein System darzustellen.

Dass die drei Elemente Teleologie, System und Vernunft für die Geschichtsphilosophie entscheidend sind, wird wenige Jahre später von Friedrich Schiller, der sowohl Kant als auch Schlözer vor Augen hat, noch einmal unterstrichen. In Schillers Ausführungen wird auch deutlich, dass vor allem die mit der Vernunft verknüpfte Forderung nach systematischer Einheit dazu führt, die unterschiedlichen soziokulturellen Entwicklungen auf einen einzigen Zielpunkt hin zu ordnen und folglich auch miteinander zu vergleichen, was schließlich in abwertenden Urteilen über fremde Kulturen resultiert.

Setzt man also wie Kant erstens voraus, dass die Menschen aufgrund ihrer Vernunftnatur ihre eigenen vernünftigen Anlagen entwickeln sollen (was, wie gesagt, Pflicht ist); zweitens, dass diese Entwicklung nur in der Gattung realisiert und daher historisch verstanden werden muss; drittens, dass die Vernunft universal und somit nicht nur für alle Menschen gleichermaßen gesetzgebend ist, sondern auch notwendig systematisch (also auf eine umfassende Einheit hin orientiert) verfährt; viertens, dass die Errichtung einer durch das Recht gestifteten Ordnung die Bedingung der vollständigen Entwicklung der menschlichen Anlagen ist, was somit den Zielpunkt der vernunftbestimmten Perspektive auf die Geschichte liefert. So folgt daraus, dass alle bestehenden gesellschaftlichen Ordnungen in ihrer historischen Entwicklung an diesem idealen Zielpunkt gemessen werden. Aus der Perspektive derjenigen, die einen scheinbar höher entwickelten Zustand erreicht haben, erscheinen die abweichenden Vorstellungen somit als minderwertig und defizitär in ihrer Entwicklung, was die oben herausgestellten rassistischen Bemerkungen erklärt.

Zum Schluss soll auf zweierlei aufmerksam gemacht werden: Nicht wichtig für die vorliegende Fragestellung ist der epistemische Status von Kants Geschichtsphilosophie, d. h. also die Frage, ob Kant der Ansicht ist, dass die Geschichte durch eine zweckhafte Ordnung bestimmt wird oder ob es sich hierbei lediglich um eine Annahme handelt, die den Blick des Historikers auf die Geschichte lenken sollte, weil die Natur der Vernunft das fordert. Die Entscheidung dieser Frage ändert nichts an der Relevanz der rassistischen Aussagen, die diese Vorstellung der Geschichte bei Kant und seinen Zeitgenossen hervorgerufen hat. Wichtig ist hingegen festzustellen, welche systematische Stellung die Geschichtsphilosophie in Kants kritischer Philosophie hat. Lässt sich diese ebenso leicht aus dem Korpus der kantischen Schriften tilgen wie die Überlegungen zur Physischen Geographie oder Kants Texte zur Einteilung der „Menschen-Racen"? Dass dies leider nicht der Fall ist, sondern dass die Geschichtsphilosophie zentrale Aspekte der kantischen Philosophie berührt, die auch heute noch hochgeschätzt werden, kann ich an dieser Stelle nur andeuten, aber nicht mehr in der notwendigen Ausführlichkeit darlegen.

4 Ergebnis

Dieser Aufsatz hat gezeigt, dass sich die rassistischen Elemente der Philosophie Kants weder durch den Zeitgeist noch durch philologische Präzision wegerklären lassen, sondern das Ergebnis aus der Verbindung drei eng miteinander verknüpfter Vorstellungen sind, die selbst wiederum tief in der Philosophie der Aufklärung verwurzelt sind und einen großen Einfluss auf die nachfolgende Entwicklung der Klassischen Deutschen Philosophie ausgeübt haben. An erster Stelle steht hierbei die Vorstellung, dass es zur Bestimmung des Menschen gehört, seine Vernunftanlagen vollständig zu entwickeln. Dass sich diese Entwicklung vor allem in der Gattung und nicht nur am Individuum vollzieht, stellt eine wesentliche Neuerung gegenüber den antiken Vorläufern dieser Idee dar und liefert zweitens den Grund, weshalb sich der Fokus der Philosophie auf die Geschichte als Manifestation dieser Vernunftentwicklung gerichtet hat. Diese beiden Vorstellungen an sich betrachtet führen jedoch nicht notwendig zu einem abwertenden Blick auf die kulturellen Leistungen anderer Gesellschaftsformen. Das folgt drittens daraus, wenn man voraussetzt, dass alle Menschen gleichermaßen dieser Vernunftforderung unterstellt sind und dass die Vernunft selbst auf systematische Einheit abzielt. Die vernunftgeforderte systematische Einheit macht die Geschichte, wie Schlözer in Übereinstimmung mit Kant oder später auch Reinhold und Schiller betont, zu einer Universalgeschichte, das heißt also zu einer Geschichte, die alle Menschen zu allen Zeiten und auf allen Teilen der Erde umfasst und ihre Handlungen einem Ziel unterordnet, an dem gemessen sich unterschiedliche Entwicklungsstufen der jeweiligen Kulturleistungen ablesen lassen. Dieses Ergebnis einmal zugestanden, stellt sich die Frage, inwieweit diese Annahmen mit Kants Konzeption der Vernunft verknüpft sind. Anders ausgedrückt: Lassen sich die rassistischen Elemente aus Kants Geschichtsphilosophie isolieren bzw. entfernen, ohne die Systematik grundsätzlich infrage zu stellen? Mir scheint, dass an der Beantwortung dieser Frage auch die Entscheidung über das Wesen des kantischen Vernunftuniversalismus hängt. Fragwürdig ist nicht zuletzt, ob sich ein guter von einem bösen Universalismus unterscheiden lässt. Oder sind die rassistisch auslegbaren teleologischen Annahmen essentiell mit der Vorstellung einer universalen Vernunftsystematik verbunden? In diesem Fall würde es sich tatsächlich, wie Maureen Maisha Auma vermutet, um die „Kehrseite oder [...] die manifest gewordenen Widersprüche der Gleichheitsideologie der Aufklärung" handeln, die in der kantischen Ausprägung durch den universalen Anspruch der Vernunft mitgegeben werden. Nicht wenig hängt also an der systematischen Stellung der Geschichtsphilosophie in Kants kritischer Philosophie. Dies zu entscheiden war nicht die Aufgabe des vorliegenden Aufsatzes, der lediglich auf die theoretischen Zusammenhänge aufmerksam machen wollte, um auf diese Weise einen Beitrag zur begrifflichen Klärung der Problematik zu leisten. Mein Fazit würde somit in Anlehnung an Willaschek folgendermaßen lauten: Kants Universalismus kann nur dann gegen die postkoloniale Kritik verteidigt werden, wenn man den inhärenten Rassismus klar herausarbeitet und die betroffenen Elemente seiner Philosophie identifiziert, und nicht, indem man ihn leugnet.

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Zum Begriff „Rassismus" vgl.[13] , 5–9; [21] , 4–6; sowie [7] , 7–15. Vgl. Willaschek (2020): „Auch wenn Kants Rassentheorie alle Menschenrassen auf einen gemeinsamen Ursprung zurückführt, schützt ihn dies also nicht vor unhaltbaren pauschalen Abwertungen anderer Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe. Genau das ist es aber, was einen Rassisten im heute diskutierten Sinn ausmacht." Wolff (2020) greift diese Definition wieder auf: „Rassismus bestehe darin, Menschen aufgrund ihrer bloßen Hautfarbe ‚zu diskriminieren' oder einen ‚herabsetzenden Blick' auf sie zu werfen." Mecheril/Scherchel (2009), 49. PG AA 9, 316; Refl. AA 15, 878; V-Anth AA 25.2, 1187; ÜGTP, AA 8, 176. Kant wird zitiert nach der Akademie-Ausgabe Kant (1900 ff.). Die Siglen entsprechen den Vorgaben der Kant-Studien. Die Kritik der reinen Vernunft wird zitiert nach der ersten (A) und zweiten (B) Auflage. [28] , 99, erkennt darin einen Paradigmenwechsel. Vgl. auch [3].[21] , 95–99, grenzt diesen „new racism" ausführlich von früheren Formen ab. [27] , 160; [13] , 7. Zum Verhältnis zwischen klassischen und kulturalistischen Formen des Rassismus vgl.[2] , 58. Auma (2017). Vgl. auch Barskanmaz (2020) sowie (2019), 55: „Anknüpfungspunkt dieser Form von Rassismus ist nicht mehr ein biologisches Rassekonzept, sondern ein eurozentrischer Kulturbegriff, womit den ‚anderen' oder ‚fremden' Kulturen implizit minderwertige und defizitäre Eigenschaften zugesprochen werden." Ebd. Laut [2] , 55, entsteht so, mit Verweis auf Etienne Balibar, ein „Rassismus ohne Rasse". Vgl.[1] : „Die Form von Rassismus, mit der unsere heutigen Gesellschaften (die Moderne oder die Spätmoderne) zu kämpfen haben, hat allerdings ihre Wurzeln in der Zeit der Aufklärung (Ende des 18. Jh.). Rassistisch und auch sexistisch begründete Ungleichheiten und Ausbeutungsbestrebungen sind keine Nebenprodukte, sondern eigentlich Säulen unserer modernen Gesellschaftsform. Sie können als die Kehrseite oder als die manifest gewordenen Widersprüche der Gleichheitsideologie der Aufklärung verstanden werden". Willaschek (2020) irrt sich daher auch, wenn er behauptet: „Kant in unserem heutigen Sinn als Rassisten zu bezeichnen bedeutet aber auch nicht, ihn zum Vordenker des Kolonialismus [...] zu machen." Ich denke, genau das ist die Absicht der aktuellen Kritiker. Ein gutes Beispiel für dieses Vorgehen ist [20]. So hebt [15] , 588, hervor: „These interpretations are based on Kant's earlier texts, and therefore they are at most defensible as interpretations of his earlier views, not of his later views on the races." Beispiele für eindeutig rassistische Äußerungen aus dieser Phase von Kants Philosophie sind zahlreich. Vgl. etwa: GSE AA 2, 253 u. 255, sowie VvRM AA 2, 438. Geradezu meisterlich wird das von Michael [33] und [34]) geleistet. Das setzt natürlich voraus, dass man zwischen der epistemischen Dimension des Textes, der emotionalen Reaktion des Lesers und den dominanten moralischen Vorstellungen der jeweiligen Zeit unterscheidet. Vermischt man diese Ebenen jedoch, lauern überall Verletzungen, vor allem natürlich bei den philosophischen Klassikern, die, und das macht sie vermutlich zu Klassikern, nicht davor zurückschrecken, konsequent auch solche Schlüsse aus ihren Voraussetzungen zu ziehen, die unter Umständen schon ihr zeitgenössisches Publikum erschreckt oder verletzt haben. Als Philosophiehistoriker denkt man zuerst an Autoren wie Spinoza oder Epikur, deren Lehren über Jahrhunderte als gefährlich oder beängstigend wahrgenommen wurden. [31] ; [18] , 121; [9] , 128. Vgl.[4] , ebenso [18] , 124. Wichtig ist ihnen vor allem der Universalismus der Vernunft, der dazu befähigen soll, Brücken zu schlagen, um die im Dschungel der Identitäten auseinanderdriftende Gesellschaft zu befrieden, wie auch [29] betont. [30] , 78–79. GMS, AA 4, 422–424 (Hervorh. im Orig.). IaG, AA 8, 21. RezHerder, AA 8, 64–65. IaG, AA 8, 29. [20] , 92. KU, AA 5, 378. Ebd., 379. Ebd. RGV, AA 6, 32–33. Da Kleingeld von einem anderen Rassismusverständnis ausgeht, bewertet sie die zitierte Passage ganz anders (Kleingeld 2007 , 589): „Finally, Kant's ascription of mental characteristics to the different races has changed. For example, he ascribes the ideal of military courage equally to Native Americans and mediaeval European knights". Vgl. auch ZeF, AA 8, 365. [15] , 575, ist der Ansicht, dass Kant seine rassistischen Vorstellungen nach der Publikation der Schrift Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie im Jahr 1792 bis zur Publikation der Friedensschrift 1795 radikal geändert habe. So soll sich ab 1790 keine Hierarchisierung der Rassen bei Kant mehr finden lassen (ebd., 586). Man muss beachten, dass Kleingeld den Fokus auf Kants Rassentheorie legt. Sie konzentriert sich also in erster Linie auf einen biologisch motivierten Rassismus, den sie wohl zu Recht als im Widerspruch mit Kants Universalismus stehend ansieht. Dass der Universalismus selbst Quelle von Rassismus sein könnte, wird von ihr aber nicht in Betracht gezogen. Der Unterschied zwischen der vorliegenden Untersuchung und Kleingelds Ansatz sowie den meisten anderen Arbeiten zu dieser Thematik wird besonders gut daran deutlich, dass es diesen Texten vor allem um die Frage geht, ob Kant allen Rassen dieselben historischen Entwicklungspotentiale zuschreibt ([15] , 582; [16] , 105; sowie [17]), wohingegen die vorliegende Untersuchung darauf aufmerksam macht, dass diese historische Betrachtungsweise selbst Gefahr läuft, zu rassistischen Bemerkungen zu führen. ZeF AA 8, 360–368. Matthäus 25,14–30 u. Lukas 19,12–27. Weder die Verwendung dieser, wie Reinhard [5] , 13, bemerkt, aus der stoischen Naturphilosophie entlehnten Terminologie noch ihr Gegenstand stechen besonders aus Kants historischem Umfeld heraus. [11] , 6.[8] , 21, zufolge handelt es sich bei der Frage nach der Bestimmung des Menschen um „eine der bedeutendsten Leitideen der gesamten aufklärerischen Bewegung in Deutschland [...] In dieser Idee konzentrierten sich einige der wichtigsten Themen des moralisch-praktischen Nachdenkens der Hoch- und Spätaufklärung". Log, AA 9, 25. Entnommen aus [25] , 7. Besondere Bedeutung wird der Kontroverse zwischen Thomas Abbt und Moses Mendelssohn beigemessen. [23]. Ebd., 1. Ebd., § 1, S. 2. Ebd., 3. Vgl. auch ebd., § 8, S. 14: „Man kann sich die Weltgeschichte aus einem doppelten Gesichtspuncte vorstellen: entweder als ein Aggregat aller Specialhistorien, deren Sammlung, falls sie nur vollständig ist, deren blose Nebeneinanderstellung, auch schon in seiner Art ein Ganzes ausmacht; oder als ein System, in welchem Welt und Menschheit die Einheit ist, und aus allen Theilen des Aggregats einige, in Beziehung auf diesen Gegenstand vorzüglich ausgewählt, und zweckmäßig geordnet werden." Ebd., § 3, S. 5. Ebd. Ebd., S. 6. IaG, AA 8, 18–19. Ebd., 19 u. 30; RezHerder, AA 8, 61. IaG, AA 8, 20–21. Kant macht an anderen Stellen von weiteren dialektisch organisierten Antrieben zur Entwicklung Gebrauch. Für die vorliegende Diskussion beachtlich ist seine Verwendung der Faulheit, wie Lu-Adler 2021 ausführlich diskutiert. Vgl. dazu etwa V-Anth/Mron, AA 25, 1421. IaG, AA 8, 21. Nur der Krieg treibt die Natur des Menschen dahin, „was ihnen die Vernunft auch ohne so viel traurige Erfahrung hätte sagen können, nämlich: aus dem gesetzlosen Zustande der Wilden hinaus zu gehen und in einen Völkerbund zu treten" (IaG, AA 8, 24.21–23). MAM, AA 8, 121. IaG, AA 8, 27–28. Ebd., 27. Hostettler (2020) , 215–216. Dass also die Geschichtsphilosophie als solche nicht zu dieser Konsequenz führen muss, wird sehr gut am Beispiel Herders deutlich, der zu ganz anderen Ergebnissen als Kant kommt. IaG, AA 8, 18. RezHerder, AA 8, 64. IaG, AA 8, 27. RezHerder, AA 8, 65. IaG, AA 8, 29. Vgl. dazu Schillers Vorlesung Was heisst und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte. Schillers Beschäftigung mit Schlözer reicht bis in die sog. Karlsschuleschriften zurück. Vgl.[22] , Bd. 5, 304–305. Was heisst und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte , ebd., Bd. 4, 754: „Die Entdeckungen, welche unsre europäischen Seefahrer in fernen Meeren und auf entlegenen Küsten gemacht haben, geben uns ein eben so lehrreiches als unterhaltendes Schauspiel. Sie zeigen uns Völkerschaften, die auf den mannichfaltigsten Stuffen der Bildung um uns herum gelagert sind, wie Kinder verschiednen Alters um einen Erwachsenen herum stehen, und durch ihr Beyspiel ihm in Erinnerung bringen, was er selbst vormals gewesen, und wovon er ausgegangen ist. [...] Wie beschämend und traurig aber ist das Bild, das uns diese Völker von unserer Kindheit geben! [...] Was erzählen uns die Reisebeschreiber nun von diesen Wilden? Manche fanden sie ohne Bekanntschaft mit den unentbehrlichsten Künsten, ohne das Eisen, ohne den Pflug, einige sogar ohne den Besitz des Feuers. Manche rangen noch mit wilden Thieren um Speise und Wohnung, bey vielen hatte sich die Sprache noch kaum von thierischen Tönen zu verständlichen Zeichen erhoben. Hier war nicht einmal das so einfache Band der Ehe, dort noch keine Kenntniß des Eigenthums; hier konnte die schlaffe Seele noch nicht einmal eine Erfahrung fest halten, die sie doch täglich wiederhohlte; sorglos sah man den Wilden das Lager hingeben, worauf er heute schlief, weil ihm nicht einfiel, daß er morgen wieder schlafen würde. [...] Entsetzen erweckt uns selbst seine Tugend, und das was er seine Glückseligkeit nennt, kann uns nur Ekel oder Mitleid erregen." Das deutet Kant in der Idee zu einer allgemeinen Geschichte an zahlreichen Stellen an (vgl. etwa IAG, AA 18, 30), führt es aber erst in der Kritik der Urteilskraft systematisch aus. Vgl. das Originalzitat in [32] : „Wenn sich Kants Universalismus gegen die postkoloniale Kritik verteidigen lässt, dann nur, indem man den Widerspruch zu Kants rassistischen (sowie sexistischen und antijüdischen) Äußerungen klar herausarbeitet, und nicht, indem man ihn leugnet. Man tut Kant keinen Dienst, wenn man ihn auf jenes Podest der Unfehlbarkeit stellt, von dem seine postkolonialen Kritiker ihn stoßen wollen."

By Andree Hahmann

Reported by Author

Titel:
Rassismus in der Klassischen Deutschen Philosophie?
Autor/in / Beteiligte Person: Hahmann, Andree
Link:
Zeitschrift: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Jg. 70 (2022-08-01), Heft 4, S. 641-662
Veröffentlichung: 2022
Medientyp: academicJournal
ISSN: 0012-1045 (print)
DOI: 10.1515/dzph-2022-0044
Schlagwort:
  • KANT, Immanuel, 1724-1804
  • HEGEL, Georg Wilhelm Friedrich, 1770-1831
  • RACISM
  • ENLIGHTENMENT
  • MODERN philosophy
  • Subjects: KANT, Immanuel, 1724-1804 HEGEL, Georg Wilhelm Friedrich, 1770-1831 RACISM ENLIGHTENMENT MODERN philosophy
  • enlightenment
  • Immanuel Kant
  • philosophy of history
  • racism
  • teleology
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Language: German
  • Document Type: Article
  • Author Affiliations: 1 = Tsinghua University, School of Humanities, Haidian District, Beijing, Volksrepublik China

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