Der vorliegende Beitrag lädt zur Beschäftigung mit dem Advent ein. Er knüpft zum Einstieg bei einem für dieses Vorhaben geeigneten Advents- und Weihnachtslied an: bei Alle Jahre wieder. Das Gedicht, das diesem populären Lied zugrunde liegt, entpuppt sich im Gegenlicht der religionsphilosophischen Einlassungen von Jean-Luc Nancy und Giorgio Agamben als kompaktes poetisches Pendant zu einer Theologie des Advents, die getragen wird von der Struktur eines dem Erscheinen zuvorkommenden (Heran-)Kommens und die in dieser prozessierenden Präsenz (man könnte auch sagen: dieser Ereignishaftigkeit) eine Grundfigur des (christlichen) Lebens erkennt.
Summary: This article is an invitation to engage with Advent. It starts with an Advent and Christmas carol that is useful for this purpose: Alle Jahre wieder (Every Year Anew). The poem that forms the basis of this popular song reveals in the backlight of the religious-philosophical statements of Jean-Luc Nancy and Giorgio Agamben as a compact poetic counterpart to a theology of Advent, which is driven by the structure of a coming that precedes the appearance, and which sees in this processual presence (one could also say: this eventfulness) a basic attitude of (Christian) life.
Keywords: Advent; Parusie; Jean-Luc Nancy; Giorgio Agamben; Parousia
Zu den populärsten deutschsprachigen Liedern, die Jahr für Jahr in der Vorweihnachtszeit und an den Weihnachtstagen erklingen, gehört Alle Jahre wieder. Der (titellose) Text des dreistrophigen Liedes, von Wilhelm Hey verfasst und im Jahre 1837 als „ernsthafte[r]" Anhang zu dessen zweiter Fabelsammlung publiziert, lautet:
Alle Jahre wieder
Kommt das Christuskind
Auf die Erde nieder,
Wo wir Menschen sind;
Kehrt mit seinem Segen
Ein in jedes Haus,
Geht auf allen Wegen
Mit uns ein und aus;
Ist auch mir zur Seite
Still und unerkannt,
Daß es treu mich leite
An der lieben Hand.
In den offiziellen Gesangbüchern der beiden großen christlichen Konfessionen, dem Gotteslob der Katholischen Kirche und dem Evangelischen Gesangbuch der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), ist das Lied nicht verzeichnet. Eine (religions-)philosophisch und theologisch interessierte Lektüre der Verse aus der Feder des Thüringer Pfarrers und Dichters lohnt sich dennoch, da sich Alle Jahre wieder dank seines gut gewählten und wohlüberlegt platzieren Vokabulars als poetischer Stichwortgeber beziehungsweise literarischer Echoraum für die Reflexion eines Themengebietes eignet, das die Grundordnung des Kirchenjahres und des Neuen Römischen Generalkalenders so zusammenfasst: „Die Adventszeit hat einen doppelten Charakter: sie ist" – das ist ihr soteriologischer Aspekt – „einerseits Vorbereitungszeit auf die weihnachtlichen Hochfeste mit ihrem Gedächtnis des ersten Kommens des Gottessohnes zu den Menschen. Andererseits" – dies ist der eschatologische Aspekt – „lenkt die Adventszeit zugleich durch diesen Gedenken die Herzen hin zur Erwartung der zweiten Ankunft Christi am Ende der Zeiten".
Die zitierte Zusammenfassung lenkt die Aufmerksamkeit auf zwei biblisch überlieferte Daten, an denen der Gottessohn in Erscheinung tritt: ein zurückliegendes (Chri-sti Geburt) und ein vorausliegendes Datum (Beisitz bei Gericht). Man könnte angesichts dieser Fokussierung den Eindruck gewinnen, der Begriff ‚Advent' (von lat. advenire) bezeichne Vorgänge, die erst dann bedeutsam sind, wenn sie an ihr Ende gekommen sind. ‚Advent' würde also so viel zum Ausdruck bringen, wie ‚angekommen' beziehungsweise ‚wiedergekommen' oder schlicht: ‚da'. Wie jedoch Alle Jahre wieder im Gegenlicht zweier zum Thema passender Studien – Jean-Luc Nancys dem „Vorher der Geburt" gewidmeten Essay Heimsuchung (franz. Originalfassung 2001) und Giorgio Agambens die ‚Wiederkunft' berücksichtigende Paulus-Interpretation Die Zeit, die bleibt (ital. Originalfassung 2000) – zeigt, greift eine solche Auslegung zu kurz. Wo nämlich von ‚Ankunft' die Rede ist, da ist etwas im Kommen begriffen, das seinem erstmaligen (Abschnitt 2) oder erneuten Eintreffen (Abschnitt 3) vorausgeht – und es ist genau diese Struktur eines dem In-Erscheinung-Treten zuvorkommenden (Heran-)Kommens, die im Sinne einer ereignishaft prozessierenden (also angebrochenen und darum ausstehenden) Präsenz oder Zukunft in älteren (z. B. Karl Rahner) wie auch jüngeren theologischen Beiträgen (z. B. John D. Caputo) eine besondere Rolle spielt (Abschnitt 4).
Der Zeitraum, in dem Alle Jahre wieder üblicherweise zu Gehör kommt, ist für Gläubige eine Zeit der Vergegenwärtigung. Die sich seit den Festlegungen Papst Gregors des Großen über vier Sonntage hinweg erstreckende Adventszeit endet am Heiligen Abend, an dem in der nächtlichen Christmette eine Lesung aus den Evangelien (meist Lk 2,1–20) an Jesu Geburt erinnert. Auch Alle Jahre wieder erinnert an dieses biblisch überlieferte Ereignis, und obgleich das Lied nicht zum katholischen und evangelischen Liederkanon gehört, wird man dem zugrundeliegenden Text dennoch bescheinigen können, das Geschehen der Inkarnation („Kommt das Christuskind", V. 2) in seiner heilsgeschichtlichen Relevanz nicht nur auf den Begriff gebracht („Segen", V. 5), sondern auch mustergültig verdichtet zu haben, nämlich im Zuge einer sich von Strophe zu Strophe fortsetzenden Bewegung, die vom Allgemeinen zum Individuellen führt (Strophe I: „auf die Erde nieder" >> Strophe II: „jedes Haus" >> Strophe III: „mir zur Seite").
Verdichtet wird überdies, was sich nicht in Worte fassen lässt. Der Ursprung der oben erwähnten Bewegung, besser noch: ihr Her-„[k]omm[en]" (V. 2), liegt im Schriftbild des Textes ‚vor' den Eingangsversen in einem Raum, der, wortlos und beinahe unsichtbar, auf das himmlische Werk und Wirken hinzuweisen vermag, das sich nach Ansicht der Kirche(n) mit irdischen Mitteln bestenfalls unvollkommen darstellen lässt. Zum Advent (und seiner Darstellung) – so lässt sich im Anschluss an Alle Jahre wieder sagen – gehört eben nicht nur eine Geburt; zum Advent zählt ebenso, was dem Erscheinen des ‚Christuskindes' vor-ausgeht: sein Kommen. Dieses findet beim Evangelisten Lukas in zwei Szenen eine gesonderte Beachtung. Jesu Geburt wird nicht nur von einem Himmels-bo-ten angekündigt (Lk 1,26–38) – sie kündigt sich auch, ganz irdisch, in einer Begegnung an, die durch die sie dominierende zweifache Schwangerschaft gerade-zu als Verstärker des Geschehens fungiert. Die Rede ist von der sogenannten ‚Heimsuchung Marias':
In diesen Tagen machte sich Maria auf den Weg und eilte in eine Stadt im Bergland von Judäa. Sie ging in das Haus des Zacharias und begrüßte Elisabet. Und es geschah, als Elisabet den Gruß Marias hörte, hüpfte das Kind in ihrem Leib. Da wurde Elisabet vom Heiligen Geist erfüllt und rief mit lauter Stimme: Gesegnet bist du unter den Frauen und gesegnet ist die Frucht deines Leibes. Wer bin ich, dass die Mutter meines Herrn zu mir kommt? Denn siehe, in dem Augenblick, als ich deinen Gruß hörte, hüpfte das Kind vor Freude in meinem Leib. Und selig, die geglaubt hat, dass sich erfüllt, was der Herr ihr sagen ließ. Da sagte Maria: Meine Seele preist die Größe des Herrn und mein Geist jubelt über Gott, meinen Retter. Denn auf die Niedrigkeit seiner Magd hat er geschaut. [...] Und Maria blieb etwa drei Monate bei ihr; dann kehrte sie nach Hause zurück. (Lk 1,39–56)
Mit der Visitatio Mariae beschäftigt sich der Postphänomenologe Jean-Luc Nancy in seinem Essay Heimsuchung aus dem Jahr 2001. Die Begegnung der beiden Schwangeren rückt darin allerdings nicht in Form des biblischen Textes in den Fokus, sondern in der Gestalt eines auf das Jahr 1528/29 datierten Gemäldes von Jacopo da Pontormo, zu betrachten in der Dorfkirche ‚San Michele e San Francesco' von Carmignano, Ita-lien. Der Gattungswechsel vom Text zum Bild ist keinem Desinteresse an der Überlieferung geschuldet – Nancy entfaltet in Heimsuchung eine Theorie der Kunst. Für den Philosophen ist die bildende Kunst ein „Ort", der sich „zur Präsenz hin öffnet", nicht im Sinne einer retro- oder pro-spektiven „Repräsentation" (‚Präsenz als Gewahrwerden der Referenz'), sondern im Sinne einer „Präsenz", zu der man „nicht im eigentlichen Sinne Zugang [...] hat" (‚Präsenz als Öffnung'). Nancy definiert:
Die Kunst [...] ist nicht gemacht, um ein Gedächtnis [mémoire] zu hüten [...]. Die Kunst ist das, was sich immer selbst auf das hin überschreitet, was ihr vorausgeht oder ihr folgt [...].
Anknüpfungspunkt für Nancy ist die christliche Malerei. In seinen Augen kann diese als Prototyp der Kunst gelten, weil sie – insofern sie nicht bloß die Bibel illustriert oder der frommen Andacht dient, also: repräsentiert – die Selbstdekonstruktion des Christentums spiegle, die um eine „Realpräsenz" kreise, „hin-ter" der „kein Gott wartet". Nancy verweist auf Pontormos Heimsuchung, die sich ebenfalls mit einer „realen und [...] verborgenen Präsenz" befasst und so, malerisch, an der „Wahrheit der Präsenz" rührt:
Er [Pontormo, S.W.] gedenkt nicht einer Szene der Heiligen Schriften, er setzt das Problem einer Präsenz ins Werk, die nichts ist, was man wieder herbeirufen könnte und die im Gegenteil die ist, die „im" Gemälde ruft, in seinem Aufbau und in seinem Licht, genau die Innerlichkeit seiner glänzenden Oberfläche.
Heimsuchung – dies dürfte deutlich geworden sein – ist keine explizite Theorie des Advents. Gleichwohl lassen sich dem Essay wertvolle Hinweise zum Thema entnehmen. Man muss sich hierzu nur vor Augen führen, was die Aufmerksamkeit des Philosophen auf sich gezogen hat: Es ist der Um-stand, dass der Florentiner Manierist das „Vorher der Geburt" regelrecht zelebriert. Pontor-mos bildkünstlerische Inszenierung, erläutert Nancy, ver-wen-de „all ihre Energie" darauf, das „Geheimnis[ ]" der gleichermaßen „un-erwar-te-t[en] wie unwahrscheinlich[en]" Schwangerschaften nicht zu lüf-ten. Alles an der herausragenden Darstellung sei darauf ausgerich-tet, die Auf-merk-samkeit des oder der Betrachtenden auf eine „im Bauch verborgene Präsenz" zu lenken, die (1.) „weder präsent noch absent" ist (die also schon da und noch nicht da ist), und die (2.) – obgleich keineswegs ursprungslos (das ist The-ma der Annuntiatio Domini) – ihre „Herkunft" nicht preisgibt. Die-sen „Ort und diese[n] Zeitpunkt der Herkunft und der Präsenz, zu dem man nicht zurückreicht", nennt Nancy das „Unvordenkliche":
Das Unvordenkliche [immémorial] ist par excellence das, was der Geburt vorausgeht: Es ist das in jeder Erinnerung Abwesende, zu dem endlos ein unendliches Gedächtnis [...] oder vielmehr ein Ungedächtnis [immémoire] zurückreicht.
Mit Blick auf die beiden Schwestern führt Nancy aus:
Die [...] zwei Frauen sind ineinander versunken, jede blickt ins Herz der anderen, wie im Eingeständnis und der Ergriffenheit dessen, was einen überwältigt und sich weder sehen noch sagen lässt (genauer gesagt: was weder zu sehen noch zu sagen ist, aber worauf man unaufhörlich zugeht – und genau das ist es, das Unvordenkliche).
Pontormo fokussiert keine bevorste-hende Erscheinung, sondern hält das Kommen im Bild fest. Hierdurch ge-lingt ihm, was Nancy mit dem Begriff des „Unvordenk-liche[n]" zu verdeutlichen sucht: Über den Advent nach-denken bedeutet, ‚Ankunft' nicht als Bewegung hin auf eine bevorstehende „Erfüllung" zu begreifen (damit wäre der Vorgang defizitär gegenüber seinem Ende), sondern – umgekehrt – die Erfüllung in dieser Be-wegung zu erkennen, die immer einhergeht mit einer „Erfahrung" des „Unsichtbare[n]".
Wenngleich Alle Jahre wieder die Geburt des „Christuskin-d[es]" (V. 2) ins Gedächtnis ruft, so liegt der thematische Schwerpunkt des Liedes doch nicht auf ‚Vergangenem': „Alle Jahre wieder" (V. 1) bezeichnet immer auch das ‚Heute' einer Darbietung. Diese Beobachtung ließe sich mit dem Hinweis, Alle Jahre wieder sei nur das fromme poetische Pendant zur entsprechenden Advents- und Festtagsliturgie und wie diese im Vollzug gekennzeichnet durch ein zweizeitiges, gegenwärtige Rede und historische beziehungsweise biblische Referenz gleichermaßen hervorhebendes Sprechen (der Form: ‚Wir erinnern heute an...'), zu einer wenig überraschenden Nebensächlichkeit erklären – dies aber hieße, die weiterführenden philosophischen Impulse zu eskamotieren, die das Lied und sein Text zu geben imstande sind, denn Alle Jahre wieder setzt den Advent unverkennbar mit der Gegenwart in Beziehung.
Diesem Befund ist sogar noch etwas hinzuzufügen, da diese Gegenwart bereits eine Wiederholung ist: Alle Jahre wieder kehrt alljährlich wieder, das ‚Heute' der Darbietung ist folglich auch ein ‚Gestern' sowie ein ‚Morgen', ist Teil eines Zeitraumes, einer Zeitspanne, die biblisch gut vermessen ist: Sie erstreckt sich bis zur ausstehenden Wie-derkunft Christi „am Ende der Zeiten". Mit der Zeit, die bis dahin bleibt, setzt sich Giorgio Agamben in seiner gleichnamigen Studie zur Paulinischen Theologie aus dem Jahre 2000 auseinander.Die Zeit, die bleibt ist dabei – ebenso wie Heimsuchung – nicht dem Advent gewidmet, bietet im eigenen Untersuchungsfeld: einem philologischen und phi-losophischen Close-Reading der ersten zehn Worte des Römerbriefes, aber wichtige Anknüpfungspunkte zum Thema. Sie sind vor allem dort zu finden, wo sich Agamben mit der „messianischen Zeit" beschäftigt. Nach Auskunft des Philosophen ist diese für Paulus „weder die chronologische Zeit noch das apokalyptische éschaton", das „Ende der Zeit", sondern „ein Teil der profanen Zeit", auf den Paulus „mit dem Ausdruck ho nyn kairós, die ‚Jetztzeit'", Bezug nimmt. Der Grund dafür, warum die messianische Zeit „eine Zeit innerhalb der Zeit" ist, liegt an der „einzigarti-ge[n] Spaltung" des sogenannten messianischen Ereignisses:
Bekanntlich zergliedert Paulus das messianische Ereignis in zwei Zeiten: die Auferstehung und [...] die zweite Ankunft Jesu am Ende der Zeit.
Agamben ergänzt:
Daher rührt die paradoxe Spannung zwischen einem schon und einem noch nicht, die die Paulinische Konzeption der Rettung bestimmt: Das messianische Ereignis hat schon stattgefunden, die Rettung ist für die Gläubigen schon vollendet, gleichwohl impliziert sie für ihre wirkliche Vollendung eine weitere Zeit.
Agamben widmet sich in seiner Studie mit Blick auf den von Paulus verwendeten Begriff „kairós" ausführlich den Implikationen und Herausforderungen dieser ‚weiteren Zeit'. Für den vorliegenden Zusammenhang ist dabei vor allem das Folgende entscheidend: Vor dem Hintergrund des skizzierten Paulinischen Zeitkonzepts wird man den Begriff ‚Advent' schwerlich mit dem Erscheinen des Messias am „Tag des Zorns" gleichsetzen können – zu diesem Zeitpunkt, an dem „die Zeit aufhört" und „in einen anderen Äon [...] implodiert", die „Ewigkeit", endet das Messianische; dann wird Gott „‚das Ganze im Ganzen' sein (1 Kor 15, 28: panta en pasin)". Paulus legt eine andere Begriffsbestimmung nahe. Das Erscheinen Christi bei Gericht ist, genau besehen, das Ende einer Wiederkunft, die längst begonnen hat. Die Wiederkunft Christi setzt mit seinem Fortgang (der Auferstehung) ein und invertiert die vermeintliche Chrono-Logik des Wiederkommens. Agamben sagt dies ganz explizit:
Der Messias ist schon gekommen, das messianische Ereignis hat schon stattgefunden, aber seine Anwesenheit enthält in ihrem Innern eine andere Zeit, die deren parousía entfaltet, nicht um sie aufzuschieben, sondern um sie zu ergreifen.
Noch einmal:
Parousía bedeutet nicht die „zweite" Ankunft Jesu, ein zweites messianisches Ereignis, das auf das erste folgt und es integriert.
Agamben verweist auf den Ausdruck ‚parousia' (gr.), der, wörtlich, „Neben-Sein" bedeutet, weil Paulus damit die „uniduale Struktur des messianischen Ereignisses" reflektiere: „Die messianische Anwesenheit", so Agamben, „ist neben sich selbst, weil sie, ohne je mit einem chronologischen Zeitpunkt zusammenzufallen oder ihm hinzugefügt zu werden, ihn gleichwohl ergreift". Dieses ergrei-fende ‚Neben-Sein' findet sein poetisches Echo in der Schlusspassage von Alle Jahre wieder:
Ist auch mir zur Seite
Still und unerkannt,
Daß es treu mich leite
An der lieben Hand.
Aus diesen Zeilen spricht ohne Zweifel eine gewisse Frömmigkeit – und doch fügen sich die Eingangsverse der letzten Strophe diesem Urteil nicht ganz, denn sie handeln von einer unsichtbaren Präsenz, gerade so, als habe sich Hey vorgenommen, der imaginierten Sprechinstanz (‚Ich') seines Textes für das, was mit ‚parousia' zum Ausdruck gebracht werden kann: ein Neben-Sein oder auch Dabei-Sein, ein passendes Bild in den Mund zu legen. Unstrittig dürfte auf jeden Fall sein, dass diese Instanz nicht vom „Ende der Zeit" handelt, sondern „ausgehend von der Ankunft des Messias [...] spricht".
Alle Jahre wieder – so lässt sich die vorangegangene textnahe Lektüre des Advents- und Weihnachtsliedes zusammenfassen – bietet eine Religionsphilosophie des Advents im Taschenformat. Diese fokussiert keine epiphanischen Geschehnisse, sondern Strukturen des (Heran-)Kommens (Strophe 1) und (Nicht-)Erscheinens (Strophe 3). Das Gedicht öffnet sich auf diese Weise für ein Verständnis des Advents, das getragen wird von einer Theologie, wie sie beispielsweise Karl Rahner, einer der bedeutendsten Theologen des 20. Jahrhunderts, unter dem Begriff einer „ankünftigen Zukunft" formuliert hat. In einer Adventspredigt aus dem Jahr 1948 drückt sich Rahner so aus:
Höre, mein Herz, Gott hat schon begonnen, seinen Advent in der Welt und in Dir zu feiern. Leise und sanft, so leise, dass man es überhören kann, hat er die Welt und ihre Zeit schon an sein Herz genommen, ja sein eigenes unbegreifliches Leben eingesenkt in diese Zeit [...].
Für Rahner ist das ganze Leben „ein einziger Advent", zu betrachten wie eine „Rei-se":
Adventliche Reise ist, wenn wir laufen und uns beim Lauf das entgegenkommen lassen, was wir selbst durch den Lauf nicht einholen würden [...].
Auch in jüngeren religionsphilosophischen Ansätzen spielt das ‚Entgegenkommen' beziehungsweise ‚Entgegenkommenlassen' eine zentrale Rolle – etwa bei John D. Caputo, der mit seinem Konzept einer ‚schwachen', ohne allmächtigen Gott und himmlischen Heilsplan auskommenden Theologie zu den Haupt-ver-tre-tern der postmodernen Theologie zählt. Caputo, der sich in seinem Denken unter anderem auf Derridas Ereignis-Begriff stützt, lenkt die Aufmerksamkeit auf die „Unvorhersehbarkeit der Zukunft" und bestimmt ‚Gott' als Bezeichnung für das „Kommen dessen, was wir nicht kommen sehen können". Caputo erläutert:
Wir müssen zulassen, dass Gott [...] sich abschwächt zum Namen eines Ereignisses, eines unbedingten Rufs, zur Verrücktheit eines Rufs, ein unbedingtes Leben zu führen. Gott ist es, also der Name der leisen sanften Stimme eines insistierenden Rufs, der das Reich Gottes braucht, der die braucht, die dieses Reich in Wort und Tat wahr werden lassen.
Ergänzend dazu:
Der Ruf ruft [...] leise, ohne den Raumklang eines kosmischen Verstärkers. Er ist eine ganz eigene Lebensweise, eine Art des In-der-Welt-Seins.
Rahner und Caputo – dies gilt es abschließend festzuhalten – folgen zwar denkbar unterschiedlichen theologischen Ansätzen, sind sich in einem Punkt jedoch einig: Mit dem ‚Kommen(den)' steht eine Öffnung und auch das Offensein für das Unverfügbare (vielleicht sogar längst Ankünftige) zur Disposition. Es geht also um eine existenzielle Frage (nicht nur eine des christlichen Lebens), und im Advent rückt genau diese Frage in den Fokus. In Rahners Worten: „Ob wir das Leben als [...] Advent anzunehmen und zu feiern gewillt sind, das ist die Fra-ge".
By Steffen Wallach
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