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Kategoriendeduktion in der klassischen deutschen Philosophie. Hrsg. von Nicolas Bickmann, Lars Heckenroth und Rainer Schäfer. Berlin: Duncker & Humblot, 2020. 163 Seiten. [Philosophische Schriften 100.] ISBN: 978-3-428-15925-3.

Klingner, Stefan
In: Kant-Studien, Jg. 114 (2023-06-01), Heft 2, S. 396-399
Online academicJournal

Kategoriendeduktion in der klassischen deutschen Philosophie. Hrsg. von Nicolas Bickmann, Lars Heckenroth und Rainer Schäfer. Berlin: Duncker & Humblot, 2020. 163 Seiten. [Philosophische Schriften 100.] ISBN: 978-3-428-15925-3 

Bickmann, Nicolas Heckenroth, Lars Schäfer, Rainer Kategoriendeduktion in der klassischen deutschen Philosophie Berlin Duncker & Humblot 2020 [Philosophische Schriften 100.] 978-3-428-15925-3 1 163

Der vorliegende Sammelband stellt mit Blick auf die derzeitige Kant- und Idealismusforschung sowohl in inhaltlicher als auch in formaler Hinsicht eine gewisse Ausnahmeerscheinung dar und darf durchaus als Rarität bezeichnet werden. In inhaltlicher Hinsicht sticht er insofern hervor, als er anhand eines zentralen Sachproblems (nach)kantischen Philosophierens nicht nur den Fokus auf die relevanten Texte Kants richtet, sondern auch dessen Kontinuität und Umgestaltung in den Überlegungen der „deutschen Idealisten", besonders Fichtes und Hegels, nachgeht. Damit wird eine Perspektive eingenommen, die in der heutigen, vor allem durch Einzel- und Detailuntersuchungen gekennzeichneten Forschung eher selten vorkommt. In formaler Hinsicht ist der Band insofern ungewöhnlich, als auf eine Gliederung sowie Querverweise verzichtet und zudem kaum auf die neuere Literatur zum Thema eingegangen wird. Stattdessen beleuchten die neun Beiträge des Bandes aus jeweils sehr eigenständigen Blickwinkeln und unter teilweise sehr unterschiedlichen Herangehensweisen einzelne Lehrstücke der Auseinandersetzungen Kants, Fichtes und Hegels mit dem Problem einer „Kategoriendeduktion".

Den Beiträgen vorangestellt ist ein „Vorwort" des Mitherausgebers Rainer Schäfer (vgl. 5–14), der auch Mitveranstalter der gleichnamigen Tagung war, die im November 2017 am Internationalen Zentrum für Philosophie/NRW der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn stattfand und deren Vorträge, von zwei Ausnahmen abgesehen, im vorliegenden Band veröffentlicht sind. Das „Vorwort" leistet vor allem eine allgemeine Einführung in das mit Kants transzendentaler Deduktion der Kategorien verbundene Sachproblem, indem es zuerst auf deren grundlegende Relevanz für „die gegenwärtigen Debatten der theoretischen Philosophie" (5) hinweist, dann eine Übersicht über Kants Darstellung und Lösung in den beiden ersten Auflagen der Kritik der reinen Vernunft gibt (vgl. 6–10) und schließlich die Aufnahme und Weiterentwicklung der kantischen Überlegungen durch Fichte, Schelling und Hegel in groben Zügen skizziert (vgl. 10–13). Dabei identifiziert Schäfer das „Grundproblem der Deduktion" mit dem bis heute diskutierten „Problem, wie sich Sinnesdaten in Begriffsschemata einfügen", und erteilt der Idee einer „Aufgabe" der Lösung dieses Problems im Fahrwasser eines „gewissen epistemischen Liberalismus und verführerischen skeptischen Relativismus" eine Absage, da diese Aufgabe eine „Antideduktion" impliziere, die selbst wiederum „in gewissem Sinne [...] eine Deduktion" sei (5). Mit sicheren Strichen werden zudem die Grundlinien der Weiterführung des Deduktionsproblems durch Fichte, Schelling und Hegel nachgezeichnet: Fichte versuche eine „genetische Deduktion" der Kategorien aus der „Subjektivität selbst" (10 f.), Schelling führe diese in gewisser Weise weiter, wobei er in der „zweiten Epoche des theoretischen Selbstbewusstseins" die Kategorie „Wechselwirkung" als „die Zentralkategorie, aus der sich alle anderen ableiten lassen", auffasse (11 f.), und Hegel gehe „[m]it Kant [...] über Kant hinaus", indem er „einerseits die höchste logische Bestimmung, den Begriff, mit Kants Apperzeption" identifiziere (12), andererseits der kantischen Konzeption drei „Vorwürfe" mache, die von prinzipieller Art sind: Kants transzendentale Deduktion sei nämlich psychologistisch, verkenne die methodische Bedeutung der Dialektik und liefere keine Herleitung der einzelnen Kategorien aus dem ersten Prinzip der „Apperzeption" (vgl. 12 f.).

Trotz ihrer Allgemeinheit und ihres etwas holzschnittartigen Charakters sind diese Vorbemerkungen insofern hilfreich, als sie eine einheitliche Perspektive auf dasjenige Sachproblem konturieren, das von den vier Referenzautoren auf teilweise sehr unterschiedliche Weise angegangen wurde und zugleich die folgenden Beiträge verbinden soll. Leider verliert sich bei weiterer Lektüre die gezeichnete Perspektive größtenteils wieder. Ein Beitrag zu den Überlegungen Schellings findet sich nicht. Immerhin zeugt aber die Reihung der Beiträge von einer nachvollziehbaren Ordnung.

In den ersten drei Beiträgen steht vor allem Kants transzendentale Deduktion im Vordergrund. Zuerst fragt Elena Ficara (vgl. 17–28) nach „der ursprünglichen Kantischen Idee einer transzendentalen Deduktion der Kategorien" (17), die sich nicht in einer „antiskeptische[n] Funktion" (27) erschöpfe, und plädiert zudem für eine Wiederaufnahme von „Hegels Weiterführung des Kantischen Programms" (19), da in ihr die Kategoriendeduktion „explizit als Methode bzw. Logik der Philosophie aufgefasst" (26) werde. Dem Vorwurf einer bei Kant fehlenden „genetische[n] Entwicklung der Urteilsformen und Kategorien aus der Einheit des ‚Ich denke'" (29) geht Klaus Düsing (vgl. 29–42) nach, indem er zuerst die „grundlegenden Bestimmungen" des ‚Ich denke' im Anschluss an Kants Urteilslehre und dessen Darstellung der „Paralogismen" der Rationalpsychologie herausstellt, um anschließend einen eigenen Vorschlag einer genetischen Herleitung „ontologischer Grundbestimmungen" zu skizzieren, die „mit Modifikationen im Geist des kritischen transzendentalen Idealismus verbleib[t]" (39). Reinhard Hiltscher (vgl. 43–69) analysiert im ausführlichsten Beitrag des gesamten Bandes Kants Apperzeptionsbegriff, wobei er einen „subjektbezogenen" von einem „rein urteilstheoretisch-funktionalen Aspekt der Selbstbezüglichkeit des reinen Denkens" (43) unterscheidet und gegen bis heute gängige subjektivitätstheoretische Lesarten deutlich macht, dass der funktionale begründungstheoretisch primär sei, der subjektive aber insofern unerlässlich bleibe, als er das Fungieren der Prinzipien des reinen Denkens im Zuge der Erkenntnisansprüche konkreter Subjektivität bezeichne und damit den rechtfertigungstheoretischen Zugang zu jenen Prinzipien abgebe.

Die folgenden vier Beiträge sind einschlägigen Überlegungen Fichtes und Hegels gewidmet. Zuerst gibt Nicolas Bickmann (vgl. 70–86) in einer textnahen Auslegung der ersten drei „Grundsätze" der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre eine Rekonstruktion der „Deduktion der Kategorien der Realität, Negation und Limitation" (70) und zeigt, dass Fichte erst mit dem dritten Grundsatz „ein methodisches Verfahren" profiliere, das „auch die folgenden Deduktionsschritte bestimmt" (84). Gaetano Basileo (vgl. 87–99) nimmt Hegels „‚Deduktion' des Begriffs der Wissenschaft" (87) in der Phänomenologie des Geistes in den Blick, wobei er zuerst die Verklammerung ihrer propädeutischen Funktion „mit der Aufnahme des idealistischen Programms einer Geschichte des Selbstbewusstseins" (88) hervorhebt, um dann darauf hinzuweisen, „dass die Phänomenologie mindestens programmatisch eine besondere Bedeutung hinsichtlich des Problems der Auffindung der Kategorien in Hegels Augen erlangt hat" (96), und schließlich den behaupteten Zusammenhang von ‚Geschichte des Selbstbewusstseins' und ‚Kategoriendeduktion' zu skizzieren. Die Wissenschaft der Logik wird im Anschluss zuerst von Markus Gabriel (vgl. 100–111) thematisiert, der „Hegels Kategorienkritik" skizziert, dabei die Kategorien als „Übergeneralisierungen, die auf die Seinslogik beschränkt sind" (105), versteht und sie so als „untergeordnete defiziente Denkbestimmungen" kennzeichnet, „die es prinzipiell nicht erlauben, den logischen Raum insgesamt so aufzufassen, dass man eine angemessene Einrichtungsfunktion gewinnt" – Hegel habe also gar keine verbesserte Kategoriendeduktion vorgelegt, sondern deren Problem „überwunden" (111). Lars Heckenroth (vgl. 112–126) versteht dagegen Kategoriendeduktion bei Hegel als vollständige „Entwicklung des logischen Inhalts" und geht dem „Spannungsverhältnis von Methode und Inhalt in Hegels Logik" (112) nach, indem er anhand des „Anfangs der Logik" das Zusammenspiel von setzender, äußerer und bestimmender Reflexion rekonstruiert und so „die Einheit von Methode und Inhalt" (125) der hegelschen Logik herausstellt.

Die abschließenden beiden Beiträge thematisieren wiederum einige subjekttheoretische Aspekte der Philosophie Kants und Hegels. Hegels Kritik an Kants transzendentalem Idealismus interpretiert Klaus Erich Kaehler (vgl. 127–139) als „spekulative Begründung des [...] transzendentalen Wissens" (135), die nicht nur „radikaler als die sog. Erkenntniskritik" (136) kantischen Typs sei, sondern aus der „dem absoluten Subjekt nach seiner Entäußerung in absolutes Anderssein eine endogene Krisis erwächst, die [...] zu einer innerphilosophisch gerechtfertigten Neubestimmung des Subjektprinzips führt" (139). Der Beitrag von Wilhelm Metz (vgl. 140–151) führt einerseits vor Augen, dass in Kants Kritik der reinen Vernunft erst „das Grundsatzkapitel die Deduktion der bestimmten Kategorien vollendet" (145), und widmet sich dann Luhmanns Kritik an der „Subjekt-Philosophie" (149) Kants, um auch in dessen systemtheoretischer Konzeption zwei systematische Parallelen zu Kants transzendentalen Idealismus auszumachen: die Unmöglichkeit eines Beobachtens des eigenen Beobachtens sowie die Entzogenheit des ‚Horizonts' – diese seien den beiden Grenzen der kantischen Erkenntniskritik ähnlich, dem „Ich an sich" und dem „Ding an sich" (150).

Der Überblick lässt bereits ahnen, wie verschieden Blickwinkel und Herangehensweisen der Beiträge sind. Neben an Einzelproblemen interessierten Untersuchungen stehen allgemein gehaltene Betrachtungen, neben textnahen Interpretationen systematisch orientierte Diskussionsbeiträge. Für einen Einstieg in die Beschäftigung mit dem verhandelten Sachproblem ist der Band daher eher ungeeignet. Allerdings macht er damit nicht nur deutlich, dass die Aneignung und Weiterführung der Überlegungen Kants, Fichtes und Hegels zu diesem Problem nach wie vor selbst ein Problem darstellen, sondern gibt ein eindrückliches Zeugnis von der Ernsthaftigkeit und Lebendigkeit der andauernden Auseinandersetzung mit einigen der schwierigsten Texte der deutschen Philosophie. Dass der Band allerdings einige bedenkenswerte Anstöße für weitere Diskussionen enthält, steht dabei außer Frage.

By Stefan Klingner

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Titel:
Kategoriendeduktion in der klassischen deutschen Philosophie. Hrsg. von Nicolas Bickmann, Lars Heckenroth und Rainer Schäfer. Berlin: Duncker & Humblot, 2020. 163 Seiten. [Philosophische Schriften 100.] ISBN: 978-3-428-15925-3.
Autor/in / Beteiligte Person: Klingner, Stefan
Link:
Zeitschrift: Kant-Studien, Jg. 114 (2023-06-01), Heft 2, S. 396-399
Veröffentlichung: 2023
Medientyp: academicJournal
ISSN: 0022-8877 (print)
DOI: 10.1515/kant-2023-2021
Schlagwort:
  • GERMAN philosophy
  • KANT, Immanuel, 1724-1804
  • HEGEL, Georg Wilhelm Friedrich, 1770-1831
  • CATEGORIES (Philosophy)
  • HEGELIANISM
  • Subjects: GERMAN philosophy KANT, Immanuel, 1724-1804 HEGEL, Georg Wilhelm Friedrich, 1770-1831 CATEGORIES (Philosophy) HEGELIANISM
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Language: German
  • Document Type: Article
  • Author Affiliations: 1 = Georg-August-Universität Göttingen, Philosophisches Seminar, Humboldtallee 19 37073 Göttingen, Deutschland
  • Full Text Word Count: 1328

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