Seit Ende 2020 erfolgt im deutschsprachigen Feuilleton (insbesondere in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung) eine oftmals polemische Berichterstattung über die (vor allem in den Vereinigten Staaten geführte) Debatte um das Projekt einer Dekolonialisierung der Altertumswissenschaften. Unter diesem Stichwort werden verschiedene Maßnahmen und Forderungen zusammengefasst, u. a. die Berücksichtigung benachteiligter und diskriminierter Gruppen (im Publikationssystem und bei Stellen), allgemein Maßnahmen ausgleichender Bevorzugung (‹Quoten›), die Umbenennung und Veränderung von Disziplin- und Departmentstrukturen, aber auch Fragen der Methodik, des Kanons oder der akademischen Curricula. Die deutschsprachigen Zeitungsartikel greifen dabei Teile der US-amerikanischen fachpolitischen Debatte auf, die wiederum nicht zuletzt durch eine rassistische Attacke gegen den Altertumswissenschaftler Dan-el Padilla Peralta während einer Konferenz ein breiteres Medieninteresse auf sich gezogen hat und so schließlich im deutschsprachigen Raum rezipiert wurde. Die Diskurslinien dieser Debatte oszillieren zwischen der Hoffnung auf hochschulpolitische und disziplinäre Innovation sowie vermehrte Beteiligung minoritäter Wissenschaftler:innen einerseits und andererseits der befürchteten Gefährdung von Qualitätsstandards oder gar der (Selbst-)Abschaffung der Fächer.
Der Diskurs im Feuilleton, der überwiegend aus ablehnenden Positionierungen besteht, weist eine etwas andere Akzentuierung auf und basiert im Wesentlichen auf der Behauptung, dass die Situation im deutschsprachigen Raum eine andere und etwa Rassismus in den Altertumswissenschaften kein gravierendes Problem wie in den USA sei. So besteht die Tendenz, zu suggerieren, die Dekolonialisierung (in Deutschland) beschränke sich auf Disziplingeschichte und Material und sei entsprechend schon längst ein Projekt der Altertumswissenschaften, etwa unter dem Verweis auf die Aufarbeitung der NS-Fachgeschichte und einen generell über Griechenland und Rom ausgeweiteten Blick auf den Mittelmeerraum.
Diese in der Diktion oft polemische Debatte kreist um die Grenzziehungen der Wissenschaft und verhandelt Fragen der Deutungshoheit über Antike und Altertumswissenschaft; Jonas Grethlein analysiert dies sachlich, aber abwehrend als Emergenz eines «neue[n] Wissenschaftsverständnis[ses]», demzufolge «Wissenschaft [...] weniger als die Produktion von Erkenntnissen denn als Ausdruck von Identitäten gesehen [wird], durch den sich unterdrückte Minderheiten emanzipieren können.»
Während hinter den kritisch besprochenen fachpolitischen Forderungen zugleich ein (im engeren Sinne) wissenschaftlich-methodisches Programm steht, blendet die deutschsprachige Debatte die epistemologischen Dimensionen des Problems weitgehend aus – was zum Teil auch am Verhandlungsort des Feuilletons liegen mag. Der bisher passageren und auf verschiedene kleinere Zeitungsartikel verstreuten Debatte hat Jonas Grethlein nun kürzlich einen längeren, in Buchform erschienen Essay zu Antike und Identität hinzugefügt, der, so der Untertitel, die Herausforderungen der Altertumswissenschaften in gebündelter Form zum Gegenstand machen möchte. Da wir in diesem Artikel in Reaktion auf Grethleins Essay alternative epistemologische Perspektiven auf die Debatte eröffnen wollen, stellen wir zuerst eine Zusammenfassung seiner Argumentation voran.
Grethlein entfaltet am Beginn seines Essays (Wissenschaft zwischen Fakten und Identität) ein Szenario zweier aktueller Herausforderungen der Wissenschaft: Auf der einen Seite steht die Indienstnahme der Wissenschaft in der Politik, die objektive Fakten als Handlungsgrundlage wünscht, aber oft mit Dissens und Debatten innerhalb der Wissenschaft konfrontiert wird – illustriert am Beispiel der Corona-Pandemie (1–3). Auf der anderen Seite steht die umgekehrte Herausforderung: die politisch begründete Wissenschaft, eine «identitätspolitische» Wissenschaft, deren Verfechter:innen sie «vor allem als Mittel für die politische Emanzipation unterdrückter Gruppen» (
Im folgenden Kapitel (Die Kontroverse in den Classics) konstatiert Grethlein, dass die Altertumswissenschaften – gerade in Großbritannien und den USA – «noch mehr als andere Disziplinen in den Strudel identitätspolitischer Diskussionen geraten» seien (
Diese Gegenüberstellung der nationalen Diskurslagen nimmt der Verfasser als Ausgangspunkt für seine Reflexion «über die Grundlagen der Altertumswissenschaft und die Bedeutung der griechisch-römischen Antike in der Gegenwart» (
Grethlein stellt die Prominenz der Debatte in den USA vor den Hintergrund des dort «nach wie vor tief verwurzelten Rassismus» (
Hier nun führt Grethlein näher aus, inwiefern er in dieser Debatte zwei Wissenschaftsvorstellungen aufeinanderstoßen sieht. Einem traditionellen Wissenschaftsverständnis, demzufolge wissenschaftliche Erkenntnis ‹intersubjektiv plausibel› sein muss und das er als Grundlage der Praxis des Peer-Reviews betrachtet, bei dem die «Person des Verfassers oder der Verfasserin» unerheblich für die Bewertung sei, stellt er ein vom Identitätsdenken geleitetes Wissenschaftsverständnis gegenüber (
Im daran anschließenden Kapitel (Die Antike, ‹das nächste Fremde›?) bespricht Grethlein nach dem ‹identitätspolitischen Zugriff›, dessen Vertreter:innen die Antike und ihre Rezeption «primär mit den eigenen Werten abgleichen», die Auseinandersetzung mit der Andersartigkeit der Antike. Diese sieht er betont in Uvo Hölschers Formel des ‹nächsten Fremden›, die im deutschsprachigen Raum häufig zur Begründung der Relevanz und Faszinationskraft der Antike herangezogen wird. Er zieht dabei nicht die Alterität, aber ihre Bestimmung als die ‹nächste› angesichts der Globalisierung in Zweifel: So sei es «fraglich, ob ‹das nächste Fremde› nicht doch China und Indien, und zwar nicht ihre antiken, sondern gegenwärtigen Kulturen sind» (
Das abschließende Kapitel (Reflexivität und Rezeption) wendet sich vor dem Hintergrund der Frage, wie die Antike angesichts der dargestellten Entwicklungen heute noch von Interesse sein kann, einer «deskriptiven Betrachtung» zu, «welche antiken Texte heute noch jenseits der Altertumswissenschaften rezipiert werden» (
Bemerkenswerterweise findet in Grethleins Essay, obwohl er aktuelle und brisante Fragen von ‹Identität› und Belonging, Objektivität und Positionalität thematisiert, keine Auseinandersetzung mit aktuellerer einschlägiger Theorie statt – es werden zwar die «Anwälte des Postkolonialismus» und somit ein entsprechender Theorierahmen aufgerufen, jedoch bleibt unklar, welche Personengruppen oder argumentativen Positionen damit genau gemeint sind.
Wir möchten daher im Folgenden einige theoretische Perspektiven eröffnen, die in der bisherigen Debatte in Deutschland sowie in Grethleins Essay unserer Meinung nach fehlen; dabei soll mit Blick auf die kürzlich erschienene, kritische Besprechung des Essays durch Katharina Wesselmann, die bereits auf problematische Zusammenhänge insbesondere in der wissenschaftlichen Praxis (etwa des Peer-Review-Verfahrens oder der mangelnden Diversität des Fachs an deutschen Universitäten) hinweist, im Folgenden eine Verlagerung auf epistemologische Fragen erfolgen, die solche praktischen Dimensionen mit einem wissenschaftlichen Programm ausstatten können und entsprechend in Deutschland von gleicher Relevanz wie in den USA oder andernorts sind.
Wir zeigen zuerst auf, dass es anstelle des von Grethlein zugrunde gelegten Begriffs von ‹Identität› in der Theoriebildung eine Verschiebung zu fluiden Konzepten wie dem des Belonging oder dem der Ähnlichkeit gegeben hat. Reflexionen auf die epistemologische Relevanz eines solchen ‹Identitätsbegriffs› und die Situiertheit von Wissen stammen dabei auch aus der Wissenschaft und der Wissenschaftstheorie selbst und sind nicht einfach der Spiegel oder das Ergebnis gesellschaftspolitischer Entwicklungen.
Ausgehend von der Ähnlichkeitsforschung möchten wir der Forderung nach einer Rückbesinnung auf den Historismus dann die Kritik gegenüberstellen, die aus unterschiedlichen theoretischen Richtungen, besonders aus postkolonialer Theorie und Queer Studies, am epistemologischen Paradigma des Historismus geübt worden ist: Hier geht es vor allem darum, aufzuzeigen, dass auch dem historistischen Denken eine Ideologie zugrunde liegt und es, auch wenn es ‹Identitäten› nicht expliziert, nicht neutral ist, sondern ebenfalls eine Positionalität aufweist. Daraus möchten wir keine Absage an historistisches, kontextsensibles Arbeiten ableiten, aber seine epistemologische Hegemonie und Ausschließlichkeit in Frage stellen.
Daran schließen einige Überlegungen an, die im größeren Kontext der Global Epistemologies, also der globalen Pluralisierung epistemologischer Zugänge, stehen. Wir schlagen vor, die Diskussion über Kanonkritik von der Rhetorik der ‹Zensur› und des Cancelns hin zur Idee der Erweiterung (von Kanon, Stimmen, Akteur:innen und epistemologischen Zugängen) und zur Sichtbarmachung von Ausgeschlossenem und Ausgelöschtem zu verschieben. Dabei beziehen wir uns auf Konzepte wie den Epistemizid (nach Boaventura de Sousa Santos) und aktuelle Forschungen, die den Epistemologien des Globalen Nordens (also den aus ‹westlicher› Perspektive traditionellen Wissenssystemen) vermehrt andere Wissensweisen und -formen an die Seite stellen.
Wir schließen mit einer Reflexion auf unsere eigene Positionalität in dieser Debatte und über das Jahrbuch Antike und Abendland als Publikationsort sowie mit einer kurzen Zusammenfassung.
Grethleins Essay vermittelt durch die Abwesenheit der kritisierten Theorie wiederholt den Eindruck, dass es sich bei etwa dekolonialen, gendersensiblen, sexualitätsspezifischen oder an class orientierten Forschungsansätzen bzw. solchen, die explizit die Positionalität der Forschenden miteinbeziehen, um individual-politische Einflussnahmen auf eine andernfalls an Erkenntnis interessierte und im besten Fall unpolitische Wissenschaft handele. Er stützt diese Argumentation durch den Verweis auf Positionen und Akteure einer von ihm so bezeichneten ‹Identitätspolitik›, die allerdings in der Wissenschaft oft keine Rolle spielen (wie etwa Sahra Wagenknecht). Grethleins Argumentation setzt sich also von einer dem Pol der ‹Identität› zugeordneten Position ab, die sich aus Stimmen konstituiert, die zwar im öffentlichen Diskurs durchaus wahrnehmbar sind, aber gerade nicht den wissenschaftlichen Diskussionsstand abbilden.
In den Sozial-, Geistes- und Kulturwissenschaften haben in den letzten Jahr(zehnt)en Theoreme und Denkrichtungen Konjunktur, die ihren Bezug zu Identitätsfragen explizieren; ihre wissenschaftliche Produktivität wird dabei nicht in Frage gestellt, sondern sie haben vielmehr zur Einsicht geführt, dass Wissen und Wissenschaft immer ‹situiert› sind und dass sich wissenschaftliche Theoriebildung sowie epistemologische Praxis nie trennen lassen. Diese Ansätze befragen zum einen ihren Gegenstand explizit nach Formen der Subjektivität (z. B. Gender, Critical Race oder Queer Studies) und reflektieren zum anderen zugleich die Positionalität der jeweils Forschenden.
Für die Frage nach ‹Identität› in den Wissenschaften ist dabei wichtig, dass sich ein Shift vom Konzept einer stabilen ‹Identität› zu u. a. dem des dynamischen ‹Belonging› vollzogen hat. Diesen Shift lässt Grethlein unbeachtet, wenn er in seiner Kritik an der von ihm auf diese Bezeichnung festgelegten ‹identitätspolitischen Theorie› bei diesem Konzept verharrt und fragt, ob «der Identitätsbegriff nicht zu statisch, zu wenig dynamisch für die mannigfaltigen Prozesse [sei], in denen sich Orientierungen überlagern und hybridisieren». Als Belonging wird die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe bezeichnet, wobei sich verschiedene Zugehörigkeiten zu unterschiedlichen Gruppen ergänzen und überlagern können, sodass sich das Identitätsprofil einer Person stets aus multiplen Belongings zusammensetzt, deren Überlappungen etwa im Rahmen der Intersektionalitätsforschung thematisiert werden. Diese verschiedenen Belongings können «freiwillig sein oder als solche wahrgenommen werden, aber auch unter Zwang zugeschrieben sein». Belonging tendiert dazu, naturalisiert und erst dann artikuliert und expliziert zu werden, wenn es ‹unter Druck› oder in Gefahr gerät; gerade dies zeigt sich deutlich am Diskurs um die Dekolonialisierung der Altertumswissenschaften, wo die Abwehr identitätsbezogener Ansätze als Reaktion einer zuvor nicht hinterfragten und solchermaßen naturalisierten Positionalität lesbar wird.
Belonging betrifft darüber hinaus nicht nur die Konstruktion von ‹Identitäten›, sondern ebenso deren Bewertung, wie auch im Diskurs über ‹Antike und Identität› bestimmte Identitäten als ‹objektiv›, andere als ‹subjektiv› markiert und mit einer Art ‹Non-Belonging› ausgestattet werden sollen (Grethlein spricht etwa von «Narzissmus» und vom «identitätspolitischen Tribalismus», wo es um Positionen von Wissenschaftler:innen geht). Das Konzept des Belonging ist also hilfreich, um sich zu vergegenwärtigen, dass Wissen, auch wenn es seine eigene Objektivität behauptet, stets ‹situiert› und von sozialen und historischen Faktoren abhängig ist; dieser Gedanke wird heute in verschiedenen Konzepten, Theoremen, Schulen und Denkrichtungen zur Wissenstheorie diskutiert, etwa (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) als ‹Positionalität›, in ‹Perspektivismus› und Standpunkt-Theorie, im Rahmen des sog. ontological turn oder in den Global Epistemologies.
Aus diesen hier nur sehr allgemein skizzierten Arbeiten lassen sich unserer Meinung nach zwei Punkte ableiten, die für die Debatte um ‹kritische› und post- oder dekoloniale Altertumswissenschaften relevant sind:
- Der in der einschlägigen Theorie verhandelte Begriff von ‹Identität› basiert nicht – und gerade das unterscheidet eine aus dieser theoretischen wie politischen Richtung kommende Auseinandersetzung mit der Antike von der einer identitären Rechten, mit der Grethlein sie assoziiert – auf «essentialistischen Grundannahmen» und ist nicht «hermetisch abgeschlossen[]». ‹Identität› in diesem Sinne ist nicht statisch, sondern dynamisch, komplex und vor allem hochgradig intersektional, d. h., sie drängt «das Klassenproblem» nicht, wie Grethlein die Situation in Großbritannien einschätzt, in den Hintergrund, sondern betrachtet es im komplexen Überschneidungsbereich von Kategorien wie gender , class und race , um so deren wechselseitige Verstärkung zu thematisieren.
- Konzepte, die sich mit Fragen von ‹Identität› (hinsichtlich der Forschenden, aber auch in der ‹Anwendung› auf den Gegenstand) beschäftigen, bilden also keinen Gegensatz zu einem traditionellen Konzept von ‹Wissenschaft›, sondern sind inzwischen vielmehr Teil desselben: Die bewusste Verkomplizierung und Anreicherung des Begriffs von ‹Identität› kommt aus den Wissenschaften und aus der Wissenschaftstheorie selbst, und sie ist nicht der Versuch einer aus einem ‹Außenraum› der Wissenschaft kommenden individual-politischen Einflussnahme («politische Hypostasierung») auf eine sonst autonom funktionierende Wissenschaft.
Den Shift von statischen zu dynamischen Modellierungen von ‹Identität› sowie die Überlagerung vielfacher Zugehörigkeiten, die die Relevanz schroffer Dichotomisierungen fraglich werden lässt, bildet die Kulturtheorie mittlerweile im Konzept der Ähnlichkeit ab, das jenseits eindeutiger Differenzen nach «Figuren des Kontinuierlichen» fragt. Als «exemplarische Figur des Dritten, die dem Denken in Identität und Differenz hinzugefügt werden muss», eröffnet das Konzept der Ähnlichkeit in Auseinandersetzung mit den dichotomen Theoriebewegungen des 20. Jahrhunderts Möglichkeiten, nach dem ‹Dazwischen› zu fragen, und kann als Versuch verstanden werden, dem ewigen Dilemma einer Vorortung zwischen dem ‹Eigenen› und dem ‹Fremden› zu entkommen, die sich auch durch Grethleins Argumentation zieht.
Ähnlichkeitsdenken basiert auf momentanen Konstellationen und thematisiert, wie Alterisierungen und Dichotomisierungen sich der sie produzierenden Fragestellungen und Perspektiven verdanken und dabei einzelne differente Aspekte hervorheben und Ähnlichkeiten in anderen Hinsichten ausblenden – und dies in Abhängigkeit von den Fähigkeiten und Absichten des vergleichenden Subjekts. Daher wirft es auch ein kritisches Licht auf die dem Historismus inhärenten Alterisierungsstrategien, um die es in diesem Abschnitt geht: Der Historismus – wie auch an der von Grethlein diagnostizierten «Andersartigkeit der Antike» sichtbar wird – markiert in der Vergangenheit liegende Epochen als ‹anders› und hebt ihre Eigenheit sowie ihre Differenz zur Gegenwart hervor.
‹Historismus› figuriert bei Grethlein zunächst als Gegenbegriff für jene Perspektiven auf Geschichte, die diese seiner Meinung nach ausschließlich an der Gegenwart messen und ihr letztlich mit achronistischen und daher unzulänglichen Konzepten begegnen; dazu gehören für Grethlein das oben skizzierte ‹identitätspolitische Wissenschaftsverständnis› genauso wie konservative und rechte Positionen, die sich auf die Antike als Fundament ihrer kulturellen Identität berufen. Demgegenüber sei der Historismus, so Grethlein, «darum bemüht, jede Epoche aus sich selbst heraus zu verstehen». Damit ziele er auf das Spezifische, Differente einzelner Epochen: «Das Bewußtsein für Unterschiede zwischen Epochen und die geschichtliche Gewordenheit der eigenen Position war Kern des Historismus.»
Nun gibt es in den Geistes- bzw. Kulturwissenschaften viele Methodologien und Theorien, die kontextsensibel vorgehen und das jeweilige soziale, kulturelle und historische Umfeld ihrer Gegenstände rekonstruieren; dazu gehören die Cultural Studies bzw. Kulturwissenschaft(en), die Kulturpoetik, die Ideen-, Begriffs- oder Kulturgeschichte, der New Historicism, die kulturwissenschaftliche Philologie usw., während Ansätze, die Kontexte und historische Profile weitgehend ausblenden – etwa ‹reiner› Strukturalismus, der New Criticism, die ‹werkimmanente Interpretation› – heute meist als überholt betrachtet werden. Manche dieser Ansätze gehen von zeitgenössischen Konzepten wie gender, queerness, race aus, reichern ihre konzeptuellen Analysen mit diesen an und haben sich so als eigenständige (Teil-)Disziplinen etabliert; sie bewegen sich in gewisser Weise also gerade im Schnittbereich der von Grethlein entworfenen Pole des Historistischen und des Achronistischen, passen aber historische Kontextualisierung und konzeptuelle Rahmung immer aneinander an.
Angesichts der Vielfalt sowie der Dominanz dieser kontextsensiblen Ansätze und ihrer Überlappungen mit den wissenschaftlichen Ansätzen der von ihm kritisierten ‹Vertreter der Identitätspolitik› ist es umso überraschender, dass Grethlein sich nicht auf sie bezieht und sie im Essay keine Rolle spielen; stattdessen wird der Referenzrahmen des Historismus des 19. Jahrhunderts aufgerufen, wobei Johann Gustav Droysen, Wilhelm Dilthey, Max Weber und – im einschlägigen FAZ-Artikel – Leopold von Ranke erwähnt werden und so die Bezugspunkte dieses «vergessenen Historismus» bilden. Diese Bezugnahmen bleiben zwar punktuell und werden nicht zu Positionen oder einem theoretischen Programm entfaltet; wohl aber taucht in Grethleins Argumentation der Begriff der ‹Entwicklung› auf, der im Historismus des 19. Jahrhunderts prominent funktionalisiert ist. Grethlein geht auf die ideologische Dimension des Begriffs nicht weiter ein, sie ist aber einer der Ansatzpunkte für eine kritische Auseinandersetzung mit dem Historismus. Deshalb sei hier unabhängig davon die knappe Konturierung erlaubt, dass der Historismus des 19. Jahrhunderts den Begriff der ‹Entwicklung› (der, wie gesagt, bei Grethlein nicht weiter konzeptualisiert oder ausgedeutet wird) auch aus der Reflexion auf außereuropäische Gesellschaften gewinnt, die als weniger oder gar nicht entwickelt betrachtet werden. Dass dabei die vorgestellten ‹Anderen› auf einer früheren Zeitstufe lebend imaginiert werden, fasst Johannes Fabian mit dem Begriff «allochronism». Hinter diesen Operationen der Verzeitlichung wird ein Fortschrittsparadigma erkennbar, in das der Historismus sich selbst einträgt, und das aber verkappt bleibt, insofern der sehr deutlichen Markierung der ‹Anderen› eine Naturalisierung des ‹Selbst› gegenübersteht:
According to a famous remark by Karl Popper, «The historicist does not recognize that it is we who select and order the facts of history». Popper and other theorists of science inspired by him do not seem to realize that the problematic element in this assertion is not the constitution of history (who doubts that it is made, not given?) but the nature of the we. From the point of view of anthropology, that we, the subject of history, cannot be presupposed or left implicit.
Diese Naturalisierung der eigenen Positionalität zeigt sich im Historismus bei Ranke etwa im Wunsch, das historiografische Selbst ‹auszulöschen›. Dass die Allochronisierung und die Naturalisierung der eigenen Positionalität zur Alterisierung des ‹Anderen› der Moderne führen, hat als Kritik in unterschiedliche Wissenschaftszweige Eingang gefunden, spielt aber vor allem für post- und dekoloniale Theorien und Ansätze eine wichtige Rolle, am prominentesten bei Dipesh Chakrabarty. Auch Chakrabarty sieht im Historismus eine Erfindung der Moderne, die die Vorstellung von ‹Entwicklung› begründen sollte, indem außereuropäische Gesellschaften als un(ter)entwickelt klassifiziert wurden: «[H]istoricism – and even the modern, european idea of history – one might say, came to non-european peoples in the nineteenth century as somebody's way of saying ‹not yet› to somebody else». Aufgrund dieser epistemologischen Strategien ist der Historismus Teil derjenigen kolonialen Praktiken, die die europäische Hegemonie befestigen halfen:
Historicism enabled European domination of the world. Crudely, one might say that it was one important form that the ideology of progress or «development» took from the nineteenth century on. Historicism is what made modernity or capitalism look not simply global but rather as something that became global over time, by originating in one place (Europe) and then spreading outside it. This «first in Europe, then elsewhere» structure of global historical time was historicist [...].
Der Historismus alterisiert Chakrabarty zufolge also nicht einfach nur, sondern ist dabei mit einer strategischen Agenda ausgestattet; sein Ziel der Erkenntnisproduktion und Einsicht in die geschichtliche Entwicklung ist keine selbstbezügliche wissenschaftliche Frage, sondern steht – wie ‹identitätspolitische› Ansätze, aber ohne dies zu reflektieren – im Spannungsfeld von Macht und Epistemologie.
Eine ähnlich geartete Kritik am Historismus kommt überdies aus den Queer Studies, die das «othering of the past» im Historismus kritisieren und stattdessen für einen Queer Unhistoricism plädieren, der die Konstruktionen von Vormoderne und Moderne einer kritischen Revision unterzieht. Wie die postkoloniale Theorie setzen auch die Queer Studies an dem Befund an, dass der Historismus, wie ihn Historiker wie Ranke und Dilthey entwickeln, um sich als modern zu behaupten, bestimmte Subjektivitäten und Kollektive als das ‹Andere› der Moderne entwirft. All diese Kritiken aus Postcolonial und Queer Studies machen deutlich, dass der Historismus als Konstruktion zu verstehen ist, die vor allem auch etwas über ein ‹Selbst› und dessen ‹Fortschritt› bzw. Entwicklung aussagen soll, und, wie alle epistemischen Systeme, auch eine ideologische Dimension besitzt.
Die von Grethlein angeführte historistische Einsicht in «die geschichtliche Gewordenheit der eigenen Position» kann also u. U. Hintergrundannahmen transportieren, die sich im Historismus des 19. Jahrhunderts der temporalen Ausgliederung der ‹Anderen› verdanken. Denkbewegungen wie die des Queer Unhistoricism stellen dagegen ‹reparative› Zugänge zur Kulturgeschichte dar, die diese strategischen oder unbewussten Alterisierungen unterlaufen und etwa nach Ähnlichkeiten und «Figuren des Kontinuierlichen» (s. o.), aber gerade nicht der ‹Identität› (im Sinne einer Entsprechung) zwischen Vormoderne und Moderne fragen. Verbindet man kontextsensible Methoden mit konzeptueller Orientierung, können sich so Konstellationen mit neuen Ähnlichkeitsrelationen ergeben. Während der Historismus von der Überzeugung getragen ist, den einzig gültigen Zugriff auf Geschichte zu bieten, wird hier die Koexistenz vielfältiger, einander überlappender Perspektiven möglich.
Mit Blick auf die Antike wird so etwa eine Ergänzung des epistemologischen Spektrums denkbar und notwendig. Dies lässt sich exemplarisch an Grethleins Argumentationsfigur der Reflexivität vieler antiker Texte zeigen: Der Fokus auf die Reflexivität entspricht einem von der Gegenwart und politischen Positionen geprägten Interesse, das zu anderen Zeiten unterschiedlich ausfallen kann; so war, wie Grethlein bemerkt, etwa der italienische Faschismus bestrebt, gerade diese Dimension antiker Texte zu unterschlagen. Die Offenheit und Wertschätzung für eine solche Reflexivität stellt indes nur eine epistemologische Disposition der Gegenwart dar, der weitere an die Seite gestellt werden können: Mit derselben Berechtigung sind dann auch diejenigen Dimensionen der Antike in den Blick zu nehmen, die für uns in der Gegenwart die Schwelle zur Problematisierbarkeit übertreten und so in den Blick geraten.
Dabei hängt der Anschluss der Antike an die Gegenwart vor allem auch an der Selektion des Gegenwärtigen: Während Grethlein etwa eine Lektüre antiker Texte mit Blick auf den russischen Überfall auf die Ukraine und eine Kritik ihrer missbräuchlichen Rezeption begrüßt, gelten ihm auf ‹Identität› bezogene, also etwa postkoloniale, gendersensible, sexualitätsbezogene oder class-spezifische Fragen an die antiken Texte selbst als eine bloße «Anbiederung an den Zeitgeist und plumpe[] Aktualisierungen». Das historistische Argument führt hier also zur wissenschaftlichen Nicht-Selektion spezifischer Formen von Zugehörigkeit als Parameter der Forschung. Damit verbindet sich die Vorstellung einer eigenen naturalisierten bzw. ‹Nicht›-Positionalität; auch ein solches Nicht-Stellen von Subjektfragen konstituiert eine Subjektpolitik, die jahrhundertelang zu Ungunsten von Minderheiten gewirkt hat. Auf sachlicher Ebene bleibt festzuhalten – dies belegt der Essay performativ –, dass Fragen nach Zugehörigkeit und ‹Identität› durchaus zu den virulenten und offenen Fragen der Gegenwart gehören.
Als «Preis des vergessenen Historismus» führt Grethlein schließlich Formen der «identitätspolitischen Zensur» auf, die von ihm als Gegensatz zu historistischer Betrachtung konzipiert wird:
War der Historismus darum bemüht, jede Epoche aus sich selbst heraus zu verstehen, so bewerten und zensieren die Jünger der Identitätspolitik die Vergangenheit vor allem mit den moralischen Maßstäben der Gegenwart. Ein paar Beispiele aus Deutschland: Nachdem die Stadt Berlin angekündigt hat, die Mohrenstraße – nur noch als M*straße zu schreiben – in Anton-Wilhelm-Arno-Straße umzubenennen, sind Forderungen laut geworden, auch dem Richard-Wagner-Platz und der Martin-Luther-Straße andere Namen zu geben.
An die Diskussion über die Umbenennung von Straßen und den Umgang mit etablierten philosophischen Texten, die rassistisches Gedankengut enthalten, schließt Grethlein dann Fragen des literarischen Kanons an. Der Umbenennung von Straßen, könnte man nun zuerst einwenden, liegen qualitativ andere Diskussionen zugrunde als der Frage, wie man historische Texte lesen sollte – schließlich geht es bei der Vergabe und Nutzung von Straßennamen primär darum, welchen Personen oder Ereignissen wir heute einen, obendrein ehrenden, Platz im öffentlichen Raum gewähren möchten. Man kann die geschichtliche Gewordenheit solcher Straßennamen in ihrer Zeit in den Blick nehmen und trotzdem zu dem Schluss kommen, dass die Beibehaltung mancher Namen nicht zeitgemäß und eine Änderung keine Zensur der Vergangenheit, sondern eine Neuorientierung (und, wie Grethlein selbst formuliert: Verständigung über Werte) der Gegenwart darstellt. Dass es dabei auch zu streitbaren Fällen kommt und Akteur:innen Forderungen unterschiedlicher Tragweite haben, ist sicher unvermeidbar und zugleich integraler Teil einer demokratischen Gesellschaft, in der diese Fragen immer wieder aufs Neue verhandelt werden müssen.
Anders gelagert sind die Diskussionen nun, wenn es darum geht, wie und in welcher Form wir heute antike Texte lesen, und zwar gerade solche, deren Inhalte und Kontexte mit unseren eigenen Überzeugungen im Konflikt stehen. Ohne dies zu explizieren, beschwört Grethlein hier das Gespenst der ‹linken Cancel Culture›, das schon lange durch die deutschen Medien geistert. Wer genau aber der Agens ist hinter der unpersönlich formulierten Forderung, «auch der Kanon antiker Literatur soll nach unseren Moralvorstellungen bereinigt und anstößige Werke, wenn überhaupt, dann nur mit einem kritischen Fokus auf ihre ethische Defizienz behandelt werden», bleibt unklar. Das mag damit zu tun haben, dass auch hier die Auseinandersetzung mit diesen Fragen im akademischen Diskurs und an den Universitäten selbst ein ganz anderes Bild zeichnet, das keineswegs auf Zensur, sondern auf einen veränderten und letztlich umfassenderen Umgang mit – zum Beispiel – antiken Texten zielt.
Im Hinblick auf den schulischen und universitären Lektürekanon entzünden sich Diskussionen gern an vielgelesenen Autoren wie etwa Ovid: In seinen Gedichten werden regelmäßig Szenen sexueller Gewalt ausgestellt, die zudem in Übersetzungen sprachlich unsichtbar gemacht werden. Die Forderung, Ovid in Schulen und Universitäten mit Bewusstsein und Sensibilität für diese Thematiken zu lesen und diese Problematiken zu thematisieren, ist nicht gleichbedeutend mit einer Reduktion antiker Texte auf eine moralische Kritik durch die Gegenwart, wie sie Grethlein nahelegt, wenn ihm in den «heutigen Forderungen nach Diversität» die antiken Texte «stark verkürzt» erscheinen. Es ist vielmehr eine Erweiterung der Perspektive, aus der wir Texte im Klassen- oder Seminarraum immer einführen und kontextualisieren. Es geht dabei nicht darum, den Kanon zu beschneiden, sondern vielmehr darum, ihn zu ergänzen und Aufmerksamkeiten anders zu verteilen: Der kritische Blick auf den Kanon muss die vielfältigen Abwesenheiten thematisieren, die mit ihm einhergehen, und zwar sowohl im Hinblick auf das kanonisierte Material als auch auf die Prozesse seiner Konstitution. Die komplexen Überlieferungs- und Kanonisierungsprozesse werden nicht nur durch kontingente Faktoren und tradierende Erinnerungsmechanismen bestimmt, sondern auch durch explizite strategische Ausschlüsse bestimmter Subjektivitäten, Positionen und Epistemologien. Boaventura de Sousa Santos konzeptualisiert solche Vorgänge als ‹Epistemizid›:
Colonial domination involves the deliberate destruction of other cultures. The destruction of knowledge (besides the genocide of indigenous people) is what I call epistemicide: the destruction of the knowledge and cultures of these populations, of their memories and ancestral links and their manner of relating to others and to nature. Their legal and political forms – everything – is destroyed and subordinated to the colonial occupation.
Das Konzept des Epistemizids, das bereits von Padilla Peralta in altertumswissenschaftlichen Kontexten herangezogen wurde, markiert also Formen der Abwesenheit und kann unseren Blick auf historisches Material ‹beunruhigen›, indem es auf die Stille und Unsichtbarkeit dessen verweist, das nicht mehr hör- und sichtbar ist. So wie im Diskurs um ‹Antike und Identität› in synchroner Perspektive bestimmte Epistemologien als akzeptabel selegiert, andere als wissenschaftlich inakzeptabel ausgeschlossen werden – z. B. solche, die um ‹Identitäten› der Produzent:innen und Verwalter:innen von Wissen oder Situationsgebundenheit von Wissen kreisen –, wird in diachroner Richtung (Kultur-)Geschichte so als von Selektion und Epistemiziden geprägtes ‹Archiv› lesbar:
Whatever the mode of selection, what is not selected by the archive is nonetheless constitutive of what is selected. What is not selected is not just knowledges but also times, rhythms, chronologies, sequences, narratives, spaces, foundational myths, stresses, memories, identities, and representations. The other face of the archive is modern epistemicide and all its historical repercussions.
Es geht also nicht nur um Wissen im Sinne akademischer Reflexion, sondern auch um ganz andere Formen des Wissens und Epistemologien, bspw. embodied knowledge, Praktiken-Wissen oder habituelles Wissen. So ist etwa über Jahrhunderte hinweg eine weiße Antike konstruiert worden und sind von diesem hegemonial geführten Diskurs minoritäre Gruppen ausgeschlossen worden – sowohl in der Antike selbst als auch in ihrer späteren Aneignung; dies führt u. a. zur verharmlosenden Darstellung der Sklaverei, wie sie bis heute in Schulbüchern anzutreffen ist (und in der Klassischen Philologie in Deutschland erst seit Kurzem thematisiert wird). Durch diese Ausschlüsse von Menschen und Kollektiven sind zugleich deren Wissen und Epistemologien aus dem wissenschaftlichen Diskurs abgedrängt worden; genau hier setzt der Begriff des Epistemizids, der also gerade die Kontinuität von physischer und epistemischer Gewalt betont, sowie die bei Santos angelegte Vorstellung ‹emergenter Epistemologien› an: Es geht nicht nur darum, das durch Epistemizide Abwesende zu markieren, sondern auch eine «sociology of emergences» zu ermöglichen, die sich konzentriert auf die «positivity of such exclusions as it captures the victims of exclusion in the process of setting aside victimhood and becoming resisting people practicing ways of being and knowing in their struggle against domination».
Bei Santos sind Wissensformen und Epistemologien also unmittelbar an Positionalität und Belonging gebunden und entlang einer «abyssal line» zwischen Kolonisator:innen und Kolonisierten, hegemonialen und minoritären Positionen organisiert. Anders als in der deutschsprachigen Debatte unterstellt, geht es Ansätzen wie jenem von Santos aber nicht darum, Privilegierte gegen Minoritäre auszuspielen oder die eine Epistemologie zugunsten der anderen abzuschaffen; vielmehr zielen seine Theorien darauf ab, auf die historische Abwehr von Epistemologien hinzuweisen, die jenseits des Modells dominanter Wissenschaft operieren.
Santos exemplifiziert die Dynamik solcher marginalisierten und dominanten Wissensordnungen einmal auch am Material der griechisch-römischen Antike: Er interessiert sich etwa für Lukian von Samosata, den er als «centrifugal figure of classical antiquity, a marginal classic of Western culture» begreift. So liest er Lukians Dialog Βίων Πρᾶσις (wörtlich etwa: Der Verkauf der Lebensformen) als literarische Figuration einer Strategie der Distanzgewinnung zu etablierten theoretischen Traditionen, die auch für die epistemologische Diversifizierung der Gegenwart relevant ist. In diesem Dialog werden die an den diversen philosophischen Schulen ausgerichteten Lebensweisen, also die etablierten Wissensordnungen und -praktiken der griechisch-römischen Antike, alle miteinander zum Verkauf angeboten:
In this as in other satirical works, Lucian of Samosata aims to create distance vis-à-vis established knowledge. He turns the theories into objects rather than subjects, creates a field of externality about them, and submits them to tests for which they were not designed. He does not allow them to argue among themselves, urging them rather to contend for the attention of strangers whose preferences they have no way of controlling. He subjects them to the chaos of the society in which they are produced and shows them that the truth to which they aspire [...] lies not in corresponding to a given reality but rather in corresponding to a reality yet to be given, to utility in terms of social criteria and objectives in a broad sense.
Die Distanz zu hegemonialen Epistemologien, die Santos in deren Objektivierung und ‹kommerzialisierender› Entwertung erkennt, sieht er zudem in die Biographie des antiken Autors eingeschrieben: Lukian selbst geht immer wieder auf seine marginalisierte Position als griechischsprachiger und aus der ‹Peripherie› des Römischen Reiches stammender Literat (und Rhetor) – der gleichwohl aus finanziell privilegierten Verhältnissen kommt – ein. Samosata, im 2. Jh. n. Chr. Teil der römischen Provinz Syria, liegt in der heutigen Türkei und war, wie Santos hervorhebt, ein Ort geographischer, ökonomischer, kultureller und religiöser Überlappungen. Lukians multiple Belongings, um die oben entfaltete Terminologie aufzugreifen, durchdringen sein umfangreiches Werk, das – vielleicht auch gerade wegen dieser Distanz zu etablierten Wissensordnungen, wie Santos in einer Fußnote impliziert – lange als marginal galt.
Beispiele wie dieses und Santos' Überlegungen im Ganzen stehen damit im Kontext der aktuellen Forschungen zu Global Epistemologies, die das rationalistisch-akademische Wissen des ‹Globalen Nordens› als nur eine Epistemologie neben anderen begreifen und nach weiteren Wissensformen in einem globalen Kontext fragen. Neben Santos kommen wichtige Impulse zu den Global Epistemologies aus der Ethnologie bzw. Anthropologie, etwa von Eduardo Viveiros de Castro oder Philippe Descola. Ohne auf diese Theorien im Detail eingehen zu können, bleibt festzuhalten, dass den Epistemologien des Globalen Nordens vermehrt andere Wissenssysteme, -weisen und -formen an die Seite gestellt werden, um so das Denken zu dekolonisieren («décoloniser la pensée») und ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, wo ein ‹westlicher Blick› Wissen unterschiedlichen epistemologischen Profils nicht erkennen kann, es verzerrt oder per Epistemizid verdrängt. Diese Prozesse der Pluralisierung sind keine Gefahr für die traditionellen geistes- und kulturwissenschaftlichen Fächer, im Gegenteil: Die Herausforderung für den Umgang mit der Antike, aber auch Literatur- und Kulturgeschichte überhaupt besteht nicht darin, bestimmte Fragestellungen, Perspektiven und Theoreme abwehren und so das epistemische ‹Territorium› der Fächer verteidigen zu müssen, sondern vielmehr in der Frage, wie sie in einer von weltweit unterschiedlichen Wissensformen geprägten Zeit Fragen und Perspektiven aufgreifen können, um so Bestrebungen der Dekolonialisierung nicht nur auf Ebene des Materials (etwa anhand der Frage des Kanons), sondern auch hinsichtlich des theoretisch-methodischen Zugangs aufzunehmen. Die historisch orientierten Kulturwissenschaften wie die Altertumswissenschaften, die sich ihren Zugang zum Gegenstand durch die Geschichte von Epistemiziden bahnen müssen, stehen dabei vor der Herausforderung, diese Epistemizide in die Geschichte und Praxis des Wissens einzuschreiben. Die Angst davor, dass sich ein in Deutschland gesellschaftlich nicht mehr besonders relevantes Fach durch Selbstkritik der eigenen Fachgeschichte, durch Reflexivität auf die eigene Positionierung oder durch Anschluss an zeitgenössische Theoriediskurse selbst abschafft, ist unbegründet (auch wenn, wie immer und überall, der Missbrauch entsprechender Theorien und Positionen, das Umschlagen von minoritären in hegemoniale Situationen möglich ist); real hingegen ist das Risiko, bald jungen Menschen und anderen Disziplinen, die auf einen auch globalen Reflexionsrahmen umstellen, nichts mehr zu sagen zu haben und so den Anschluss an gemeinsame Diskurse zu verlieren.
The task is not individual but communal. It means that no one should expect that someone else will decolonize him or her or decolonize X or Z, and it means that none of us, living-thinking-being-doing decolonially should expect to decolonize someone else.
Zum Abschluss dieser Überlegungen scheint es uns angebracht, die theoretisch-epistemologischen Ausführungen in unserer Praxis zu situieren und noch mit einigen Worten unsere eigene Positionalität zu reflektieren, um davon ausgehend unser Anliegen in diesem Artikel zusammenzufassen. Wir schreiben als zwei Doktorand:innen gegen Ende ihrer Promotionsphase, die ausschließlich in den Universitätssystemen des Globalen Nordens ausgebildet wurden und dort (u. a.) ‹Klassische Philologie› studiert haben; wir sprechen dabei aus der Position unserer eigenen multiplen Belongings in diesem System, arbeiten aber aus einer in anderen Hinsichten privilegierten und in unserem Erfahrungsraum begrenzten Position, insofern unser Schreiben Teil des deutschen akademischen Systems ist. Zu diesen Privilegien gehört auch, dass wir die Möglichkeit haben, eine Perspektivierung einer uns schon länger angelegenen Debatte in einer Zeitschrift wie Antike und Abendland publizieren zu können. Den Konnex von Antike und ihrer Rezeption im «Abendland» sehen wir, was wenig überraschen dürfte, kritisch. Dies betrifft nicht nur die terminologische Verengung der Antikenrezeption auf eine (eurozentrisch) ‹westliche› Welt, sondern auch die historischen Aus- und Abgrenzungen, die der Begriff transportiert: die Vorstellung eines ‹die Antike› vereinnahmenden westlich-europäischen, christlichen Kulturraums gegenüber einem nicht-christlichen, primär islamisch gelesenen «Osten» – die rechtsextreme Bewegung PEGIDA, «Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes», aktualisiert in jüngster Vergangenheit diese begriffliche Aufladung sehr öffentlichkeitswirksam für die Neue Rechte in Deutschland.
Antike und Abendland (mit dem Untertitel Beiträge zum Verständnis der Griechen und Römer und ihres Nachlebens) wurde von Bruno Snell am Ende des Zweiten Weltkriegs gegründet, der erste Band erschien im Februar 1945 im Marion von Schröder Verlag in Hamburg. Snell, der sich von Anfang an deutlich vom Nationalsozialismus distanzierte und sich immer wieder gegen den antisemitischen Rassismus der Nationalsozialisten aussprach, arrangierte sich gleichwohl mit der Situation an der Universität Hamburg, wo er seit 1931 und bis 1960 Professor war. Aus dem Vorwort zum zweiten Band, der im Herbst 1946 veröffentlicht wurde, wird deutlich, dass Snell das Jahrbuch im Kontext einer Hinwendung Deutschlands zur Idee eines geeinten Europas und einer entsprechenden europäischen Orientierung der Altertumswissenschaften (sowie umgekehrt der orientierenden Kraft Europas) nach der nationalsozialistischen Herrschaft sah. Eine Einordnung dieses Impulses in seinen historischen Kontext bringt aber auch die Spannungen zutage, in denen ein solches Projekt existierte und die nicht ausgeblendet werden können: Die Nachkriegszeit erlebt eine Konjunktur des Begriffs des ‹Abendlandes› und mit ihm einer erneuerten Idee ‹westlicher Zivilisation›, in der das Potenzial eines des Faschismus unverdächtigen europäischen Ordnungsmodells erkannt wurde, das aber gleichzeitig ein (auch geographisch) statisch und determiniertes, Hegemonie beanspruchendes und sich in ständiger Bedrohung (in dieser Zeit durch den östlichen Teil Europas) wähnendes Konstrukt war.
Auch hier zeigt sich, dass historisch-kontextualisierende Betrachtungen und kritische, gerade auch dekoloniale Perspektiven in produktive Wechselwirkung treten können: Die europäische Vision Snells, die ihr Echo im Zeitschriftentitel findet, ist im Kontext ihrer Zeit eine Öffnung, aber sie ist auch eine weitere Vereinnahmung der Antike für Europa und ‹den Westen›, die wir heute aus anderer Perspektive sehen. Die Ausschlussbewegungen und Auslöschungen, die etwa einhergehen mit der Idee eines ‹europäischen Westens›, der sich auf eine als klassisch verstandene Antike als gemeinsames Erbe beruft, gegenüber einem (sei es – kontinental gesprochen – europäischen, sei es außer-europäischen) Osten, treten vor dem Hintergrund unseres zeitgenössischen Problembewusstseins (das freilich nicht ‹entwickelter› oder universeller, sondern lediglich ein unterschiedliches ist) in anderer Perspektive zutage.
Die historische Kontextualisierung bereichert dann aber auch ein Nachdenken darüber, wie man sich zu einem solchen Titel heute in der Praxis verhalten kann und wie wir uns ihr mit kritischen (etwa dekolonialen) Zugängen nähern. Vor diesem Hintergrund erscheint uns Antike und Abendland nicht nur als ein guter Ort, um eine primär in den Feuilletons geführte Diskussion an einen wissenschaftlichen Publikationsort zu bringen, sondern gerade auch als wichtiger Ort, um – durch die Rezeption aktueller Theoriebildung aus dem Umfeld der Global Epistemologies – wissenschaftstheoretische Positionen der Altertumswissenschaften als Disziplin in der Gegenwart und ihre so perspektivierte Fachgeschichte wie Zukunft in den Blick zu nehmen.
Die epistemologischen und wissenschaftstheoretischen Positionen zeigen, dass Diversität und Dekolonialisierung keine Projekte sind, die sinnvollerweise einen ‹nationalen› Rahmen haben, ‹dort› relevant und ‹hier› aufgrund anderer realpolitischer Bedingungen entbehrlich sein könnten; vielmehr betreffen sie alle: Wir alle zeichnen uns durch vielfältige Formen von Zugehörigkeiten aus, die unseren Zugang zu Wissenssystemen bestimmen und unser Wissen situieren, und können uns der Reflexion auf sie kaum entziehen. Die komplexen Konzepte von ‹Identität› u. a. in dekolonialen und queeren Forschungskontexten sowie ihre entsprechenden konzeptuellen Korrelate wie Belonging oder Ähnlichkeit erlauben eine solche Einsicht in die Pluralität und Vielstimmigkeit von Subjektivitäten. Zugleich handelt es sich dabei nicht etwa um Detailfragen hochspezialisierter Teildisziplinen, sondern um Überlegungen, die mittlerweile das ‹Ganze› der Wissenschaften angehen und auch in allgemeiner Kulturtheorie, Wissenssoziologie und Wissenschaftstheorie verhandelt werden. Ein wichtiges Argument ist darin die Kritik an Dichotomisierungen, etwa zwischen ‹eigen› und ‹fremd›, aber auch ‹Antike› und ‹Moderne›. Auch das wissenschaftliche Prinzip des Historismus ist davon betroffen, insofern es – durch die Eintragung eines sich entwickelnden Selbst in die Vorstellung von Geschichte – situiertes Wissen produziert, dies aber ausblendet. Es geht also darum, die wissenschaftlichen Mittel und Methoden des Historismus zu situieren, sodass klar wird, dass auch das historistische Arbeiten einen an der Position der Forschenden hängenden ‹Ort› hat. Die Reflexion von Positionalität kann genau diesen Ort offenlegen und ihn im Verhältnis zu anderen lokalisieren und stellt zugleich keine ausschließende, sondern eine erweiternde Alternative zu anderen epistemologischen Zugängen dar. Da diese theoretischen Hintergründe im deutschen Diskurs um ‹Antike und Identität› und in der Epistemologie der Antike bisher – wenn überhaupt – nur vereinzelt eine Rolle gespielt haben, war es uns ein Anliegen, diese Positionen hörbar zu machen und in die Diskussion einzubringen. Wir haben dafür bestehende Konzepte und Theorien aufgegriffen, die unserer Meinung nach einerseits relevant für die Reflexion eines Wissenschaftsverständnisses im Allgemeinen sind und von denen sich keine Disziplin ausnehmen kann, andererseits haben wir exemplarisch auf Arbeiten hingewiesen, die einen solchen theoretischen Zugang in der Auseinandersetzung mit der Antike zur ‹Anwendung› bringen. Die Zusammenführung beider Ebenen (‹Identitäten› der Forschenden und Identitätskonzepte als Frage an den Gegenstand) wird Herausforderungen an künftige Altertumswissenschaften und historische Kulturwissenschaften, aber auch Universitäten überhaupt stellen, die sich nicht nur mit bekannten, sondern auch neuen Fragen konfrontieren wollen und müssen.
Auch in Deutschland, wo ihre öffentliche Stellung, wie Grethlein bemerkt, sicher gesellschaftlich weniger prominent ist als in den USA oder in Großbritannien, werden die Altertumswissenschaften an den möglichen Zukünften der Universität mitarbeiten müssen, wenn sie bestehen wollen. In und über die Universitäten hinaus eröffnen sich so Möglichkeiten für neue Positionierungen zur Antike und ihrer Rezeption. In der Dekolonialisierung und Diversifizierung des Bildes der Antike und unseres akademischen wie gesellschaftlichen Zugangs zu ihr liegen Potenziale, um sie als einen Wissensbereich zu erhalten, der die Gegenwart in anderem, kritischem Licht erscheinen lässt, aber der auch umgekehrt selbst im jeweils kritischen Licht der Gegenwart steht. Die Antike aus dem Perspektivenhorizont zeitgenössischer Fragen nach Identitätskonzepten und Belonging abzudrängen, wird kaum das Interesse an ihr festigen können; stattdessen sollten auch das Wissen und die Wissenschaften von der Antike sich an der epistemologischen Diversifizierung, die Teil einer Dekolonialisierung unserer Wissenssysteme ist, und der Aushandlung ihrer Praxis beteiligen.
By Quintus Immisch and Saskia Schomber
Reported by Author; Author