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Die phänomenologischen Wurzeln der Gesprächsanalyse und das Politische bei Hannah Arendt: Ein Kombinationsvorschlag zur Analyse sprachlicher Interaktionen.

Lindinger, Isabel
In: Zeitschrift für Angewandte Linguistik, Jg. 79 (2023-09-01), S. 195-230
Online academicJournal

Die phänomenologischen Wurzeln der Gesprächsanalyse und das Politische bei Hannah Arendt: Ein Kombinationsvorschlag zur Analyse sprachlicher Interaktionen  The Phenomenological Roots of Discourse Analysis and the Political in the work of Hannah Arendt: A fruitful combination for the analysis of interaction 

Hannah Arendt's political theory remains influential in both the Humanities and the Social Sciences, including in sociology, educational sciences and political education. Arendt's works are utilized in different ways in these contexts. Within sociolinguistics and conversational linguistics, however, this does not seem to be the case. The present article aims to overcome this shortcoming by exploring opportunities for analytically integrating Arendt's understanding of the political and the conversation analysis point of view. Combining these two perspectives results in the added value of expanding the interpretive framework to include Arendt's dimensions of subjectivity, intersubjectivity, and access to the world. In line with this goal, the respective phenomenological influences of both approaches, Arendt's political theory and the phenomenological precursors of conversation analysis, are considered separately. After providing an overview of the phenomenological roots for socio- and conversation analysis (Edmund Husserl, Alfred Schütz, Harold Garfinkel), Arendt's concept of the political is discussed. Subsequently, the analytical nexus of the approaches are elaborated on in the form of three theses. It is argued that Arendt developed an innovative phenomenological concept of plurality which has the potential of forming the basis for an interpretive tool for the analysis of oral interaction (in line with Garfinkel's ethnomethodology).

Keywords: phenomenological sociology; political theory; conversation analysis; Hannah Arendt; Alfred Schütz; Harold Garfinkel; Edmund Husserl; analytical integration

1 Einleitung

Dass das Verhältnis zwischen Phänomenologie und Soziologie kein einfaches ist, darüber herrscht im Wissenschaftsdiskurs weitgehend Einigkeit (vgl. z. B. [12] 2008). Einer der häufig angeführten Gründe ist der, dass die Perspektiven, Methoden und Zielsetzungen viel zu unterschiedlich sind, um sie analytisch kombinieren zu können.

In diesem Beitrag möchte ich dieses Verhältnis erneut reflektieren. Anlass dafür ist, dass ich im Rahmen eines größeren Forschungsprojektes ([29] 2021) bemerkt habe, dass Hannah Arendts Ausarbeitungen zur Phänomenologie der Pluralität (das Politische) analytische Blickperspektiven für die ethnomethodologische Gesprächsanalyse (vgl. exemplarisch [8] 1981) offerieren, die insbesondere für die mikroanalytische Betrachtung von Aushandlungsinteraktionen gewinnbringend sein können. Für diese Zwecke ausgerechnet Arendts Politikbegriff zu bemühen, dürfte ein neues Unterfangen sein. Denn im Gegensatz zur Ethnomethodologie Garfinkels war Arendt bekanntermaßen für die Gesprächs- und Konversationsanalyse keineswegs schulbildend. Hinzu kommt, dass allein schon der Begriff des Politischen für Missverständnisse sorgen kann und daher weiterführender Erläuterungen bedarf.

Die Frage, ob beide Ansätze methodisch und analytisch für die Untersuchung von Interaktionsdaten zu kombinieren wären, erschließt sich meines Erachtens unter zwei Voraussetzungen: Die erste lautet, dass die philosophischen, phänomenologischen und soziologischen Grundlagen der Gesprächsanalyse systematisch expliziert werden müssen. Die zweite ist die, dass Arendts Begriff des Politischen und gleichermaßen auch zur Pluralität zumindest in seinen Grundzügen phänomenologisch ausgedeutet werden sollte, um ihre ganz eigene Konzeption zugänglich zu machen.

Eine solche Auslegung liegt bereits in sehr expliziter Form vor (vgl. [32] 2020, 2018, 2012). Diesen Referenzpublikationen kommen neben einigen anderen sowie den bereits erwähnten Originalwerken vorliegend größte Bedeutung zu. Sie werden daher an verschiedenen Stellen dankbar aufgegriffen.

Um das Potential der Lebenswelttheorie für die soziologische Interpretation Garfinkels darzulegen, gehe ich argumentativ wie folgt vor: Zunächst werde ich die auf Alfred Schütz zurückgehenden Thesen zu den Lebensweltanalysen aus der editierten Monographie Strukturen der Lebenswelt ([42] 2017) skizzieren. Nach einer Verortung und thematischen Einordnung des Lebensweltbegriffs (Band I) liegt die Akzentsetzung auf den Ausarbeitungen zur Aufschichtung der Lebenswelt (Band II) sowie zur Relevanz und Typik (Band III). Darauf folgt eine Auseinandersetzung mit der Handlungstheorie bei Schütz (Band V). Abschließend werde ich ausgewählte Aspekte zur Konstitutionsanalyse der Alltagswelt herausgreifen (Kapitel VI). Hierbei handelt es sich um einige analytische Begriffe, anhand derer die empirisch-pragmatische Ausrichtung des späten Schütz dargelegt werden soll. Diese Auswahl ist darin begründet, dass bereits anhand dieser Kapitelauszüge ein Erklärungsansatz zum Problem der sozialen Ordnung und zur Sinnkonstitution auszumachen ist. Dieses Paradigma wurde in der Folge von Harold Garfinkel aus einem dezidiert empirischen Interesse aufgegriffen und für die soziologische Analyse weiterentwickelt. Die Konzeption Garfinkels werde ich in ihren Grundzügen erläutern, um daraufhin die Bezugskonzepte für die Gesprächs- bzw. Konversationsanalyse aufzuzeigen.

Der mittlere und wichtigste Teil wirft das Schlaglicht auf den Politikbegriff Arendts und legt dessen konstitutiven Elemente frei.

2 Phänomenologische Soziologie als Grundlegung für die Sozio- und Gesprächslinguistik

Grundlegend für die Gesprächsanalyse ist die Ethnomethodologie Harold Garfinkels, welche bereits phänomenologische und soziologische Zugänge kombiniert. Von zentraler Bedeutung für [15] (1917–2011) sind die phänomenologischen Lebensweltanalysen von Alfred [42] (1899–1959). Schütz orientiert sich darin an der Phänomenologie Edmund [21] (1859–1938), dessen Schülerin u. a. Hannah [3] (1906–1975) war. Den soziologischen Blickwinkel bezieht Schütz aus der verstehenden Soziologie Max [51] (1864–1920). Beide Perspektiven lassen sich grosso modo wie folgt charakterisieren: In philosophisch phänomenologischen Ansätzen geht es „stets um die Analyse eines Weltverhältnisses, das sich durch Erfahrung und Interaktion mit anderen konstituiert und um die Sinnbildung, die dadurch stattfindet" (Loidoldt 2020:168).

Die Gegenstandbestimmung der verstehenden Soziologie ist hingegen

eine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen erklären will. ‚Handeln' soll dabei ein menschliches Verhalten [...] heißen, wenn und insofern als der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden. ‚Soziales' Handeln aber soll ein solches Handeln heißen, welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist (Weber 1980: 1, [Hervorhebung im Original]).

Bei allen Unterschieden gibt es mindestens folgende gemeinsame Schnittmenge, wobei die Auflistung keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt:

  • (1) Beide Forschungsrichtungen erkennen die Bedeutung sprachlich-kommunikativer und sozialer Handlungen an, durch die sich subjektiver Sinn und subjektive Weltsichten erst herausbilden und auch erfahren werden können. Der Kernauftrag der phänomenologischen Soziologie ist es, Sinnzuschreibungen zu rekonstruieren. Sinnzuschreibungen lassen sich als plurale Deutungen sozialer Wirklichkeit fassen, d. h. „als ein Verstehen des alltäglich bereits vollzogenen" ([14] 2013:106).
  • (2) Der Sinn sozialen Handelns bezieht maßgeblich auch andere Agierende ein. Obschon sich Individuen in ihren Handlungen von konkreten Absichten, Plänen usw. leiten lassen, spielen das Beziehungsgeflecht zu anderen, die gegenseitigen Abhängigkeiten und die Begleitumstände eine zentrale Rolle für die Realisation der Handlung. Handeln lässt sich so verstanden also als „gemeinsames Geschäft" fassen, das neben der individuellen auch immer die kollektive Leistung in Rechnung stellt (vgl. z. B. Hill 2002: 11).
  • (3) Handlungen sind maßgeblich durch die situativen Bedingungen, in die die Beteiligten „eingelassen" sind, determiniert. Ein daraus abzuleitender Grundsatz ist, dass die Interagierenden den Situationskontext des sozialen Geschehens in Betracht ziehen müssen, wollen sie sprachliche Handlungen und kommunikative Praktiken verstehen und nachvollziehen.

Die Leitfragen, die die Rezeption in Bezug auf Husserl, Schütz und Garfinkel lenken sollen, lauten wie folgt: Was ist unter Sinnkonstitution zu verstehen? Inwieweit orientiert sich Schütz hierin an Husserl? Welche Komponenten der phänomenologischen Lebensweltanalyse greift Garfinkel in seinem ethnomethodologischen Ansatz auf? Und wie entfaltet er daraus sein eigenständiges handlungspraktisches Konzept mit Blick auf die soziologische Grundfrage, wie soziale Ordnung möglich ist?

2.1 Philosophische Vorläufer – Husserls Lebensweltbegriff

Alfred Schütz nutzt den auf Edmund Husserl zurückgehenden Lebensweltbegriff für die Theoriebildung und Methode seiner phänomenologischen Sozialtheorie. Allerdings definiert Husserl den Begriff nicht explizit und verwendet ihn auch nicht einheitlich. Was es mit diesem Konzept auf sich hat, erschließt sich in seinem unvollendeten Spätwerk Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie ([21] 1973 [1954]). Kerngegenstand dieser Schrift ist Husserls Kritik an den modernen positiven Wissenschaften, die die menschlichen Fragen nach dem Sinn des Lebens außer Acht ließen und ausschließlich danach trachteten, Welt objektivistisch, also subjektunabhängig zu erfassen (vgl. [35] 1993:123). Diese Loslösung der (Natur-)wissenschaft von der vor- und außerwissenschaftlichen Welt und ihren Erfahrungsspielräumen bedinge eine radikale „Lebenskrisis des europäischen Menschentums" (Krisis, 1). Husserl fordert infolgedessen eine philosophische Reflexion dieser bloßen Tatsachenwissenschaft, die sich der Lebenswissenschaft der doxa als natürliche Einstellung nicht entziehen könne (vgl. Krisis, 127). Diesem Verständnis zufolge sind soziale und gesellschaftliche Wirklichkeitsannahmen selbstverständliche Komponenten des menschlichen Bewusstseins. In diese Annahmen von Wirklichkeit fließen jedoch unzählige frühere Welterfahrungen, kulturelles Wissen, symbolische Bedeutungen u.v.m. ein. Alle diese fundamentalen Ressourcen sind wiederum nicht denkbar ohne Anbindung an die subjektive Perspektive und an die gemeinsam geteilte Welterfahrung:

Vorgegeben ist sie [= die Lebenswelt] uns allen natürlich, als Personen im Horizont unserer Mitmenschheit, also in jedem aktuellen Konnex mit Anderen, als ,die' Welt, die allgemeinsame. So ist sie [...] der ständige Geltungsboden, eine stets bereite Quelle von Selbstverständlichkei-ten, die wir, ob als praktische Menschen oder als Wissenschaftler, ohne weiteres in Anspruch nehmen (Krisis, 124).

Es geht Husserl um eine vortheoretische Welt, um „das Korrelat eines Gesamthorizonts sinnstiftender Subjekte" (Prechtl und Burkhard 2008: 330). Dieser Welt ist eine vorlogische Geltung zu eigen, der wir uns durch unser Denken, Handeln und Wirken gar nicht entziehen können. Zentral ist hier also der Gedanke, dass sich Menschen in einer selbstverständlichen Einstellung zur Welt befinden, allerdings ohne es zu wissen. Erfahrungskorrelate und die Spielräume, die sie bieten, stehen allen zur Verfügung. Sie sind folglich auch der Nährboden für die Naturwissenschaft. Sieht man also näher hin, dann findet wissenschaftliche Beobachtung keineswegs im luftleeren Raum statt. Sie ist nicht losgelöst von wissenschaftlichen Messungen und Erkenntnissen, die ihnen vorangegangen sind. Insofern ist auch objektiv-wissenschaftliche Praxis „lebensweltliche Anschauung" (Krisis, 132). Die Trennung zwischen Alltags- und wissenschaftlicher Erkenntnis ist damit hinfällig, da das (natur-)wissenschaftliche Ideal der Objektivität keine abstrakte und in sich geschlossene Erkenntniswelt ist. Vielmehr ist jede Forschung an subjektive Sinnbezüge und Anschauung zurückgebunden (vgl. [35] 1993:123).

2.2 Lebenswelt in der phänomenologischen Soziologie von Schütz

Die Dichotomie zwischen Lebenswelt und Wissenschaft kommt auf diesem Hintergrund auch im phänomenologisch-soziologischen Kontext zum Tragen. Für die Gegenstandsbestimmung und Methode seiner phänomenologischen Sozialtheorie stützt sich Schütz auf den Lebensweltbegriff. Der Kernargumentation Husserls folgend fordert er: „Wissenschaft, die menschliche Belange behandeln will und darauf zielt, die menschliche Wirklichkeit zu begreifen, muss auf jene lebensweltliche Deutung gründen, welche die Menschen, die dieser Lebenswelt innewohnen, selbst vornehmen" ([14] 2020: 29). Doch im Gegensatz zu Husserls Bemühungen, die Philosophie mit Hilfe der Phänomenologie erkenntnistheoretisch zu fundieren, ist das zentrale Motiv bei Schütz ein anderes: Sein Fokus gilt der Leitfrage „wie die intersubjektive Lebenswelt aufgebaut ist und in welchen allgemeinen Begriffen sie sich beschreiben lässt" ([44] 2007: 107).

Sein Konzept der alltäglichen Lebenswelt modelliert Schütz wie folgt: Der Alltag bzw. die Welt des Jedermann ist ein Wirklichkeitsbereich, „den der wache und normale Erwachsene in der Einstellung des gesunden Menschenverstandes als schlicht gegeben vorfindet" (Bd. I, 29). Das Produkt dieser selbstverständlichen „Gegebenheit" ist ein Wissensvorrat (historisch, kulturell, religiös usw.), der aus Deutungen und Erfahrungen sozialer Gruppen hervorgegangen ist. Auf diesen intersubjektiven Interpretationsrahmen kann sich die/der Einzelne stützen. Schütz zufolge muss die soziale Welt jedoch weiter ausgelegt und bis zu einem gewissen Grad verstanden werden, um sich in ihr orientieren und „um in ihr handeln und auf sie wirken zu können" (Bd. I, 33).

Dass diese Auslegung von Welt funktionieren kann und dass sie überhaupt möglich ist, rührt einzig daher, dass in der Welt Mitmenschen koexistieren. Sie nehmen deswegen eine Sonderstellung im Gefüge der Lebenswelt ein (vgl. [35] 1993:125), weil sie mit einem Bewusstsein ausgestattet sind und „als Menschen ‚wie ich' erscheinen" (Bd. I, 44). Diese Überstimmung schlägt sich auch im subjektiven Handeln, in Sinnbezügen und Deutungen nieder. Schütz betont: „In der natürlichen Einstellung ‚wissen' wir im Normalfall, was der Andere tut, warum er es jetzt tut und wieso er es jetzt und unter diesen Umständen tut" (Bd. I, 44). Unter der Voraussetzung der natürlichen Einstellung, d. h. mit ihr als Fundament, kann ich also andere Mitmenschen in der Sozialwelt als mir gleich erfahren und Sinn generieren (Abschnitt 2.4). Zur Klärung hinzuzufügen ist, dass Schütz mit Erfahrung „eine bereits abgelaufene Form des Erlebens bezeichnet, die durch reflexive Zuwendung als Einheit aus dem unaufhörlichen Strom des Bewusstseins ausgegrenzt wurde" ([44] 2007: 108). Erst, wenn wir also rückblickend innehalten und auf bestimmte Erlebnisabschnitte blicken, materialisiert sich Erfahrung.

Jede neue individuelle oder kollektive Erfahrung fügt sich als Bewusstseinsleistung in bereits vorhandene Deutungsschemata ein und erzeugt erst dadurch subjektiven Sinn (Bd. I, 33–34). Sinn zu erleben ist demnach eine Verknüpfungsleistung des Bewusstseins, indem aktuelle mit vergangenen individuellen Erfahrungen oder gesellschaftlichen Wissensbeständen verbunden werden. Die Wirklichkeitsordnung bzw. Wirklichkeit der Alltagswelt konstituiert sich aus dieser Verknüpfung zwischen dem Bezugsschema der verfügbaren Wissensbestände (der Sozial- und Kulturwelt) und den nachfolgenden Auslegungen durch handelnde Subjekte. Das historische und gesellschaftliche Fundament an Wissen trägt indes bereits Sinnstrukturen in sich in Form sedimentierter Erfahrungen.

2.3 Methode der Lebensweltanalyse

Knapp zusammengefasst beruht die Selbstverständlichkeit der sozialen Wirklichkeit auf drei Komponenten:

  • (1) einem Wissensvorrat, der als Interpretationsrahmen für die Ausdeutung von Welt vorliegt,
  • (2) einem Vorrat an früheren Erfahrungen (von Mitmenschen, Lehrpersonal, Eltern usw.) auf das Menschen bauen und vertrauen können,
  • (3) Typisierungen (z. B. die Typenhaftigkeit von Bäumen oder Steinen in der Natur), die uns in der Lebenswelt begegnen.

Aus der Beobachtung, dass Individuen bereits im alltäglichen Diskurs auf Generalsierungen, Abstraktionen oder Idealisierungen über die Konstanz der Lebenswelt zurückgreifen, folgt für Schütz die Annahme einer strukturellen Übereinstimmung zwischen alltäglichem und wissenschaftlichem Verstehen:

Die Konstruktionen, die der Sozialwissenschaftler benutzt, sind daher sozusagen Konstruktionen zweiten Grades: es sind Konstruktionen jener Konstruktionen, die im Sozialfeld von den Handelnden gebildet werden, deren Verhalten der Wissenschaftler beobachtet und in Übereinstimmung mit den Verfahrensregeln seiner Wissenschaft zu erklären versucht (Schütz 1971 a: 6–7).

Daraus resultieren wiederum mehrere methodische Postulate. Ich möchte im vorliegenden Diskussionszusammenhang lediglich zwei anführen, die für Garfinkels spätere Ethnomethodologie zentrale Anknüpfungspunkte bieten: Erstens, beansprucht das Postulat der subjektiven Interpretation, dass sich die sozialwissenschaftliche Analyse auf den subjektiv erzeugten Handlungssinn und gleichermaßen auf die situative Rahmung dessen rückbeziehen muss (eben genauso, wie es auch für die/den Handelnde(n) situativ relevant ist). Zweitens verlangt das Postulat der Adäquanz, dass die sozialwissenschaftlichen Konstruktionen mit jenen der Alltagshandelnden kohärent sind, d. h., sie müssen hinreichend zu verstehen sein (vgl. z. B. [14] 2013: 108).

2.4 Soziale Struktur der alltäglichen Lebenswelt

Dass die alltägliche Lebenswelt „von vorneherein intersubjektiv" (Bd. II, 98) ist, wurde eingangs schon erörtert. Allerdings ergibt sich daraus das Problem, dass es eine „identische Erfahrbarkeit der Gegenstände der Lebenswelt" (Bd. II, 98), je nach Standort des Subjekts, nicht geben kann. Infolgedessen müssen auch Auffassungen und Auslegungen unterschiedlich ausfallen (beispielsweise allein schon aufgrund einer anderen Biographie, abweichenden Wertvorstellungen oder Relevanzsystemen). Diese Diskrepanz könne Schütz zufolge durch zwei Idealisierungen bzw. pragmatisch motivierte Grundkonstruktionen überwunden werden: Erstens durch die Idealisierung der Vertauschbarkeit der Standpunkte. Sie unterstellt, dass mein Gegenüber die Dinge, würde er an meiner Stelle stehen, genauso sehen würde wie ich. Umgekehrt würde ich, von seinem Standpunkt aus, die Welt ebenso sehen wie er. Die zweite Idealisierung der Kongruenz der Relevanzsysteme ist von der Annahme getragen, dass biographische Auslegungen und auch Auffassungen der Welt für das Handeln und die gegenseitige Verständigung nicht von Belang sind. Folglich handeln und verständigen wir uns so, als seien unsere Erfahrungen und Auslegungen identisch. Beide Idealisierungen fasst Schütz als Generalthese der wechselseitigen Perspektiven zusammen. Einzig durch sie sind Verstehen und Verständigung in der geteilten Alltagswelt möglich (vgl. Bd. II, 100). Der Begriff des Verstehens – das ist wichtig festzuhalten – meint keinesfalls ein vollumfängliches Verstehen. Vielmehr trägt die Generalthese der Einsicht Rechnung, dass zur Aufschlüsselung nur das eigene Relevanzsystem zur Verfügung steht und dass deswegen lediglich eine relative Annäherung an die zu verstehende Äußerung möglich ist (zum erkenntnistheoretischen Problem des Fremdverstehens vgl. z. B. [28] 2009: o. S.).

Die Art und Weise, wie wir andere erfahren, ist von unterschiedlicher Qualität, je nach Erlebnisnähe oder -intensität. Um dies deutlich zu machen, fächert Schütz die Strukturen für die Sozialwelt der Erfahrung in die Konstituenten Umwelt (Mitmenschen), Mitwelt (Zeitgenossen), Vorwelt (Menschen vergangener Epochen) und Nachwelt (Menschen zukünftiger Generationen) auf.

Die Erfahrungsdimension der sozialen Umwelt setzt voraus, dass die (an der Erfahrung) beteiligten Mitmenschen einen spezifischen Ausschnitt der sozialen Welt sowohl räumlich als auch zeitlich unmittelbar teilen (Bd. II, 101). Unter dieser Prämisse konstituiert sich eine „face-to-face Situation" und es dominiert zugleich eine spezifische Beziehungsdimension, die Schütz Du-Einstellung nennt: Diese Form der Zuwendung kann jedoch einzig dadurch entstehen, dass „ich etwas in der Welt in meiner Reichweite als ‚mir gleich' erfahre" (Bd. II, 102; vgl. auch [4] 2013: 124). Damit ist jedoch nicht gemeint, dass gemeinsame Perspektiven geteilt werden. Akzentuiert wird hier vielmehr, dass die Interaktionspartner/innen zeitlich und räumlich unmittelbar präsent sind. Der soziale Kontakt bzw. die Aufmerksamkeitszuwendung ist allerdings noch einseitig, wie etwa im folgenden Szenario: Eine Person sieht an einem Bahnsteig eine andere ihr vertraute Person und grüßt diese daraufhin freundlich. Der/die Bekannte erwidert den Gruß jedoch nicht, weil er/sie just in diesem Moment anderen Gedanken nachhängt und deswegen die ihm/ihr zugedachte Begrüßung gar nicht wahrgenommen hat.

Verläuft die Du-Einstellung wiederum wechselseitig, dann konstituiert sich eine Wir-Beziehung. Die besondere Intensität der Zugewandtheit und die Kongruenz zwischen Selbst- und Fremderfahrung (vgl. Bd. II, 108), die diese Perspektive eröffnet, charakterisiert beispielsweise Auer wie folgt:

Obwohl mir auch in der Wir-Beziehung nur mein eigenes Bewusstsein subjektiv voll zugängig ist, habe ich – aufgrund der zeitlichen Synchronisierung in der face-to-face-Interaktion – nirgends sonst so gut die Möglichkeit, durch Beobachtung des Verhaltens meines Interaktionspartners mittelbar auch seinen Erlebnisablauf zu erschließen. Außerdem erfahre ich, dass er mein Verhalten ebenso deutet und in seinem Verhalten berücksichtigt (Auer 2013: 124, [Hervorhebung im Original]).

Erst hier bildet sich also Intersubjektivität aus. Allerdings muss sie in der Begegnung kontinuierlich bestätigt und aufrechterhalten werden (vgl. Bd. II, 109). Schütz hebt daher an mehreren Stellen hervor, dass die Wir-Beziehung auf einen einheitlichen Erlebnisablauf und das Eingebundensein in eine Kultur- und Sozialwelt der Interagierenden angewiesen ist: „Die Lebenswelt ist weder meine private Welt noch deine private Welt, auch nicht die meine und die deine addiert, sondern die Welt unserer gemeinsamen Erfahrung" (Bd. II, 109, [Hervorhebung im Original]).

Die Mitwelt beschreibt eine Sphäre, die nicht unmittelbar erlebt wird (die also nicht durch eine räumliche und zeitliche Gemeinsamkeit bzw. aktuelle Reichweite konstituiert ist). Aus diesem Grund kann die Lebendigkeit der Wir-Beziehung in dieser Sozialkonstellation nicht mehr aufrechterhalten werden. An die Stelle von Mitmenschen treten jetzt lediglich Zeitgenossen, wobei die verlorengegangene Wir-Beziehung wiederhergestellt werden kann. Kennzeichnend für die soziale Beziehung mit Zeitgenossen ist die Ihr-Beziehung. Mitglieder dieser Zielgruppe sind daher keineswegs bestimmte Personen, sondern lediglich Typen (wie etwa typische Richter/innen oder Angestellte bei der Post, bei der Polizei usw.). Die Zugehörigkeit zum jeweiligen Typ erlaubt wiederum Zuschreibungen, also Vorhersagen eines prototypischen Verhaltens (siehe Bd. II, 120).

Zeitgenossen begegne ich nicht mehr in vis-a-vis-Situationen. Die Unmittelbarkeit der Begegnung zwischen zwei Personen fällt beispielsweise weg, wenn eine der beiden in eine entfernte Stadt umgezogen ist. Da es sich bei dieser Sozialkonstellation lediglich um mittelbare Erfahrungen der/des anderen handelt, verläuft der Kontakt weniger intensiv und weist höhere Anonymisierungsgrade auf als in Wir-Beziehungen der Fall. So verstanden handelt es sich in der Dimension der Mitwelt um Erfahrungen aus zweiter Hand. Prinzipiell können jedoch Wir-Beziehungen ebenso wie Ihr-Beziehungen hinsichtlich ihrer Unmittelbarkeit, Erlebnistiefe und Intensität variieren.

In der Vorwelt werden die ehemals aktuellen Erfahrungen zu abgeschlossenen Geschichten und damit zu vergangener sozialer Wirklichkeit. Menschen, die in dieser Welt eine Rolle spielen, gehören vergangenen Epochen an. Aus diesem Grund wird aus unmittelbarer oder mittelbarer Erfahrung jetzt erinnerte, lediglich indirekte Erfahrung. Selbstverständlich können Erfahrungen aber an die nächste Generation weitergegeben werden, sofern es sich um ehemals unmittelbar erlebte Erfahrungen handelt. Schütz plausibilisiert dies am Beispiel von Kindheitserinnerungen eines Elternteils (vgl. Bd. II, 135).

Die Nachwelt bezeichnet die Welt zukünftiger Generationen. Aufgrund der subjektiven Erfahrungen der Generationen ist es hier lediglich möglich, Annahmen bezüglich zukünftiger Entwicklungen zu formulieren (z. B., dass ein Kind in dieser zukünftigen Welt weiterleben wird).

2.5 Strukturierung der Lebenswelt durch Relevanzen

„Alle Erfahrungen und alle Handlungen gründen in Relevanzstrukturen" (Bd. III, 253) schreibt Schütz zu Beginn seiner Erörterung zur Rolle der Relevanz bezüglich der Konstitution von Handlungssituationen. Im Folgenden differenziert er drei Relevanzdimensionen, die jedoch miteinander verknüpft sind:

  • (1) Thematische Relevanz (Womit ich mich, ausgehend von meiner Motivation – freiwillig oder weil es mir „auferlegt" wurde – befasse),
  • (2) Interpretationsrelevanz (Was ich zur Lösung eines thematischen Problems als relevant erachte) und
  • (3) Motivationsrelevanz (Was für mich auf Basis meiner Bedürfnisse, Interessen, Beweggründe usw. von Belang ist, um mich in einer Situation orientieren zu können). Schütz weist darauf hin, dass Handeln und Entwerfen motivgeleitet sind (vgl. [14] 2013: 111). Die Motive, die in der Motivationsrelevanz zum Ausdruck kommen, weisen eine zukünftige und eine vergangene Zeitperspektive im Hinblick auf Handlungsentwurf bzw. Handlungsziel und Handlungsdurchführung auf: Ich verfolge mit meinem Handeln ein bestimmtes Ziel („Um-zu-Motive") oder meine Motive für das Handeln sind in bestimmten Erfahrungen begründet („Weil-Motive") (vgl. Bd. III, 286–294; für eine tiefergehende Diskussion zur zeitlichen Struktur von Handlungen siehe auch [4] 2013: 128–129).

Die Theorie der Lebenswelt umfasst, abgesehen von der alltäglichen Wirklichkeit, noch andere Modi der Welterfahrung, die ebenfalls in Husserls Lebensweltbegriff enthalten und an dieser Stelle aus Gründen der Vollständigkeit zumindest erwähnt werden sollen: Dazu zählen beispielsweise Erfahrungsdimensionen wie die Welt des Spiels, der Fantasie, des Traums, der Kunst usw. (vgl. [14] 2013: 106). Schütz geht also in seiner Sozialtheorie nicht von der einen singulären Wirklichkeit aus, sondern von vielfältigen Variationen. Alle diese Varianten beschreibt er mit dem Begriff der Sinnprovinzen und stellt damit heraus, dass es sich um Erfahrungswirklichkeiten handelt, die durch das Bewusstsein konstituiert werden (vgl. [44] 2007: 107).

2.5.1 Anmerkungen zur Handlungstheorie bei Schütz

Die phänomenologische Grundlegung der Soziologie durch Schütz hält zwar inspirierende Denkanstöße bereit, geht aber im Hinblick auf die Methoden anders vor als „in der analytischen Handlungstheorie, die sich im Wesentlichen auf die Analyse der alltäglichen Verwendung von Sprache stützt. Wie in der vorangegangenen Diskussion mehrfach angesprochen, steht die Phänomenologie in der Tradition der Bewusstseinsphilosophie, deren Medium und Methode nicht die Sprache, sondern das Bewusstsein ist" ([19] 2020: 2). Entsprechend fasst Schütz Handeln als Bewusstseinsleistung und nicht als „objektive Kategorie der natürlichen Welt" (Bd. V, 454). Deswegen lässt sich menschliches Handeln in der sozialen Welt nicht am Leitfaden der Sprache, d. h. am kommunikativen Geschehen selbst, „ablesen". Vielmehr ist es ein Prozess der wesentlich im Inneren stattfindet.

Doch wie wird das Handeln dann anderen Menschen zugänglich? Wie wird aus innerem Handeln soziales Handeln? Und wie wird soziale Welt konstituiert? Schütz charakterisiert Handeln zunächst vom Standpunkt des Handelnden aus als „subjektiv vorentworfenen Erfahrungsablauf" (Bd. V, 455). Damit ist Handeln erstens gleichzusetzen mit Erfahrung, zweitens ist es im eigenen Bewusstsein verankert und drittens ist es anderen Menschen nicht unmittelbar zugänglich. Dennoch kann Handeln Schütz zufolge in Form des Verhaltens (der Verkörperung von Handeln) vermittelt werden und ist dadurch für andere von außen beobachtbar (Bd. V, 454). Handeln und Verhalten unterscheiden sich allerdings dahingehend, dass dem Handeln ein Handlungsentwurf und ein Handlungsziel unterliegt: „Im Entwurf wird das Handlungsziel in der Vorstellung vorweggenommen; auf dieses Ziel beziehen sich die einzelnen Handlungsschritte" (Bd. V, 471–472) (Dies entspricht den in Abschnitt 2.5 knapp umrissenen Um-zu-Motiven). Schütz modelliert Handeln also durch eine Zeitstruktur, indem er mit dem Entwurf eine zukünftige Erfahrung vorwegnimmt. Zusätzlich ist Handlung auf die Zukunft gerichtet, in die es uns schrittweise führt. Ein weiterer Unterschied zum Verhalten ist, dass der/die Handelnde mit seinem/ihrem Handeln einen subjektiven Sinn assoziiert (vgl. [19] 2020: 7).

Handeln bzw. Erfahrung ist Schütz zufolge hingegen dann soziales Handeln, wenn es auf andere bezogen ist. Das menschliche Tun allein genügt allerdings nicht. Entscheidend ist, dass das eigene Verhalten absichtlich und sinnhaft am Verhalten der anderen ausgerichtet ist. Es muss also eine Intention mit im Spiel sein (vgl. [19] 2020: 7). Aus der Perspektive der anderen ist Handeln wiederum unter der Voraussetzung zu rekonstruieren, dass „eine typische Korrelation zwischen Entwurf und Verhalten unterstellt werden kann" ([4] 2013: 126–127). Durch „Regeln typischen, beobachtbaren Verhaltensabläufen [...]" (Bd. V, 455), die im Wissensvorrat abgespeichert sind, lassen sich Handlungstypen und Verhaltensnormen einander zuordnen. Und aufgrund des Grundsatzes der Reziprozität der Perspektiven „‚sieht' der Mensch, daß Andere ebenso handeln wie er selbst wie er auch ‚sieht', dass er von Anderen als Andere behandelt wird" (Bd. V, 455). Festzuhalten bleibt hier vorerst, dass soziales Handeln damit maßgeblich auf die Deutung der/des anderen angewiesen ist. Dafür bedarf es etablierter Deutungsschemata, die über das Handeln und der Sinnsetzung des Du Aufschluss geben können. Die spezifischen Anforderungen, die Handlungen als soziale Handlungen charakterisieren, lassen sich mit [19] (2020: 8) wie folgt zusammenfassen:

Erst wenn die Menschen ihr Handeln aneinander orientieren, ist soziales Handeln gegeben. Die Orientierung, die Ausrichtung, die Intention, der (subjektive) Sinn: dies alles sind letztlich synonyme Begriffe, die darauf verweisen, dass zum Handlungsbegriff eine ‚innere' Bezugnahme gehört, die im Falle des sozialen Handelns auf andere Menschen gerichtet ist.

An späterer Stelle erklärt Schütz, dass es allerdings eine Variante des Handelns gibt, die nicht am Verhalten erkennbar ist: das Denken (Bd. V, 458). Durch Denken allein ist es nicht möglich, in die Welt einzugreifen, wohl aber durch das Wirken. Schütz fährt fort, dass solche Wirkungen durch den körperlichen Vollzug manifestiert werden, und zwar nicht durch das bloße Dasein des Körpers, sondern durch Sprechen, Bewegung, Haltung u.v.m.

2.5.2 Die Sprach-, Symbol- und Zeichentheorie bei Schütz

Schütz hat im Rahmen seiner sprachsoziologischen Vorlesungen, etwa zur Sprachentwicklung oder zum Verhältnis zwischen Sprache und Welt, Erkenntnisse verschiedener Forschungsdisziplinen integriert. Fokussiert wurde beispielsweise die Bedeutung des situativen Kontextes für das Sprechen, die der Ethnologe Bronislaw Malinowski ins Feld führte. Auch wenn die Diskussion um die Rolle der Sprache hier nicht in voller Tragweite ausgebreitet werden kann, sollen die grundlegenden Positionen zur Symbol- und Sprachentheorie und ihre Bedeutung für Schütz' Mundanphänomenologie in einem komprimierten Überblick skizziert werden. Die von Schütz angestellten sprachsoziologischen Überlegungen sind von Thomas Luckmann v. a. in Band VI der Strukturen eingearbeitet worden:

Zentral für Schütz ist der Leitgedanke, dass die soziale Welt durch das gemeinsame Handeln und Kommunizieren (einschließlich Zeichen und Symbolen) erzeugt wird. Wie der Begriff Erfahrung bei Schütz zu verstehen ist, wurde bereits besprochen (Abschnitt 2.4). Erfahrungswirklichkeiten sind Sinnprovinzen. Diese entstehen dadurch, dass wir eine Bewusstseinsleistung vollziehen müssen und deswegen sind Sinnprovinzen auf solche Leistungen zurückzuführen. Was aber geschieht, wenn das Hier und Jetzt nicht vollständig wahrnehmbar ist? Welche Optionen hat das menschliche Bewusstsein, wenn Sinndaten nicht alles umfänglich abbilden und erfassen können?

Schütz entfaltet hierfür das Prinzip der Appräsentation. In Anlehnung an Husserl versteht er darunter „die vorprädikative Fähigkeit des Bewusstseins zur Paarung zweier Elemente, vom dem nur das eine Element unmittelbar in der Erfahrung gegeben ist. Die andere, nicht vorhandene Komponente fügt das Bewusstsein in einer ‚passiven Synthesis' hinzu" ([44] 2007: 108). Diese Assoziationsleistung charakterisiert Schütz als Mitvergegenwärtigung, als etwas, das in der Wahrnehmung mitgegeben ist, ohne dass es anschaulich ist (vgl. Bd. VI, 635). Ein Beispiel: Aus einer Teilansicht eines Hauses, das lediglich in Gestalt einer Häuserwand sichtbar ist, holt unsere Wahrnehmung die nicht sichtbaren Bestandteile des Hauses herbei und rekonstruiert es als Ganzes.

Anders als bei Husserl impliziert Appräsentation v. a. für den späten Schütz jedoch auch eine pragmatische Dimension. Denn er betont, dass Ordnung „im Handeln realisiert, reproduziert und verändert" ([27] et al. 2003: 21–22) wird. Es ist an dieser Stelle also wichtig hervorzuheben, dass Menschen in der intersubjektiven Begegnung und Kommunikation mit anderen auf die Lebenswelt des Alltags einwirken und dadurch Realitäten konstituieren können. Ausschlaggebend für diese intersubjektive Konstruktionsleistung sind Relevanzen (Abschnitt 2.5) durch die die Ordnung der Lebenswelt vermittels verschiedener Appräsentationsverweise vollzogen wird. Deswegen sind Appräsentationen an verschiedene Zeichentypen gekoppelt. Eine weitere Besonderheit, die damit in Zusammenhang steht, ist, dass sie fraglos gegeben sind. Diese fraglose Gültigkeit rührt daher, dass Appräsentationen Gegenstand und Resultat sozialer Konstruktionsleistungen sind und sich somit auf eine breite Anerkennung berufen. Zudem ermöglichen sie es, Transzendenzen zu überwinden (vgl. [27] et al. 2003: 26). An dieser Stelle bedarf es einer kurzen Erläuterung zur Typologie der Transzendenzen, mit der dieses Kapitel schließt.

2.5.3 Theorie der Transzendenzen

Die Ausgangsfrage, die Schütz zu seiner Theorie der Transzendenzen führt, ist an ein erkenntnistheoretisches Problem gebunden: Wenn es sich bei der Lebenswelt nämlich um mannigfache Wirklichkeiten handelt (Abschnitt 2.5), dann stellt sich die Frage, wie „die einzelnen Sinnprovinzen miteinander in Verbindung stehen bzw. wie die Einheit des Erfahrungszusammenhangs gewahrt, bleibt" ([44] 2007: 108). Schütz' Antwort lautet, dass jeder und jede um die Transzendenzen der Welt und um die „vielfältige Begrenztheit der eigenen Lage" (Bd. VI, 590) in ihr wisse. Es handelt sich um Erfahrungsgrenzen im Hinblick auf die Dimensionen Raum und Zeit, die sich außerhalb der Reichweite und damit hinter der Erfahrung befinden. Es gebe jedoch verschiedene Mittel, wie etwa Zeichen und Symbole, durch die diese Grenzen des fremden Bewusstseins überbrückt werden können. Zur Verdeutlichung differenziert er verschiedene Varianten von Transzendenzen:

  • (1) Kleine Transzendenzen überschreiten die Grenzen der Erfahrung im Hinblick auf Raum und Zeit. Dazu zählen Anzeichen und Merkzeichen: Ein Anzeichen ist „ein typischer erfahrbarer Zusammenhang zwischen Ereignis a und Ereignis b, so dass das Eintreten von Beispiel a auf die Chance des Auftretens von b hinweist [...]" ([27] et al. 2003: 19). So ist etwa die Art der Grasbewegung ein Anzeichen von starkem Wind. Ein Knoten im Taschentuch erweist sich wiederum als handlungsrelevantes Erkennungsmerkmal. In diesem Fall handelt es sich um ein Merkzeichen. Anzeichen und Merkzeichen unterstützen uns darin, räumliche und zeitliche Transzendenzen zu überwinden.
  • (2) Mittlere Transzendenzen beziehen sich auf die intersubjektive Welt. In ihr ist das, was erfahren werden kann, nur mittelbar zugänglich: Mitmenschen, die sich beispielsweise in meiner aktuellen Reichweite befinden, kann ich zwar sehen, jedoch geben lediglich ihre Äußerungen ein wenig Aufschluss über ihre Gedanken.
  • (3) Große Transzendenzen können in der Alltagswelt nicht erfahren werden. Schlaf und Traum sind Beispiele hierfür. Die Erfahrung stößt im Schlaf an ihre Grenzen, weil „die Welt in meiner Reichweite, in der ich mich einigermaßen zuhause fühle, ausblenden wird, aber nicht für immer" (Bd. VI; 613).

In diesem kurzen Streifzug habe ich lediglich einige Dimensionen der phänomenologischen Lebensweltanalyse mit Relevanz für dieses Papier behandeln können. Würdigend ist indes hervorzuheben, dass das Werk von Alfred Schütz innerhalb der empirischen Soziologie zu zahlreichen weiteren Entwicklungen mit jeweils unterschiedlicher Perspektivierung und Akzentuierung führte. Zu einer der prominentesten Konzeptionen, die aufgrund ihrer radikalen Ausrichtung auf die Perspektive der Akteur/innen oftmals als „andersartige" Soziologie (vgl. vom Lehn 2019: 460) gelabelt wird, zählt die Ethnomethodologie Garfinkels. Diese ist Gegenstand des folgenden Kapitels.

3 Die Ethnomethodologie Garfinkels

Das Etikett Ethnomethodologie geht auf den amerikanischen Soziologen Harold Garfinkel zurück. Der Untersuchungsansatz ist in erster Linie methodisch zu verstehen. Denn es geht wesentlich darum, alltägliche Praktiken zu beschreiben, „mittels derer die Mitglieder einer Gesellschaft (ethnos) in ihrem Handeln das eigene Tun wahrnehmbar und erkennbar machen und die Wirklichkeit um sich sinnhaft strukturieren und ordnen" ([8] 2017: 51; vgl. auch [1] 2004: 114). Dieser Prozess erfolgt jedoch zumeist unreflektiert und unbewusst. Diese praktischen Verfahren der Sinngebung bezeichnet Garfinkel als Ethnomethoden. Das erkenntnistheoretische Problem, das diesem Ansatz unterliegt, rankt sich um die Frage, „wie soziale Ordnung im Alltag möglich ist" (vom Lehn 2019: 457). Ausgehend von einer seinerzeit radikalen interaktionalen und konstruktivistischen Perspektive weist Garfinkel auf den Aushandlungscharakter sozialer Wirklichkeit hin und betont, dass die Wahrnehmung und Beschreibung sozialer Weltphänomene auf die lokalen Konstruktions- und Interpretationsleistungen der am Interaktionsgeschehen Beteiligten angewiesen sind. Damit sind aber auch die Relevanzbezüge der Akteur/innen angesprochen, die sich dahingehend von den sozialwissenschaftlichen Beobachtungsschemata unterscheiden können, dass sie zur Beschreibung der sozialen Welt ganz andere normative Kategorien heranziehen:

Allgemeine Regeln, so Garfinkel, müssen notwendigerweise in das aktuelle Interaktionsgeschehen hinein vermittelt, sie müssen situiert werden, damit sie handlungsrelevant werden. Diese Vermittlung aber müssen die Handelnden durch die Interpretation der Regeln wie der Situation erreichen; nur durch Sinnzuschreibung und Deutung lassen sich Regeln stimmig aufeinander beziehen (Bergmann 2017: 119).

Garfinkel zweifelt nicht an, dass es möglich ist, „soziale Sachverhalte als objektiv gegebene Wirklichkeit" ([8] 2017: 121) zu erfahren, aber er sieht Schwierigkeiten darin, ausschließlich allgemeine sozialwissenschaftliche Kategoriensysteme zur Deutung und Beschreibung der sozialen Welt heranzuziehen und damit die Handlungsrelevanzen der Interagierenden außer Acht zu lassen.

3.1 Zur Bedeutung der situierten Praxis für die Organisation der sozialen Welt

Das innovative Moment der Ethnomethodologie ist, das Garfinkel die Organisation sozial-objektiver Wirklichkeitsphänomene konsequent als situierte Praxis fasst. Solche Alltagspraktiken werden demnach nicht im luftleeren Raum vollzogen, sondern sie korrelieren mit der sozialen Situation. Das ist kein ein einfaches Unterfangen, sondern es verlangt den Beteiligten einiges ab: Denn jede Handlungssituation und die Bedingungen, denen sie unterliegt, sind einzigartig. Garfinkel spricht gar von haecceitas, als „die einmalige, individuelle Hier-und-Jetztheit des menschlichen Daseins" (Meyer und [8] 2021: 47). Dieser aktivitäts- und situationsorientierte Blickwinkel impliziert, dass Individuen bei der Entscheidungsfindung selektiv vorgehen müssen. Zudem erfordert jede Situation, die Umstände und die vorhandenen Regeln aufs Neue zu interpretieren und Alternativen des Handelns zu berücksichtigen (z. B., wenn in einer Handlungssituation Störungen auftreten). Dies erfolgt zumeist unter Druck, etwa bedingt durch zeitliche Engpässe oder wenn nur unvollständige Informationen zur Verfügung stehen (vgl. Meyer und [8] 2021: 43, siehe auch [1] 2004: 124).

Mit seiner Neupositionierung bezüglich der „Organisation der sozialen Welt" (von Lehn 2019: 459) übt Garfinkel Kritik an den struktur-funktionalistischen Prämissen Talcott Parsons. Dessen idealistische Position fußt auf der Vorstellung, dass innerhalb der Mitglieder einer Kultur konsensuell vereinbarte Normen und Werte Bestand haben, die den Mitgliedern als Handlungs- und Orientierungsrahmen zur Verfügung stünden. Auf den Punkt gebracht ist Garfinkels programmatischer Fokus wesentlich grundsätzlicher: Nicht die Wissenschaftsrationalität der Kommunikation, sondern die Rationalität der alltäglichen Lebenswelt interessiert ihn. Die von Parson aufgestellte Frage nach dem Problem der sozialen Ordnung greift er auf. Jedoch hält er dessen Methoden zur Beschreibung der sozialen Welt für unzureichend, um adäquat zu erfassen „wie der Mensch Ordnung in die Welt bringt" ([1] 2004: 115).

Vor diesem erkenntnistheoretischen Hintergrund wird jetzt auch verständlich, warum Garfinkel die Akteursebene und die Ethno-Methoden der Sinngebung bei der Herstellung sozialer Ordnung zum Untersuchungsgegenstand macht (emische Perspektive). Um diesbezüglich zu „alltagstauglichen" Beschreibungen zu gelangen, lässt er Brechungs- bzw. Krisenexperimenten durchführen: Im Rahmen alltäglicher Interaktionen missachteten seine Studierenden in bewusster Absicht soziale Konventionen. Der folgende Gesprächsausschnitt veranschaulicht exemplarisch, wie Erwartungen und wechselseitige Perspektiven in einer alltäglichen Interaktionssituation auf die Probe gestellt werden können:

VP: Hallo Ray, wie geht es deiner Freundin?

E: Was meinst Du mit der Frage, wie es ihr geht? Meinst du das körperlich oder geistig?

VP: Ich meine: wie geht es ihr? Was ist denn mit dir los? (Er wirkt eingeschnappt.)

E: Nichts. Aber erklär mir doch ein bisschen deutlicher, was du meinst.

VP: Lassen wir das. Was macht deine Zulassung für die medizinische Hochschule?

E: Was meinst du damit: „Was macht sie?"

VP: Du weißt genau, was ich meine.

E: Ich weiß es wirklich nicht.

VP: Was ist mit dir los? Ist dir nicht gut?

(Beispiel aus Auer 2013: 135)

Durch diese Experimente wurden Praktiken der Wirklichkeitskonstruktion, d. h. implizite Normen, die für eine störungsfreie Kommunikation erforderlich sind und in Alltagsinteraktionen unhinterfragt bleiben, sichtbar und analytisch zugänglich. Aus diesen Prämissen folgt, dass die Sinnhaftigkeit einer (sprachlichen) Handlung nicht im Bewusstsein verankert ist. Anhand der Brechungsexperimente zeigt sich nämlich, dass sinnhafte Handlungszusammenhänge bzw. das soziale Ordnungsgeschehen aktiv und kontinuierlich im Interaktionsgeschehen vollzogen werden. Garfinkel bezeichnet diese Vollzugsdimension – treffender als es die deutsche Umschreibung vermag – als ongoing accomplishment.

So verstanden ist subjektive Sinnstiftung keine private Angelegenheit, die sich ausschließlich in den Köpfen der Agierenden abspielt, sofern sie nicht Teil des interaktiven Handelns selbst ist und beobachtet werden kann (vgl. z. B. [12] 2021: 108). Sie ist stattdessen ein gegenseitiger „Prozess des Verstehens-und-sich-verständlich-Machens" ([8] 2017: 125). Das impliziert aber auch, dass der Vorgang der Sinnstiftung von innen nach außen verlagert wird. Er ist damit eine soziale und auch eine öffentliche Interpretationsleistung, die „niemals ohne die Kategorien Meinen und Verstehen auskommt" ([4] 2013: 132).

Ordnungsleistungen bzw. situierte Praktiken zur Konstitution der sozialen Welt bedürfen jedoch keineswegs nur der Deutung durch die Gesprächspartner/innen. Wie unter Abschnitt 3 angeführt, verlaufen sie vielmehr methodisch. Daraus folgt, dass Handlungs- und Gesprächskontexte bestimmte Strukturmerkmale aufweisen (vgl. [8] 2017: 123), die sich wiederum systematisch beobachten und rekonstruieren lassen.

3.2 Die Bedeutung konstitutiver Prinzipien für die Genese sozialer Ordnung

Doch welcherart sind die Methoden des Alltagshandelns? Es wurde bereits gesagt: Soziale Ordnung entsteht aus der Warte der Ethnomethodologie im praktischen Vorgang selbst, im operativen Tun. Eine Besonderheit liegt jedoch in der doppelten Eigenschaft dieses sozialen Geschehens: Während Personen nämlich Handlungen vollziehen, zeigen sie „in ihrer Praxis auch fortwährend an, was sie tun" ([27] 2009: 309). Es handelt sich also um ein Zusammenspiel zwischen dem praktischen Vorgang und den damit verbundenen indexikalischen Aufzeigeleistungen, die Garfinkel als accounts fasst. Konkret äußert sich diese Verwobenheit z. B. darin, dass Interagierende ihre (kommunikativen) Handlungen kontinuierlich situationsspezifisch realisieren, also aufeinander abstimmen müssen. Dabei geben sie sich gegenseitig Kontextualisierungshilfen. Damit sind verbale sowie para- oder nonverbale Strategien wie etwa Mimik oder Prosodie gemeint, um die Äußerungen nachvollziehen zu können. Allein schon deshalb spielt Sprache bzw. die Grundfrage, wie Bedeutung im sequenziellen Interaktionsverlauf sinnhaft und damit konstitutiv für die Herstellung sozialer Ordnung erzeugt wird, für die Analyse einer sozialen Situation eine zentrale Rolle.

Weil Aufzeigeleistungen und weitere Hinweise darüber, wie die jeweiligen Äußerungen zu verstehen sind, unmittelbar an den interaktiven Vollzug gekoppelt sind, müssen Interagierende im Prozess der Interaktion eine gemeinsame Wissens- und Kommunikationsbasis bzw. einen common ground (vgl. [9] 1991) etablieren. Dieses gemeinsame Fundament ist notwendig, um die Bedeutung des (para-)verbal oder nonverbal Angezeigten transparent zu machen. Das erklärt, dass die (sprachlichen) Handlungen und der Kontext reflexiv aufeinander bezogen sind. Menschen zeigen durch ihr Handeln an, „in welchem sozialen und kommunikativen Kontext ihre Äußerung zu verstehen ist" ([17] 2016: 209). Genau dadurch realisieren bzw. ratifizieren sie aber auch den Kontext, der in der aktuellen Situation für sie relevant ist. Fragt beispielsweise ein Kunde einen Buchhändler nach Sondereditionen, dann gibt bereits die Art und Weise der Frage zu erkennen, dass es sich um ein Verkaufsgespräch handelt (Kontexthinweise sind z. B. Schlüsselbegriffe wie „Sondereditionen von Belletristik-Büchern" oder die formale Anrede des Verkäufers mit „Sie"). Zugleich sind diese Äußerungen jedoch nur verständlich, wenn man sie als Verkaufsgespräch identifiziert. Bergman und [34] (2021: 49) summieren: „Die Praxis erzeugt den Kontext, der als scheinbar extern gegebener und bestimmender Kontext die Praxis erst verstehbar macht". Diese Genese erfolgt durch die erwähnten accounting practices. Wichtig ist der ebenfalls auch [8] (2021: 49) zurückgehende Hinweis, dass soziale Interaktion auch die gegenseitigen Erwartungen der Interagierenden impliziert. Wer beispielsweise in einer Schlange an der Bushaltestelle wartet, zeigt im Prozess des making accountable die fraglichen Erwartungen mit an.

Neben den bereits erwähnten Prinzipien accountability, accomplishment (Vollzugsdimension), der Bedeutung der Sprache, Praktikabilität und Reflexivität fließt auch das Konzepte Indexikalität in die Ethnomethodologie ein. Darauf werde ich wie folgt kurz eingehen: Indexikalität meint, dass Sprache bzw. kommunikative Praktiken in einen konkreten Verwendungskontext eingebunden sind. Dieser muss zur Deutung von Äußerungen herangezogen werden, weil sprachliche Äußerungen in den meisten Fällen uneindeutig sind. Beispiele, die in der Forschungsliteratur häufig zur Veranschaulichung herangezogen werden, sind deiktische Ausdrücke wie „du", „er", „jetzt" oder „hier". Garfinkel zufolge sind gerade indexikalische Ausdrücke ein wesentliches konstitutives Element alltäglicher Kommunikation. Ihre spezifische Bedeutung muss, es wurde mehrfach gesagt, kontextsensitiv ausgehandelt werden. Entsprechend betont [8] (2017), „dass Begriffe in der Interaktion nicht klar definiert, sondern vage verwendet, Bedeutungen nicht ein für alle Mal fixiert, sondern fließend gehandhabt, Themen und Sinninhalte nicht formalisiert und von Widersprüchen befreit, sondern offen und mehrdeutig gehalten" ([8] 2017: 127) werden.

Infolge dieser Prämissen wird – entgegen der an der Wissenschaftsrationalität orientierten Betrachtungsweise – nicht mehr davon ausgegangen, dass es eine Wirklichkeit gibt, die sich mit objektiven Kategorien vorab bestimmen lässt. Vielmehr existieren aus der Perspektive der Agierenden, die bereits bei Schütz erwähnten „mannigfaltige Wirklichkeiten" ([42] 1971a), die zu einer sozialen Ordnung bzw. zu „sozialen Wirklichkeit integriert werden können" (vom Lehn 2019: 458). Garfinkel hat mit der Programmatik dieses Ansatzes den Weg für die Untersuchungssystematik der Gesprächsanalyse geebnet, die wiederum auf Harvey Sacks (1935–1975) zurückgeht. Dem Anliegen dieses Beitrags geschuldet, soll an dieser Stelle auf eine detaillierte Darstellung der Gesprächsanalyse verzichtet werden. Für eine Einführung sei auf folgende Überblicksdarstellungen verwiesen ([17] 2016; [8] 1981).

Zwischenbilanz

Die Darstellung einiger ausgewählter Aspekte zur Lebensweltanalyse bei Schütz und zum ethnomethodologische Forschungsparadigma durch Garfinkel zielte darauf ab, gemeinsame Bezugspunkte und Schnittmengen auszuloten. Sowohl Schütz als auch Garfinkel teilen mit Rückgriff auf Husserl die Annahme, dass die Sinnstrukturen sozialer Wirklichkeit durch die Handelnden selbst konstituiert werden. Die Welt der alltäglichen Einstellung folgt diesen Prämissen zufolge eigenen Logiken und ist infolgedessen nicht gleichzusetzen mit der wissenschaftlich rationalen Vorstellung, wonach soziale Ordnung durch einen normativen Orientierungsrahmen garantiert ist. Sieht man von dieser gemeinsamen Ausgangsposition ab, gibt es erhebliche Unterschiede:

Für Schütz ist die subjektive Erfahrung ausschlaggebend und konstitutiv für die Gegebenheit der sozialen Welt (vgl. [12] 2021: 107; siehe auch [4] 2013: 124). Garfinkel hingegen entfaltet anhand der Lebensweltanalysen von Schütz ein eigenes Forschungsparadigma. Sein Anliegen gilt der Erforschung sozialer Kommunikation. Entscheidend ist also nicht mehr die Ebene des Bewusstseins, in der die Sinngenese Schütz zufolge verankert ist. Bei Garfinkel spielt stattdessen die Beobachterperspektive eine zentrale Rolle. [12] (2010: 42) resümieren: „Von Schütz' Lebensweltanalyse übernimmt er im wesentlichen [sic] die Frage nach dem ‚Wie', d. h. die Forschungsfrage nach der Konstitution sozialer Phänomene, sucht die Antworten aber selbst; er setzt die Lebensweltanalyse also nochmals neu an – als soziologische Analyse der Alltagswelt." Diese Fokusverschiebung ist allerdings wesentlich darin begründet, dass Garfinkel in forschungsmethodischer Hinsicht einen anderen Weg einschlagen muss, um die Sinnkonstitution untersuchen zu können. Die Analyse erfolgt vor dieser Zielsetzung „anhand empirischen, d. h. intersubjektiv überprüfbaren Materials" (Eberle und Strubar 2010: 41). Der Ansatz, den Garfinkel für diese Zwecke wählt, ist eine Synthese zwischen der Konstitutionstheorie der Lebenswelt und der Parson'schen Fragestellung, wie soziale Ordnung möglich ist. Thomas Eberle – ein Zeitzeuge von Sacks, Schegloff und Garfinkel – hebt diese Verknüpfungsleistung würdigend hervor:

Garfinkels Genialität liegt darin, dass er Schütz' Lebensweltanalyse an ihrem pragmatischen Pol als alternativen Erklärungsansatz für das Problem der sozialen Ordnung interpretierte. Schütz wäre nie so weit gegangen. Garfinkel gab der Lebensweltanalyse eine soziologische Wendung, er folgte indes dem Ruf der Phänomenologie ‚Zu den Sachen selbst!' (Eberle 2021: 115).

Nach dieser phänomenologisch-soziologischen Grundlegung für die Konversations- und Gesprächsanalyse komme ich nun zum Mittelpunkt und Kern dieses Beitrages: Hannah Arendts phänomenologisches Verständnis der Pluralität bzw. des Politischen.

4 Arendts Phänomenologie des Politischen

Arendt geht es – zumindest auf den ersten Blick – nicht um das Problem der sozialen Ordnung. Um ihre politische Phänomenologie einordnen zu können, ist es wichtig, die Beweggründe zu verstehen, die sie zu ihrem philosophischen Hauptwerk vita activa veranlasst haben. Die Schrift erscheint erstmals 1958 unter dem Titel The Human Condition in englischer Sprache. Blickt man auf die historischen Ereignisse dieser Zeit zurück, dann fällt das Augenmerk auf die Ereignisse im Jahr 1957. Der erste künstliche Satellit umkreiste die Erde, leitete das Raumzeitalter ein und führte in der westlichen Welt, in erster Linie aber in US-Amerika, zu einem Sputnik-Shock. Arendt entwirft in diesem Licht eine Kritik an der Moderne: Die Menschheit sehe sich durch diese technologischen Entwicklungen Bedingungen ausgesetzt, die sie selbst geschaffen habe und aus denen es nun kein Entrinnen mehr gebe. Die Neuzeit habe durch ihre Verherrlichung der Arbeit überdies dazu geführt, alle diesbezüglich sinnvolleren Tätigkeiten (nämlich Herstellen und Handeln) auf das bloße Niveau des Jobs, d. h. einen auf Notwendigkeit und Nützlichkeit ausgerichteten Arbeitsprozess, herunterzudrücken. Hinzu komme die ansteigende Automation, die dazu führe, dass die Menschheit die Arbeit und damit die „einzige Tätigkeit, auf die sie sich noch versteht" (VA, 19), ausgegangen ist. Arendt zeichnet das düstere Bild einer um sich greifenden Weltentfremdung, die in ein Gefühl der Verlassenheit und Isolation der modernen Massengesellschaft mündet. Damit gehe auch ein Verfall des Politischen einher. Ihre Kritik richtet sie auch an die moderne Wissenschaft, welche in einer eigentümlichen Sprachlosigkeit verharre und dadurch einen eklatanten Sinnverlust in Kauf nehme. Für jegliche Form von Erkenntnisprozessen und Sinngenese sei es jedoch hochgradig relevant, über die gewonnenen Einsichten sprechen zu können. Dennoch gibt es für Arendt einen Ausweg aus dieser selbstgeschaffenen Isolation: Sie schlägt vor, sich auf die Grundbedingungen und die Grundtätigkeiten menschlichen Lebens zurückzubesinnen. Deswegen lädt sie uns in ihrer Schrift dazu ein, mit ihr gemeinsam darüber nachzudenken, was wir tun, wenn wir tätig sind (VA, 20).

4.1 Die Tätigkeitsformen und die elementaren Gliederungen Arbeiten, Herstellen und Handeln

Arendt beschreibt in der vita activa die Tätigkeitsformen Arbeiten, Herstellen und Handeln, die jeweils einer Grundbedingung entsprechen: Leben, Weltlichkeit und Pluralität. Darüber hinaus sind die Grundtätigkeiten und Bedingungen zusätzlich in der „allgemeinen Bedingtheit menschlichen Lebens verankert" (VA, 25), nämlich Natalität (geboren zu sein) und Mortalität (durch Tod wieder aus der Welt zu verschwinden). Tätigkeiten, so Arendt, schaffen und ermöglichen Bedingungen. So ermöglicht beispielsweise das Herstellen, dass dauerhafte Objekte wie etwa Kunstwerke oder Bauten entstehen, die wiederum über mehrere Generationen hinweg Bestand haben. Dadurch lässt sich eine Verbindung ziehen zu der Welt derjenigen, die z. B. in den inzwischen historischen Gebäuden gelebt, gearbeitet und gewirkt haben. Solche Verweiszusammenhäng ermöglichen es, die Welt der früheren Generation zu verstehen.

Hinsichtlich der Verfallsgeschichte, die Arendt als Bezugspunkt in der vita activa anlegt, weist die Schrift deutliche Anknüpfungspunkte zur Ontologie Martin Heideggers in Sein und Zeit auf. Dennoch, darauf macht [5] (1998: 176) aufmerksam, entwirft Arendt die Kategorien ihrer phänomenologisch-politischen Philosophie von vorneherein in Opposition zu Heidegger (vgl. auch Loidoldt 2012: 377). Allerdings hätte sie „ohne Heideggers Analyse der Bedingtheit des Daseins als eines In-der-Welt-seins-mit-anderen nicht formuliert werden können" ([5] 1998: 176). Von Heidegger übernimmt Arendt den Grundgedanken der Dekonstruktion der philosophischen Tradition. Die gemeinsame fundamentalphilosophische Grundannahme lautet, dass sich „das philosophische Denken seit der Antike immer weiter von der ursprünglichen Erfahrung der Gegenstände, von denen es handelt, entfernt und dabei erstarrt" ([52] et al. 2022: 78). Deswegen sei es wichtig, die ursprünglichen Quelle der Erfahrung, aus der bestimmte philosophische Konzepte hervorgegangen sind, mithilfe einer destruktiven, d. h. einer zerlegenden und entblößenden Denkbewegung, aufzuspüren. Sowohl Heidegger als auch Arendt sehen das Motiv der Entfernung in der Philosophie Platons, welche die zentralen philosophischen Fragen außen vorlasse. Außerdem, so betont Arendt, mache die Entwicklung der Massengesellschaft das Handeln überflüssig, weil es durch Herstellen (das auf die Präsenz anderer nicht angewiesen ist) ersetzt wurde (vgl. VA, 312). Doch während Heideggers Fokus der Seinsfrage gilt, ist Arendts Ausgangspunkt ganz anders: Im Zentrum ihrer Überlegungen ist das Politische. Die Fragen, die sie in diesem Zusammenhang stellt, lauten: „Was sind die ursprünglichen politischen Erfahrungen? Wie kommt es zu einem Vergessen des Politischen, und welche Entwicklung resultiert aus der erfahrungsblinden Weiterverwendung der politischen Begriffe?" ([52] et al. 2022: 78).

Es gibt darüber hinaus noch einen weiteren und im vorliegenden Zusammenhang entscheidenden Unterschied zu Heideggers Konzeption, auf den [5] (1998: 172) hinweist: In Heideggers Argumentation zum Mitsein sucht man vergeblich nach dem Begriff menschlicher Pluralität. Benhabib führt als Hauptgrund für diese Lücke an, dass in Heideggers Schriften kein intersubjektiv angelegtes Konzept von Handlung als Interaktion vorzufinden ist. Nichtsdestotrotz lassen sich in dessen existenzialen Analyse der Anwesenheit des Menschen in der Welt bereits Kategorien des menschlichen Zusammenseins ausmachen. Während Heidegger jedoch die Faktizität des Todes und den Rückzug aus der Welt nur auf sich selbst bzw. die Passivität des Daseins betont, insistiert Arendt auf die Bedingung der Gebürtlichkeit. Diese Akzentsetzung ist darin begründet, dass das Handeln in ihrem Konzept des Politischen eine Sonderrolle genießt. Denn es ist die einzige Tätigkeit, die sich „direkt zwischen Menschen abspielt" (vgl. VA, 24, [eigene Hervorhebung]) und es ist die einzige Tätigkeit, die den Menschen dazu befähigt, qua Geburt einen neuen Anfang zu setzen, d. h. initiativ zu sein (vgl. VA, 25). Deswegen sind die Tätigkeitsformen des Sprechens und Handelns „wie eine zweite Geburt" (VA, 241). Weil das Handeln derart verfasst ist, „kann es sich nur unter den Bedingungen der Pluralität, der Anwesenheit anderer Menschen vollziehen" ([52] et al. 2022: 79).

Im Hinblick auf die beanstandeten Entwicklungen der Moderne schließt Arendt also in wesentlichen Punkten nicht an Heidegger an. Stattdessen hebt sie hervor, dass die Gegenwartsgesellschaft selbst dazu in der Lage ist, ihre Grundbedingungen zu verändern. Die Möglichkeit, durch die praktischen Tätigkeitsformen des Sprechens und Handelns und durch den Raum des Öffentlichen, Einfluss auf die Welt im Hier und Jetzt zu nehmen, ist deswegen in Arendts Kategorien von vorneherein angelegt. Dieser Zugang ist insofern eine radikal innovative Umarbeitung von Heideggers Sein und Zeit, als Arendt „das Mitsein qua Pluralität in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen stellt" (Loidoldt 2012: 5). Nachfolgend soll expliziert werden, was es mit den Begriffe Pluralität und Politik bzw. dem tragenden Terminus das Politische, auf sich hat.

4.2 Pluralität und das Politische

Was meint Arendt mit Pluralität? Zuallererst ist festzuhalten, dass Pluralität für Arendt keineswegs bloße quantitative Vielheit bedeutet, wie sie z. B. in der Welt der Pflanzen oder unter Tieren existiert. Ebenso wenig meint sie damit qualitative und individuelle Unterscheidungsmerkmale, wie etwa unterschiedliche Sozialisationserfahrungen oder Charaktereigenschaften. Es geht ihr also nicht um divergierende Merkmale, die sich wahrscheinlich unproblematisch benennen oder aufzählen ließen, wenn man von außen auf sich blickt. Vielheit darf daher nicht verwechselt werden mit Vervielfältigung im Sinne einer weiteren Version des Menschen, sieht man einmal von leichten Abweichungen ab (vgl. VA, 24). Stattdessen betont Arendt, dass sich Pluralität sowohl als Gleichheit als auch als Verschiedenheit manifestiert (vgl. VA, 239). Gleichheit ist relativ zu verstehen und leicht zugänglich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass Menschen z. B. in der Lage sind, sich untereinander zu verständigen oder dass sie in einer gemeinsamen Welt leben und sich somit als gleichwertig erfahren (vgl. z. B. [37] 2014: 95). Ihre Verschiedenheit bringen Menschen wiederum aktiv zum Ausdruck, indem sie sich mitteilen (im Gegensatz zu Tieren, die lediglich etwas mitteilen können, beispielsweise Hunger, Durst, Furcht usw.). Das ist in einer ersten Annäherung das, was Menschen einzigartig macht. Und die ausgezeichneten Modi, mittels derer sich diese Verschiedenheit und Einzigartigkeit zeigt und manifestiert, sind das Handeln und das Sprechen.

Hier deutet sich bereits an, dass Arendt Handeln in Anlehnung an Aristoteles als praxis (Handeln als Selbstzweck) vs. poiesis (zweckgebundenes Handeln) fasst. Arendt beschreibt die Grundbedingung der Pluralität gleichzeitig als Faktum (vgl. VA, 239). Was sie damit aber nicht im Sinn hat, ist, Pluralität als etwas zu charakterisieren, was lediglich vorhanden ist, also als etwas, was faktisch, da ist. Vielmehr will sie uns damit sagen, dass wir nicht als „der Mensch", sondern als „die Menschen gemeinsam im Plural existieren, und dass diese gemeinsame Existenz uns politisch macht (vgl. Loidoldt 2018: 2). Deswegen korreliert die Grundbedingung der Pluralität mit dem Begriff des Politischen. Auch wenn es die Assoziation naheliegt, handelt es sich hier keineswegs um politische Rahmenbedingungen wie etwa Institutionen, politische Parteien, Politikinhalte usw. Es geht Arendt nicht um ein institutionelles Was, sondern um ein modal zu verstehendes Wie. Das Politische lässt sich daher wesentlich zutreffender als Praxis des Handelns und Sprechens, denn als Substanzbegriff fassen.

Ähnlich wie Loidoldt (2018, 2012), die in der Bedingung der Pluralität eine entscheidende Schubrichtung für eine phänomenologische Auslegung des Politischen erkennt, argumentiert auch [49] (1987). Er charakterisiert dieses Wie als „die phänomenal in der Welt der Menschen auftretende und erscheinende Modalität einer bestimmten Art der Beziehung von Menschen untereinander, die als die politiehafte bestimmt werden kann" ([49] 1987: 46, [eigene Hervorhebung]). Hier wird zum einen Arendts Kerngedanken des Mitseins mit anderen in der Welt explizit. Zum anderen sind Menschen dadurch politische Menschen, dass sie ihre Fähigkeit zur Verständigung nutzen. Deswegen betont Arendt: „Wo immer es um die Relevanz der Sprache geht, kommt Politik notwendigerweise in Spiel" (VA, 17). Der folgende Abschnitt gibt Auskunft darüber, wie enorm die Reichweite des Handelns und Sprechens ist und hebt darauf ab, dass Arendt das Phänomen der Intersubjektivität durchaus im Blick hat.

4.2.1 Das aktive in Erscheinung treten der Menschen vor anderen

„Handelnd und sprechend offenbaren die Menschen jeweils, wer sie sind, zeigen aktiv die personale Einzigartigkeit ihres Wesens, treten gleichsam auf die Bühne der Welt, auf der sie vorher so nicht sichtbar waren [...] (VA, 246). Wie Arendt weiter ausführt, zeigt sich in diesem intersubjektiven Vollzug jedoch nicht was einer ist. Dieses „was" bedarf eines Blicks von außen, denn es betrifft individuelle Eigenschaften, wie etwa das Aussehen oder Begabungen und Talente, die Menschen von Geburt an besitzen. Die Individualität und Einzigartigkeit beinhaltet jedoch stets eine Erfahrungsdimension, ein perspektivisches Sein, welches eine Innenperspektive erfordert und sich der Beschreibung bloßer Eigenschaften von einem Außenstandpunkt aus entzieht.

Es sind also nicht die Gaben und Geschenke, die Menschen einzigartig machen. Was ihre Individualität ausmacht, ist vielmehr, dass sie sich erst durch Worte und Taten in die Welt einschalten und zugleich in einem Weltkontext vor anderen erscheinen. Entsprechend hebt Benhabib hervor, dass für die Menschen „Sein und Erscheinen ein und dasselbe" ([5] 1998: 180) sind. Einzig in der Erscheinung wird das Wesen des Menschen für andere sichtbar. Der Begriff In-Erscheinung-treten meint allerdings nicht, lediglich physisch von anderen wahrgenommen zu werden. Es geht vielmehr darum, „mit anderen in Raum und Zeit zu handeln und zu sprechen" ([5] 1998: 180). Wer auf diese Weise die Initiative ergreift, ist in der Lage, etwas Neues zu schaffen. Die individuell einzigartige Sprache und die Handlungen machen das Individuum zu einem „Träger dieser einen Lebensgeschichte" ([5] 1998: 178). Diese Ermöglichungen, die in der Grundbedingung der Pluralität angelegt sind, haben nichts mehr gemeinsam mit einem cartesischen Rückzug ins Bewusstsein (Husserl) oder mit einem „existential-solipsistischen Selbstsein" (Loidoldt 2018:7) wie bei Heidegger. Indem sie nämlich die Pluralität der Menschen betont, setzt Arendt sich von der traditionellen politischen Philosophie ab (da diese eben vom Wesen und der Existenz des Menschseins im Singular ausgeht) und entwirft eine „neue Theorie des Politischen" ([52] et al. 2022: 76, vgl. auch die Ausführungen in Loidoldt 2018:5).

Zu Beginn dieses Beitrags wurde argumentiert, dass Arendts Ausarbeitungen zur Pluralität theoretisch und analytisch anschlussfähig sind an gesprächsanalytische Zugänge. Dabei muss jedoch berücksichtigt werden, dass es Arendt in der vita activa um Bedingungen geht und nicht um die tatsächlich sich entfaltenden Interaktion und die soziale Ordnung, die sich dabei herausbildet. Meine erste These zu diesem Punkt ist, dass der Fokus bei Arendt ein anderer ist. Ihr Interesse gilt den Möglichkeiten, den Weltbedingungen sowie der Weltlosigkeit zu entkommen und diesem düsteren Befund Paroli zu bieten. Arendt würde wohl behaupten, dass Weltbedingungen jederzeit und damit auch heute verändert werden können, was einzig daran liegt, dass den Menschen mit den Worten und Taten enorme Handlungs- und Erfahrungspotentiale zur Verfügung stehen. Stülpt man die positiven Optionen nämlich um, dann zeigt sich genau das Bild der Entfremdung und Weltlosigkeit, das Arendt für die Gegenwart ihrer Zeit beanstandet. Und für sie ist es ganz klar, dass dieser Zustand und die Bedingungen, die ihn herbeiführten, selbstgeschaffen sind (vgl. VA, 14). Öffnet man sich hingegen den Erfahrungen und den Handlungsformen, die für den Vollzug von Pluralität zur Verfügung stehen, dann ist den Menschen die Möglichkeit gegeben, die selbstgeschaffenen Bedingungen kontinuierlich und nachhaltig zu verändern.

Allein schon deswegen erfüllen Handlungen und Sprechakte nicht nur den Zweck der gegenseitigen Verständigung. Es sind vielmehr die Modi schlechthin, um sich in die Welt einzubringen und die eigene Stimme immer wieder aufs Neue geltend zu machen. Diese Tätigkeitsformen ermächtigen gleichermaßen dazu, die Welt – oder mit Garfinkel gesprochen –, soziale Wirklichkeit und soziale Ordnung nicht einfach hinzunehmen. Meine zweite These lautet daher, dass uns Arendt in der vita activa geradezu auffordert, genau das nicht zu tun.

Denkt man darüber nach, welche Resonanz ein Spektrum an vielfältigen Perspektiven und das öffentliche Sichtbarwerden nach sich ziehen kann, dann ist offensichtlich, dass Arendt keinesfalls von einem einhelligen Konsens ausgeht. Vielmehr – und das entspricht der Natur des Pluralitätsgeschehens – dürften sich hier auch kontroverse Gegenpositionen manifestieren in Form von Haltungen, Wertvorstellungen, Normen u.v.m. So ließe sich in Abhebung zu Parsons hinzufügen, dass ein abstraktes System an Normen und Werteorientierungen nicht ausreicht, weil sich durch das Pluralitätsgeschehen ganz neue Sinndimensionen und damit auch Ordnungsgefüge etablieren können.

An dieser Stelle scheint mir eine Aufschlüsselung von Arendts mehrdimensionalem Weltbegriff notwendig, zumal er in den Referenzwerken nicht systematisch erschlossen ist. Von Relevanz ist hierfür v. a. Arendts Vorstellungen einer intersubjektiven Weltdimension, die sie als das zweite Zwischen beschreibt und die sich einzig durch Interaktion manifestiert. Damit korreliert ihr Konzept der Öffentlichkeit, worauf ich ebenfalls eingehe. Der letzte Abschnitt dieses Beitrags soll Auskunft darüber geben, unter welchen Voraussetzungen Arendts Konzept der Pluralität für die Gestaltung von Interaktion im Anschluss an Garfinkel herangezogen werden kann. Meine abschließende These diesbezüglich lautet, dass uns Arendt auch dazu konkrete Hinweise gibt.

4.2.2 Arendts Verständnis von Welt und der Begriff des „zweiten Zwischen"

Arendt geht zunächst von einer bereits existierenden global zu verstehenden Welt aus, in die die Menschen hineingeboren werden und die sie mit dem Tod wieder verlassen. Hingegen beschreibt das zweite Zwischen sowohl eine Welt- als auch eine Sinndimension, die durch das Interaktionsgeschehen entsteht, die den Worten und Taten jedoch vorausgeht. Sie lässt sich als Vorstufe oder Basis für das Endprodukt fassen. Arendt meint mit dem zweiten Zwischen buchstäblich vielfältige Interessen. Sie umschreibt sie als „das, was ‚inter-est', was dazwischen liegt und die Weltbezüge herstellt, die Menschen miteinander verbinden und zugleich voneinander scheiden" (VA, 251–252; vgl. auch [3] 2007: 52). Zur Veranschaulichung greift sie zudem auf die Analogie eines Tisches zurück, der zwischen denjenigen steht, die an verschiedenen Stellen um ihn herumsitzen, sodass eine unmittelbare Verbindung gar nicht möglich ist (VA, 78). [24] (2022: 423) erläutert, was es damit auf sich hat: „Sofern Welt ‚zwischen uns' steht, sind wir nicht unmittelbar miteinander verbunden; da wir uns aber gemeinsam auf unsere ‚gemeinsame Welt' beziehen, stehen wir in einem über Sprache, Institutionen usw. vermittelten Kontakt zueinander." Auch wenn man nicht einer Meinung ist, bleibt also der gemeinsame Bezugspunkt (die gemeinsame Welt) dennoch bestehen.

Das intersubjektive Zwischen erzeugt ein geteiltes kollektives Beziehungsgeflecht, das verschiedene Perspektiven umfasst und das Arendt als „Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten" (VA, 252) bezeichnet. Daraus folgt aber auch, dass die Welt des Zwischen auf plurale Perspektiven angewiesen ist. Sie kann überhaupt nur durch die Vielfalt und Verschiedenartigkeit der Perspektiven entstehen und konturiert den öffentlichen Bühnencharakter der Welt. Dies entspricht einer Welt als Erscheinungsraum (Abschnitt 4.3).

Weil Menschen schon allein durch ihre Geburt in eine Welt eingelassen sind, verdeutlicht Arendt mit der Hervorhebung, dass es sich um ein zweites Zwischen handelt, den Umstand, dass das interaktive Geschehen bereits in dieser für sie ersten Welt vollzogen wird. Die Interagierenden beziehen sich dabei zugleich auf Welthaftes (im Sinne dieser ersten Welt, in der wir qua Geburt neu ankommen). Schließlich ist Welt in einer dritten Bedeutung objektiv-gegenständlich zu verstehen. Unter diesem Blickwinkel ist sie das Produkt menschlicher Herstellungsprozesse. So verstanden umfasst diese Dingwelt Beständiges und Dauerhaftes, aber auch durch Menschen errichtete öffentlich-politische Institutionen. Diese „verdinglichte" Manifestation tritt den Menschen als vorgängige Welt entgegen, woran allerdings Bedingungen geknüpft sind. Denn mit dieser „Vorgängigkeit" liegt ein Kontext vor, auf den sich Menschen zwar beziehen, im Hinblick auf ihre Handlungsmöglichkeiten jedoch nicht davon unabhängig agieren können (vgl. [24] 2022: 423). Wenn die Menschen durch Worte und Taten miteinander agieren werden, treten sie damit automatisch in die Öffentlichkeit.

4.2.3 Öffentlichkeit

Mit dem Begriff des Öffentlichen verbindet Arendt zweierlei: Erstens ist Öffentlichkeit für sie „der Raum des Erscheinens, des Sehen und Gesehenwerdens, des Wettstreits und Vergleichens, des Miteinander-Redens und Einander-Überzeugens, des Hörens und Gehörtwerdens; ein Raum, in dem Andere [sic] präsent sind" ([46] 2022: 380). Zweitens assoziiert sie damit die an anderer Stelle beschriebene Welt des zweiten Zwischen, in der es möglich ist, sich zu versammeln, d. h. „zu trennen und zu verbinden" (VA, 78). Öffentlichkeit, so lässt sich knapp zusammenfassen, ist damit ein Ort der Pluralität, wie Arendt sie am Vorbild der athenischen Polis vorgefunden hat. Ganz anders verhält es sich in der modernen Massengesellschaft, in der das öffentliche Leben ihres Erachtens keinerlei Relevanz zuteilwird und die eigene Stimme keine Artikulationsmöglichkeit hat. Arendt greift als Lösung für die Weltentfremdung auf das Beispiel der Sokratischen Polis zurück. Sie empfindet es als regelrechten Glücksfall, dass es dort eine Agora gab. Denn durch dieses Leuchtfeuer konnte sich Pluralität stets entfalten. Sie betont allerdings, dass der öffentliche Bereich im Beisein von anderen erst dann ein politischer ist, wenn er „in der Stadt gesichert ist, also an einen greifbaren Platz gebunden ist [...]" ([3] 2017: 46). Denn der nicht politische „öffentliche Raum des Abenteurers und des Unternehmens verschwindet, sobald alles an sein Ende gekommen ist, das Heereslager aufgelöst ist und die ‚Helden' [...] wieder nach Hause zurückgekehrt sind" ([3] 2017: 45–46). Demnach, so deute ich Arendts Anspruch, genügt es nicht, dass verschiedene Personen sichtbar aufeinandertreffen, um zu sprechen, tätig zu sein und um auf ihre alltäglichen Weltbedingungen Einfluss auszuüben. Vielmehr müssen multiperspektivische Pluralität und die Beziehungen zu den Interagierenden gewährleistet und aufrechterhalten werden. Nicht minder notwendig ist es, dass das „Wer der vielen" immer mitschwingt und artikuliert wird, insbesondere auch dann, wenn es sich um die Stimmen der anderen handelt. Noch einmal: Sichtbarkeit als „Vorbedingung allen wirklichen Erscheinens" ([3] 2007: 45) im öffentlichen Raum (bzw. metaphorisch die Bühne der Welt) genügt also nicht, damit sich Pluralität dauerhaft entfalten kann. Der moderne Begriff der Nachhaltigkeit ist zutreffend für das, was Arendt mit diesem Anspruch meint: Die Gewissheit, einen festen Platz für den Vollzug von Pluralität zur Verfügung zu haben, ist eine unbedingte Voraussetzung dafür, dass die Stimmen, die Taten und die damit verknüpften Personen im kollektiven Gedächtnis der Nachwelt erhalten bleiben. Das Ergebnis dieser so verstanden Pluralität sind subjektive Sinndeutungen, Sinnerfahrungen, Geschichten und revitalisierte soziale Ordnungen.

4.2.4 Die Bedeutung eines öffentlichen Schauplatzes für den gemeinsamen Vollzug von Pluralitä...

Auch wenn Arendt mit dem politischen Raum die griechische Polis im Sinn hat, ist die Notwendigkeit, einen festen Platz zu errichten, von dem aus man sprechen und handeln kann, auf andere Organisationsformen und Untersuchungskontexte zu übertragen. Dies gilt für Inhalte, die interaktiv ausgehandelt werden sollen wie auch für Interaktion an sich. Das bringt die Welt des zweiten Zwischen wieder auf den Plan. Nehmen wir Arendt beim Wort, dann bedeutet das, die räumlichen und zeitlichen Voraussetzungen und Bedingungen dafür zu schaffen, dass man überall und jederzeit gemeinsam interagieren und initiativ werden kann. Dies bedarf gleichsam einer „Bühne", die die Menschen betreten dürfen und auf der jede Stimme zählt und Gewicht hat. Außerdem ist sicherzustellen, dass es einen gemeinsamen Fokuspunkt gibt, auf den man sich im Handeln und Sprechen bezieht. Nur so kann ein intersubjektiver Weltbezug entstehen, auf dessen Basis sich plurale Perspektiven und divergierende Positionen überhaupt konstituieren können. Das Resultat ist nicht nur das Produkt vieler pluraler Stimmen (was sicher auch Konflikte beinhalten kann), sondern auch eine selbstproduzierte soziale Wirklichkeit und Ordnung. Gewiss sind es nicht unbedingt die großen Weltgeschichten und Bezüge, die im Vollzug der Pluralität zum Tragen kommen. Garfinkel – und Arendt mit ihm – richten ihr Augenmerk stattdessen auf die alltägliche soziale Welt und die Ordnung um uns herum. Es dürfte deutlich geworden sein: Garfinkels Interesse gilt den bedeutungskonstituierenden Komponenten sinnhafter sozialer Kommunikation vermittels derer sich die Beteiligten in der Welt, die sie eigenmächtig hervorbringen, orientieren. Arendts politische Theorie legt darüber hinaus die conditiones für den gemeinsamen Vollzug von Pluralität offen. Pluralität impliziert bei Arendt stets Sozietät, verbunden mit der Möglichkeit, das, was wir tun, mit der Welt in Beziehung zu setzen, uns in ihr zu orientieren, aber eben auch, Neues in diesem Tun entstehen zu lassen. In diesem Licht lädt sie uns dazu ein, die Gelegenheiten beim Schopf zu packen, um gemeinsam erzeugte soziale Ordnungen bzw. Gegebenes zu transzendieren.

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Aufschluss gibt auch eine Erläuterung von [18] (2005): „In jedem Erlebnis-von-etwas eröffnen sich Horizonte, aber diese Horizonte bestehen nicht isoliert nebeneinander, sondern sind im konkreten Erlebniszusammenhang durch Verweisungsverhältnisse aufeinander beziehbar. Der eine und einzige umfassende Zusammenhang der Beziehbarkeit aller Horizonte aufeinander hat selbst den Charakter des Horizonts. Dieser Universalhorizont ist nichts anderes als die Welt" ([18] 2005: 11). Als natürliche Einstellung ist „diejenige Haltung zu verstehen, die allen Einstellungen zugrunde liegt, die der Mensch in seinem Leben vor oder außerhalb der Philosophie einnehmen mag" ([18] 2005: 3). Die Seitenangaben dieses Kapitels beziehen sich auf Band I bis VI im eingangs erwähnte Referenzwerk Strukturen der Lebenswelt, das nach dem Tod von Alfred Schütz von Thomas Luckmann vollendet wurde. Dieser Terminus basiert auf zwei Annahmen, die schon unter Abschnitt 2.2 angedeutet wurden: Erstens sind Erfahrungen in unserem Wissensvorrat als Deutungsschemata abgelegt. Bei jeder Auslegung der Welt greifen Individuen auf diese bekannten Schemata zurück. Sie vertrauen darauf, dass jede Situation, die sie erleben, auch zukünftig in dieser Art und Weise weitergehen wird. Auch der von Mitmenschen übernommene Wissensvorrat behalte seine Gültigkeit bei. Diese Idealisierung bezeichnen Husserl und Schütz als „und so weiter". Damit verbunden ist die zweite Annahme, dass Individuen Handlungen, die sich früher aus ihrer Sicht bewährt haben, wiederholen können. Schütz umschreibt diese Überzeugung kurz mit „Ich kann immer wieder" (vgl.[1] 2004: 74–75). Treibel klassifiziert die Du-Einstellung daher treffend als „Vorform einer Interaktion" (2016: 89). Schütz weist allerdings darauf hin, dass Typisierungen auch in Wir-Beziehungen bzw. in der Begegnung mit Mitmenschen anhand des eigenen Wissensvorrats vollzogen werden. Die Einzigartigkeit von Mitmenschen bleibt in dieser Beziehungskonstellation jedoch erhalten und wird lediglich modifiziert. Das Verhalten steht daher nach wie vor in einem subjektiven Sinnzusammenhang, wohingegen in Ihr-Beziehungen objektive Sinnzusammenhänge relevant werden. Demzufolge spielt es im Kontext von Ihr-Beziehungen keine Rolle, was die Bezugspersonen während bestimmter Verhaltensweisen denken, solange sie sich ihrem Prototyp entsprechend verhalten (vgl. Bd. I,120). Bestimmend für die Strukturen der Lebenswelt sind neben der sozialen Strukturierung und der Strukturierung nach Relevanztypen auch die räumliche Aufschichtung bzw. zeitliche Struktur der Lebenswelt sowie die Strukturierung nach Vertrautheitsgraden. Da es vorliegend lediglich darum gehen soll die phänomenologischen Bezüge zwischen den Ausarbeitungen von Schütz und der Ethnomethodologie Garfinkels herauszuarbeiten, gehe ich nicht näher auf diese Dimensionen ein. Es ist wichtig, den Ausdruck ‚Entwurf' phänomenologisch richtig zu verstehen: Schütz bezeichnet damit nämlich keineswegs die noch zu vollziehende Handlung, sondern er hat hier einen „gedanklichen Vorgriff in die Zukunft" ([27] 2011: 103) im Sinn: Es ist eine bemerkenswerte Leistung des Bewusstseinseins, dass wir uns eine Handlung bereits im Entwurf als abgeschlossene Handlung vorstellen können. Zugleich können wir einzig dadurch handeln. Schütz unterscheidet in der weiteren Diskussion Handeln analog zum Erleben von Handlung resp. Erlebnis: Das Handeln ist ebenso wie das Erleben etwas, das sich gerade vollzieht oder dessen Vollzug in naher Zukunft erwartet wird. Hingegen ist Handlung gleichzusetzen mit abgelaufenen, vollzogenen Erlebnissen. Erlebnisse sind aus der Dauer des Erlebens herausgehoben. Insofern wenden wir uns ihnen in der rückwärtsgerichteten Reflexion zu. Weil Menschen nur auf eine Handlung intentional Bezug nehmen können, schreibt Schütz Sinn ausschließlich der Handlung, d. h. dem bereits Erlebten und nicht dem Handeln bzw. Erleben zu. Wie in Abschnitt 2.2 erläutert, erschließt sich der Sinn von Handlungen und Erfahrungen deswegen in der reflexiven Rückschau. Erst hier wird uns der Dauerstrom, also das Erleben in der Dauer (das sich-vollziehende Handeln und Erleben) buchstäblich bewusst. Deswegen ist Sinnhaftigkeit eine Bewusstseinsleistung (vgl. für eine ausführliche Diskussion [19] 2020: 13–28). [4] (2013: 127–128) erläutert, was Schütz dadurch erreicht: „Damit ist der Übergang vom subjektiv gemeinten, nur dem Handelnden selbst zugänglichen Sinn zu dem geleistet, was Schütz den ‚objektiven' Sinn nennt [...]." Und die Bedingung, die sich im Einvernehmen mit Auer daraus für das kommunikative Geschehen ableiten lässt, lautet: Um das, was ich selbst als sinnhaft erlebe, verständlich nach außen tragen zu können, bedarf es Indikatoren, die mein Verhalten für die anderen als das von mir intendierte Handeln erkennbar machen. In diesem Zusammenhang muss auch erwähnt werden, dass Schütz die Zeichentypen nach den Transzendenzen, die überwunden werden sollen, differenziert. Beispielsweise kann das Gegebene zum Nicht-Gegebenen überschritten werden, wenn „die konkreten Erscheinungs- und Verhaltensweisen des Anderen – sein Sprechen, sein Blick, seine Gesten – als Objektivierungen subjektiv gemeinten Sinns gedeutet werden" ([27] et al. 2003: 18). Das Überschreiten der verschiedenen Transzendenzen anhand von Appräsentationen korreliert mit den Zeichentypen Merkzeichen, Anzeichen, Zeichen und Symbole, die jeweils spezifische Charakteristika aufweisen. Im Symbolaufsatz ([42] 1971 [1955], 237–411) und in den Notizbüchern ([42] 1984: 318–324) fächert Schütz die mittleren sozialen Transzendenzen in verschiedene Stufen auf. Die erste Stufe ist die Transzendenz der Welt des anderen. Davon unterscheidet er mit der Wir-Beziehung eine weitere Stufe. In ihr können andere mich u. a. durch ihre Biographie oder durch ihr Relevanzsystem transzendieren (vgl.[44] 2007: 109). Diese Ebene gehört einem geschlossenen Sinnbereich an und kann infolgedessen nur durch Symbole erfahren werden. Die beiden Stufen bilden zusammen die zweite Transzendenz. „Soziale Kollektive und institutionalisierte Beziehungen" ([27] et al. 2003: 16) weisen als Konstruktionen durch Gedanken auf die alltägliche Welt hinaus und beziehen sich auf andere Sinnprovinzen. Sie sind Komponenten der dritten Transzendenz. Die hier lediglich knapp beschriebenen Transzendenzen können durch verschiedene Zeichen überschritten werden. Das gilt selbstverständlich auch für körperliche Praktiken der Sinngebung wie etwa Stimmqualität, Mimik, Gestik oder Konnotationen. Meyer und [8] (2021: 44) weisen darauf hin, dass sich Garfinkel mit dem Fokus auf Praktikabilität u. a. auch von der Sprechakttheorie John Searls abwendet. Denn aus seinen Prämissen folgt, dass es das Ideal einer Sprechsituation gar nicht geben kann. Diese Argumentation unterstreicht noch einmal, dass die Einzigartigkeit der Handlungssituation und die Begleitumstände im Prozess der Entscheidungsfindung berücksichtigt werden müssen. Diese Unterscheidung findet sich bereits in Schütz' Sozialphänomenologie. Im Einvernehmen mit Schütz, schlägt Garfinkel vor, zur Beschreibung der sozialen Welt die Perspektive Agierender einzunehmen (vgl. vom Lehn 2019: 458). Während die bis in die 1950er Jahre dominierende sozialwissenschaftlichen Herangehensweise auf Generalisierungen und damit auf Konstruktionen zweiter Ordnung aus ist, liegt der Fokus bei Schütz und ebenso bei Garfinkel auf den Konstruktionen erster Ordnung. In der Originalschrift gibt Garfinkel Hinweise, wie er den Begriff verstanden wissen will: „When I speak of accountable my interests are directed to such matters as the following. I mean observable-and-reportable, i. e. available to members as situated practices of looking-and-telling" ([15] 1967: 1). Eine treffende Übersetzung bietet [8] (2017: 126): „Wenn ich von ‚accountable' spreche (...), meine ich damit beobachtbar-und-mitteilbar, d. h. verfügbar für die Gesellschaftsmitglieder als situierte Praktiken des Schauens und Erzählens". In den Folgearbeiten der Studien zur Ethnomethodologie setzt sich Garfinkel allmählich von der Bezeichnung ab und weitet sie auf das deutlich umfassendere Leitbild der haecceitas aus. Als Begründung für diese Neuausrichtung führen [8] (2021: 46–47) an, dass das Konzept der Indexikalität für Garfinkel zu kurz greift, da es sich ausschließlich auf sprachliche Zeichen bezieht. Garfinkel umschreibt die Parson'sche Position mit dem Begriff Korrespondenztheorie der Wirklichkeit. Diese Prämisse geht auf den Realismus zurück und beruht auf der Annahme, eine Aussage sei wahr, wenn sie mit den Tatsachen der objektiven Welt übereinstimmt bzw. wenn eine Strukturgleichheit vorliegt. In Opposition dazu entspricht die Position, die Schütz einnimmt, der Kongruenztheorie der Wirklichkeit. Ihr unterliegt die Vorstellung, dass zwischen einem wahrgenommenem und einem konkreten Objekt eine Übereinstimmung besteht. Der entscheidende Unterschied hier ist, dass soziale Welt stets „die Welt aus der Perspektive des Akteurs" (vom Lehn 2019: 458) ist. Da diese Blickperspektiven vielfältige Ausprägungen annehmen dürften, geht Schütz nicht von einer Wirklichkeit aus. In den posthum von Ursula Ludz veröffentlichten Fragmenten aus dem Nachlass behandelt Arendt die für sie grundsätzliche Frage, was Politik eigentlich ist. Die politische Theorie, die sie daraufhin entfaltet, fließt in viele ihrer Werke ein, besonders auch in die vita activa. Die Schrift, Was ist Politik? dient daher vorliegend als übergreifender Quellentext. Allerdings handelt es sich hier um eine „Form des Seins mit dem ‚Man' " ([5] 1998: 171), das Heidegger von Ausgangspunkt des Todes aus betrachtet. So verstanden rücken mit dem indefiniten „man" allgemeine Zuschreibungen im Zusammenhang mit dem Tod ins Blickfeld. Die Attribuierung bleibt in diesem Fall unbestimmt und ist nicht individualisiert. Denn der Gedanke an das eigene Ableben wird durch diese pronominale Unbestimmtheit abgewendet, was beispielsweise in der Äußerung „man stirbt eines Tages" zum Ausdruck kommt. Seyla Benhabib beschreibt die Transformation der philosophischen Kategorien Heideggers in Sein und Zeit folgendermaßen: „Das Sein-zum-Tode wird durch die Natalität ersetzt, das isolierte Dasein wird von einer Bedingtheit der Pluralität abgelöst, und anstelle des instrumentellen Handelns taucht eine neue Kategorie menschlicher Tätigkeit auf: das Handeln verstanden als Sprechen und Tun. Das alltägliche In-der-Welt-sein ist nicht mehr die Bedingtheit der Uneigentlichkeit, in die das Dasein geworfen ist, sondern wird nun stattdessen zum ‚Erscheinungsraum', in den wir als handelnde und sprechende Wesen eingefügt sind und in dem wir enthüllen, wer wir sind und wozu wir fähig sind" ([5] 1998: 175–176). Arendt verwendet die Begriffe die Politik und das Politische synonymisch, worauf u. a. auch [45] (2016: 166) hinweist. Darauf weist auch Ursula Ludz hin. Sie betont im Kommentarteil zu Arendts Schriften Was ist Politik? , dass „die Sorge um die eigene Welt die Feder der Autorin geführt hat" ([3] 2017: 153). Arendt habe sich von der traditionellen Philosophie deswegen abgewandt, weil diese „ den Menschen und nicht die Menschen in das Zentrum ihres Interesses gerückt und die Sorge um die Welt vernachlässigt habe" ([3] 2017: 153, [Hervorhebung im Original]). In diesem Zusammenhang ist wichtig zu erwähnen, dass Arendt ihren Fokus auf den Aspekt der Pluralität auch vor dem Hintergrund ihrer eigenen Erfahrungen in einem totalitären Regime wählt (vgl. z. B.[49] 1990: 19–20). Aus diesem Grund möchte Arendt sich nicht als Philosophin, sondern als politische Theoretikerin verstanden wissen. In ihrem berühmten Interview mit Günter Gaus aus dem Jahr 1964 erhebt sie diesen Anspruch mit den Worten, dass sie zwar Philosophie studiert, der Philosophie aber endgültig Valet gesagt habe. Verfügbar unter: Günter Gaus – Hannah Arendt Center for Political Studies [zuletzt aufgerufen am 01.04.2023].

By Isabel Lindinger

Reported by Author

Titel:
Die phänomenologischen Wurzeln der Gesprächsanalyse und das Politische bei Hannah Arendt: Ein Kombinationsvorschlag zur Analyse sprachlicher Interaktionen.
Autor/in / Beteiligte Person: Lindinger, Isabel
Link:
Zeitschrift: Zeitschrift für Angewandte Linguistik, Jg. 79 (2023-09-01), S. 195-230
Veröffentlichung: 2023
Medientyp: academicJournal
ISSN: 1433-9889 (print)
DOI: 10.1515/zfal-2023-2012
Schlagwort:
  • ARENDT, Hannah, 1906-1975
  • CONVERSATION analysis
  • POLITICAL science
  • HUSSERL, Edmund, 1859-1938
  • SUBJECTIVITY
  • POSSIBILITY
  • INTERSUBJECTIVITY
  • PLURALITY voting
  • Subjects: ARENDT, Hannah, 1906-1975 CONVERSATION analysis POLITICAL science HUSSERL, Edmund, 1859-1938 SUBJECTIVITY POSSIBILITY INTERSUBJECTIVITY PLURALITY voting
  • Alfred Schütz
  • analytical integration
  • conversation analysis
  • Edmund Husserl
  • Hannah Arendt
  • Harold Garfinkel
  • phenomenological sociology
  • political theory Language of Keywords: German
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Alternate Title: The Phenomenological Roots of Discourse Analysis and the Political in the work of Hannah Arendt: A fruitful combination for the analysis of interaction.
  • Language: German
  • Document Type: Article
  • Author Affiliations: 1 = Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Institut für Deutsch als Fremdsprachenphilologie Heidelberg, Germany
  • Full Text Word Count: 13442

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