Hannah Arendt's political theory remains influential in both the Humanities and the Social Sciences, including in sociology, educational sciences and political education. Arendt's works are utilized in different ways in these contexts. Within sociolinguistics and conversational linguistics, however, this does not seem to be the case. The present article aims to overcome this shortcoming by exploring opportunities for analytically integrating Arendt's understanding of the political and the conversation analysis point of view. Combining these two perspectives results in the added value of expanding the interpretive framework to include Arendt's dimensions of subjectivity, intersubjectivity, and access to the world. In line with this goal, the respective phenomenological influences of both approaches, Arendt's political theory and the phenomenological precursors of conversation analysis, are considered separately. After providing an overview of the phenomenological roots for socio- and conversation analysis (Edmund Husserl, Alfred Schütz, Harold Garfinkel), Arendt's concept of the political is discussed. Subsequently, the analytical nexus of the approaches are elaborated on in the form of three theses. It is argued that Arendt developed an innovative phenomenological concept of plurality which has the potential of forming the basis for an interpretive tool for the analysis of oral interaction (in line with Garfinkel's ethnomethodology).
Keywords: phenomenological sociology; political theory; conversation analysis; Hannah Arendt; Alfred Schütz; Harold Garfinkel; Edmund Husserl; analytical integration
Dass das Verhältnis zwischen Phänomenologie und Soziologie kein einfaches ist, darüber herrscht im Wissenschaftsdiskurs weitgehend Einigkeit (vgl. z. B. [
In diesem Beitrag möchte ich dieses Verhältnis erneut reflektieren. Anlass dafür ist, dass ich im Rahmen eines größeren Forschungsprojektes ([
Die Frage, ob beide Ansätze methodisch und analytisch für die Untersuchung von Interaktionsdaten zu kombinieren wären, erschließt sich meines Erachtens unter zwei Voraussetzungen: Die erste lautet, dass die philosophischen, phänomenologischen und soziologischen Grundlagen der Gesprächsanalyse systematisch expliziert werden müssen. Die zweite ist die, dass Arendts Begriff des Politischen und gleichermaßen auch zur Pluralität zumindest in seinen Grundzügen phänomenologisch ausgedeutet werden sollte, um ihre ganz eigene Konzeption zugänglich zu machen.
Eine solche Auslegung liegt bereits in sehr expliziter Form vor (vgl. [
Um das Potential der Lebenswelttheorie für die soziologische Interpretation Garfinkels darzulegen, gehe ich argumentativ wie folgt vor: Zunächst werde ich die auf Alfred Schütz zurückgehenden Thesen zu den Lebensweltanalysen aus der editierten Monographie Strukturen der Lebenswelt ([
Der mittlere und wichtigste Teil wirft das Schlaglicht auf den Politikbegriff Arendts und legt dessen konstitutiven Elemente frei.
Grundlegend für die Gesprächsanalyse ist die Ethnomethodologie Harold Garfinkels, welche bereits phänomenologische und soziologische Zugänge kombiniert. Von zentraler Bedeutung für [
Die Gegenstandbestimmung der verstehenden Soziologie ist hingegen
eine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen erklären will. ‚Handeln' soll dabei ein menschliches Verhalten [...] heißen, wenn und insofern als der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden. ‚Soziales' Handeln aber soll ein solches Handeln heißen, welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist (Weber 1980: 1, [Hervorhebung im Original]).
Bei allen Unterschieden gibt es mindestens folgende gemeinsame Schnittmenge, wobei die Auflistung keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt:
- (
1 ) Beide Forschungsrichtungen erkennen die Bedeutung sprachlich-kommunikativer und sozialer Handlungen an, durch die sich subjektiver Sinn und subjektive Weltsichten erst herausbilden und auch erfahren werden können. Der Kernauftrag der phänomenologischen Soziologie ist es, Sinnzuschreibungen zu rekonstruieren. Sinnzuschreibungen lassen sich als plurale Deutungen sozialer Wirklichkeit fassen, d. h. „als ein Verstehen des alltäglich bereits vollzogenen" ([14 ] 2013:106). - (
2 ) Der Sinn sozialen Handelns bezieht maßgeblich auch andere Agierende ein. Obschon sich Individuen in ihren Handlungen von konkreten Absichten, Plänen usw. leiten lassen, spielen das Beziehungsgeflecht zu anderen, die gegenseitigen Abhängigkeiten und die Begleitumstände eine zentrale Rolle für die Realisation der Handlung. Handeln lässt sich so verstanden also als „gemeinsames Geschäft" fassen, das neben der individuellen auch immer die kollektive Leistung in Rechnung stellt (vgl. z. B. Hill 2002: 11). - (
3 ) Handlungen sind maßgeblich durch die situativen Bedingungen, in die die Beteiligten „eingelassen" sind, determiniert. Ein daraus abzuleitender Grundsatz ist, dass die Interagierenden den Situationskontext des sozialen Geschehens in Betracht ziehen müssen, wollen sie sprachliche Handlungen und kommunikative Praktiken verstehen und nachvollziehen.
Die Leitfragen, die die Rezeption in Bezug auf Husserl, Schütz und Garfinkel lenken sollen, lauten wie folgt: Was ist unter Sinnkonstitution zu verstehen? Inwieweit orientiert sich Schütz hierin an Husserl? Welche Komponenten der phänomenologischen Lebensweltanalyse greift Garfinkel in seinem ethnomethodologischen Ansatz auf? Und wie entfaltet er daraus sein eigenständiges handlungspraktisches Konzept mit Blick auf die soziologische Grundfrage, wie soziale Ordnung möglich ist?
Alfred Schütz nutzt den auf Edmund Husserl zurückgehenden Lebensweltbegriff für die Theoriebildung und Methode seiner phänomenologischen Sozialtheorie. Allerdings definiert Husserl den Begriff nicht explizit und verwendet ihn auch nicht einheitlich. Was es mit diesem Konzept auf sich hat, erschließt sich in seinem unvollendeten Spätwerk Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie ([
Vorgegeben ist sie [= die Lebenswelt] uns allen natürlich, als Personen im Horizont unserer Mitmenschheit, also in jedem aktuellen Konnex mit Anderen, als ,die' Welt, die allgemeinsame. So ist sie [...] der ständige Geltungsboden, eine stets bereite Quelle von Selbstverständlichkei-ten, die wir, ob als praktische Menschen oder als Wissenschaftler, ohne weiteres in Anspruch nehmen (Krisis, 124).
Es geht Husserl um eine vortheoretische Welt, um „das Korrelat eines Gesamthorizonts sinnstiftender Subjekte" (Prechtl und Burkhard 2008: 330). Dieser Welt ist eine vorlogische Geltung zu eigen, der wir uns durch unser Denken, Handeln und Wirken gar nicht entziehen können. Zentral ist hier also der Gedanke, dass sich Menschen in einer selbstverständlichen Einstellung zur Welt befinden, allerdings ohne es zu wissen. Erfahrungskorrelate und die Spielräume, die sie bieten, stehen allen zur Verfügung. Sie sind folglich auch der Nährboden für die Naturwissenschaft. Sieht man also näher hin, dann findet wissenschaftliche Beobachtung keineswegs im luftleeren Raum statt. Sie ist nicht losgelöst von wissenschaftlichen Messungen und Erkenntnissen, die ihnen vorangegangen sind. Insofern ist auch objektiv-wissenschaftliche Praxis „lebensweltliche Anschauung" (Krisis, 132). Die Trennung zwischen Alltags- und wissenschaftlicher Erkenntnis ist damit hinfällig, da das (natur-)wissenschaftliche Ideal der Objektivität keine abstrakte und in sich geschlossene Erkenntniswelt ist. Vielmehr ist jede Forschung an subjektive Sinnbezüge und Anschauung zurückgebunden (vgl. [
Die Dichotomie zwischen Lebenswelt und Wissenschaft kommt auf diesem Hintergrund auch im phänomenologisch-soziologischen Kontext zum Tragen. Für die Gegenstandsbestimmung und Methode seiner phänomenologischen Sozialtheorie stützt sich Schütz auf den Lebensweltbegriff. Der Kernargumentation Husserls folgend fordert er: „Wissenschaft, die menschliche Belange behandeln will und darauf zielt, die menschliche Wirklichkeit zu begreifen, muss auf jene lebensweltliche Deutung gründen, welche die Menschen, die dieser Lebenswelt innewohnen, selbst vornehmen" ([
Sein Konzept der alltäglichen Lebenswelt modelliert Schütz wie folgt: Der Alltag bzw. die Welt des Jedermann ist ein Wirklichkeitsbereich, „den der wache und normale Erwachsene in der Einstellung des gesunden Menschenverstandes als schlicht gegeben vorfindet" (Bd. I, 29). Das Produkt dieser selbstverständlichen „Gegebenheit" ist ein Wissensvorrat (historisch, kulturell, religiös usw.), der aus Deutungen und Erfahrungen sozialer Gruppen hervorgegangen ist. Auf diesen intersubjektiven Interpretationsrahmen kann sich die/der Einzelne stützen. Schütz zufolge muss die soziale Welt jedoch weiter ausgelegt und bis zu einem gewissen Grad verstanden werden, um sich in ihr orientieren und „um in ihr handeln und auf sie wirken zu können" (Bd. I, 33).
Dass diese Auslegung von Welt funktionieren kann und dass sie überhaupt möglich ist, rührt einzig daher, dass in der Welt Mitmenschen koexistieren. Sie nehmen deswegen eine Sonderstellung im Gefüge der Lebenswelt ein (vgl. [
Jede neue individuelle oder kollektive Erfahrung fügt sich als Bewusstseinsleistung in bereits vorhandene Deutungsschemata ein und erzeugt erst dadurch subjektiven Sinn (Bd. I, 33–34). Sinn zu erleben ist demnach eine Verknüpfungsleistung des Bewusstseins, indem aktuelle mit vergangenen individuellen Erfahrungen oder gesellschaftlichen Wissensbeständen verbunden werden. Die Wirklichkeitsordnung bzw. Wirklichkeit der Alltagswelt konstituiert sich aus dieser Verknüpfung zwischen dem Bezugsschema der verfügbaren Wissensbestände (der Sozial- und Kulturwelt) und den nachfolgenden Auslegungen durch handelnde Subjekte. Das historische und gesellschaftliche Fundament an Wissen trägt indes bereits Sinnstrukturen in sich in Form sedimentierter Erfahrungen.
Knapp zusammengefasst beruht die Selbstverständlichkeit der sozialen Wirklichkeit auf drei Komponenten:
- (
1 ) einem Wissensvorrat, der als Interpretationsrahmen für die Ausdeutung von Welt vorliegt, - (
2 ) einem Vorrat an früheren Erfahrungen (von Mitmenschen, Lehrpersonal, Eltern usw.) auf das Menschen bauen und vertrauen können, - (
3 ) Typisierungen (z. B. die Typenhaftigkeit von Bäumen oder Steinen in der Natur), die uns in der Lebenswelt begegnen.
Aus der Beobachtung, dass Individuen bereits im alltäglichen Diskurs auf Generalsierungen, Abstraktionen oder Idealisierungen über die Konstanz der Lebenswelt zurückgreifen, folgt für Schütz die Annahme einer strukturellen Übereinstimmung zwischen alltäglichem und wissenschaftlichem Verstehen:
Die Konstruktionen, die der Sozialwissenschaftler benutzt, sind daher sozusagen Konstruktionen zweiten Grades: es sind Konstruktionen jener Konstruktionen, die im Sozialfeld von den Handelnden gebildet werden, deren Verhalten der Wissenschaftler beobachtet und in Übereinstimmung mit den Verfahrensregeln seiner Wissenschaft zu erklären versucht (Schütz 1971 a: 6–7).
Daraus resultieren wiederum mehrere methodische Postulate. Ich möchte im vorliegenden Diskussionszusammenhang lediglich zwei anführen, die für Garfinkels spätere Ethnomethodologie zentrale Anknüpfungspunkte bieten: Erstens, beansprucht das Postulat der subjektiven Interpretation, dass sich die sozialwissenschaftliche Analyse auf den subjektiv erzeugten Handlungssinn und gleichermaßen auf die situative Rahmung dessen rückbeziehen muss (eben genauso, wie es auch für die/den Handelnde(n) situativ relevant ist). Zweitens verlangt das Postulat der Adäquanz, dass die sozialwissenschaftlichen Konstruktionen mit jenen der Alltagshandelnden kohärent sind, d. h., sie müssen hinreichend zu verstehen sein (vgl. z. B. [
Dass die alltägliche Lebenswelt „von vorneherein intersubjektiv" (Bd. II, 98) ist, wurde eingangs schon erörtert. Allerdings ergibt sich daraus das Problem, dass es eine „identische Erfahrbarkeit der Gegenstände der Lebenswelt" (Bd. II, 98), je nach Standort des Subjekts, nicht geben kann. Infolgedessen müssen auch Auffassungen und Auslegungen unterschiedlich ausfallen (beispielsweise allein schon aufgrund einer anderen Biographie, abweichenden Wertvorstellungen oder Relevanzsystemen). Diese Diskrepanz könne Schütz zufolge durch zwei Idealisierungen bzw. pragmatisch motivierte Grundkonstruktionen überwunden werden: Erstens durch die Idealisierung der Vertauschbarkeit der Standpunkte. Sie unterstellt, dass mein Gegenüber die Dinge, würde er an meiner Stelle stehen, genauso sehen würde wie ich. Umgekehrt würde ich, von seinem Standpunkt aus, die Welt ebenso sehen wie er. Die zweite Idealisierung der Kongruenz der Relevanzsysteme ist von der Annahme getragen, dass biographische Auslegungen und auch Auffassungen der Welt für das Handeln und die gegenseitige Verständigung nicht von Belang sind. Folglich handeln und verständigen wir uns so, als seien unsere Erfahrungen und Auslegungen identisch. Beide Idealisierungen fasst Schütz als Generalthese der wechselseitigen Perspektiven zusammen. Einzig durch sie sind Verstehen und Verständigung in der geteilten Alltagswelt möglich (vgl. Bd. II, 100). Der Begriff des Verstehens – das ist wichtig festzuhalten – meint keinesfalls ein vollumfängliches Verstehen. Vielmehr trägt die Generalthese der Einsicht Rechnung, dass zur Aufschlüsselung nur das eigene Relevanzsystem zur Verfügung steht und dass deswegen lediglich eine relative Annäherung an die zu verstehende Äußerung möglich ist (zum erkenntnistheoretischen Problem des Fremdverstehens vgl. z. B. [
Die Art und Weise, wie wir andere erfahren, ist von unterschiedlicher Qualität, je nach Erlebnisnähe oder -intensität. Um dies deutlich zu machen, fächert Schütz die Strukturen für die Sozialwelt der Erfahrung in die Konstituenten Umwelt (Mitmenschen), Mitwelt (Zeitgenossen), Vorwelt (Menschen vergangener Epochen) und Nachwelt (Menschen zukünftiger Generationen) auf.
Die Erfahrungsdimension der sozialen Umwelt setzt voraus, dass die (an der Erfahrung) beteiligten Mitmenschen einen spezifischen Ausschnitt der sozialen Welt sowohl räumlich als auch zeitlich unmittelbar teilen (Bd. II, 101). Unter dieser Prämisse konstituiert sich eine „face-to-face Situation" und es dominiert zugleich eine spezifische Beziehungsdimension, die Schütz Du-Einstellung nennt: Diese Form der Zuwendung kann jedoch einzig dadurch entstehen, dass „ich etwas in der Welt in meiner Reichweite als ‚mir gleich' erfahre" (Bd. II, 102; vgl. auch [
Verläuft die Du-Einstellung wiederum wechselseitig, dann konstituiert sich eine Wir-Beziehung. Die besondere Intensität der Zugewandtheit und die Kongruenz zwischen Selbst- und Fremderfahrung (vgl. Bd. II, 108), die diese Perspektive eröffnet, charakterisiert beispielsweise Auer wie folgt:
Obwohl mir auch in der Wir-Beziehung nur mein eigenes Bewusstsein subjektiv voll zugängig ist, habe ich – aufgrund der zeitlichen Synchronisierung in der face-to-face-Interaktion – nirgends sonst so gut die Möglichkeit, durch Beobachtung des Verhaltens meines Interaktionspartners mittelbar auch seinen Erlebnisablauf zu erschließen. Außerdem erfahre ich, dass er mein Verhalten ebenso deutet und in seinem Verhalten berücksichtigt (Auer 2013: 124, [Hervorhebung im Original]).
Erst hier bildet sich also Intersubjektivität aus. Allerdings muss sie in der Begegnung kontinuierlich bestätigt und aufrechterhalten werden (vgl. Bd. II, 109). Schütz hebt daher an mehreren Stellen hervor, dass die Wir-Beziehung auf einen einheitlichen Erlebnisablauf und das Eingebundensein in eine Kultur- und Sozialwelt der Interagierenden angewiesen ist: „Die Lebenswelt ist weder meine private Welt noch deine private Welt, auch nicht die meine und die deine addiert, sondern die Welt unserer gemeinsamen Erfahrung" (Bd. II, 109, [Hervorhebung im Original]).
Die Mitwelt beschreibt eine Sphäre, die nicht unmittelbar erlebt wird (die also nicht durch eine räumliche und zeitliche Gemeinsamkeit bzw. aktuelle Reichweite konstituiert ist). Aus diesem Grund kann die Lebendigkeit der Wir-Beziehung in dieser Sozialkonstellation nicht mehr aufrechterhalten werden. An die Stelle von Mitmenschen treten jetzt lediglich Zeitgenossen, wobei die verlorengegangene Wir-Beziehung wiederhergestellt werden kann. Kennzeichnend für die soziale Beziehung mit Zeitgenossen ist die Ihr-Beziehung. Mitglieder dieser Zielgruppe sind daher keineswegs bestimmte Personen, sondern lediglich Typen (wie etwa typische Richter/innen oder Angestellte bei der Post, bei der Polizei usw.). Die Zugehörigkeit zum jeweiligen Typ erlaubt wiederum Zuschreibungen, also Vorhersagen eines prototypischen Verhaltens (siehe Bd. II, 120).
Zeitgenossen begegne ich nicht mehr in vis-a-vis-Situationen. Die Unmittelbarkeit der Begegnung zwischen zwei Personen fällt beispielsweise weg, wenn eine der beiden in eine entfernte Stadt umgezogen ist. Da es sich bei dieser Sozialkonstellation lediglich um mittelbare Erfahrungen der/des anderen handelt, verläuft der Kontakt weniger intensiv und weist höhere Anonymisierungsgrade auf als in Wir-Beziehungen der Fall. So verstanden handelt es sich in der Dimension der Mitwelt um Erfahrungen aus zweiter Hand. Prinzipiell können jedoch Wir-Beziehungen ebenso wie Ihr-Beziehungen hinsichtlich ihrer Unmittelbarkeit, Erlebnistiefe und Intensität variieren.
In der Vorwelt werden die ehemals aktuellen Erfahrungen zu abgeschlossenen Geschichten und damit zu vergangener sozialer Wirklichkeit. Menschen, die in dieser Welt eine Rolle spielen, gehören vergangenen Epochen an. Aus diesem Grund wird aus unmittelbarer oder mittelbarer Erfahrung jetzt erinnerte, lediglich indirekte Erfahrung. Selbstverständlich können Erfahrungen aber an die nächste Generation weitergegeben werden, sofern es sich um ehemals unmittelbar erlebte Erfahrungen handelt. Schütz plausibilisiert dies am Beispiel von Kindheitserinnerungen eines Elternteils (vgl. Bd. II, 135).
Die Nachwelt bezeichnet die Welt zukünftiger Generationen. Aufgrund der subjektiven Erfahrungen der Generationen ist es hier lediglich möglich, Annahmen bezüglich zukünftiger Entwicklungen zu formulieren (z. B., dass ein Kind in dieser zukünftigen Welt weiterleben wird).
„Alle Erfahrungen und alle Handlungen gründen in Relevanzstrukturen" (Bd. III, 253) schreibt Schütz zu Beginn seiner Erörterung zur Rolle der Relevanz bezüglich der Konstitution von Handlungssituationen. Im Folgenden differenziert er drei Relevanzdimensionen, die jedoch miteinander verknüpft sind:
- (
1 ) Thematische Relevanz (Womit ich mich, ausgehend von meiner Motivation – freiwillig oder weil es mir „auferlegt" wurde – befasse), - (
2 ) Interpretationsrelevanz (Was ich zur Lösung eines thematischen Problems als relevant erachte) und - (
3 ) Motivationsrelevanz (Was für mich auf Basis meiner Bedürfnisse, Interessen, Beweggründe usw. von Belang ist, um mich in einer Situation orientieren zu können). Schütz weist darauf hin, dass Handeln und Entwerfen motivgeleitet sind (vgl. [14 ] 2013: 111). Die Motive, die in der Motivationsrelevanz zum Ausdruck kommen, weisen eine zukünftige und eine vergangene Zeitperspektive im Hinblick auf Handlungsentwurf bzw. Handlungsziel und Handlungsdurchführung auf: Ich verfolge mit meinem Handeln ein bestimmtes Ziel („Um-zu-Motive") oder meine Motive für das Handeln sind in bestimmten Erfahrungen begründet („Weil-Motive") (vgl. Bd. III, 286–294; für eine tiefergehende Diskussion zur zeitlichen Struktur von Handlungen siehe auch [4 ] 2013: 128–129).
Die Theorie der Lebenswelt umfasst, abgesehen von der alltäglichen Wirklichkeit, noch andere Modi der Welterfahrung, die ebenfalls in Husserls Lebensweltbegriff enthalten und an dieser Stelle aus Gründen der Vollständigkeit zumindest erwähnt werden sollen: Dazu zählen beispielsweise Erfahrungsdimensionen wie die Welt des Spiels, der Fantasie, des Traums, der Kunst usw. (vgl. [
Die phänomenologische Grundlegung der Soziologie durch Schütz hält zwar inspirierende Denkanstöße bereit, geht aber im Hinblick auf die Methoden anders vor als „in der analytischen Handlungstheorie, die sich im Wesentlichen auf die Analyse der alltäglichen Verwendung von Sprache stützt. Wie in der vorangegangenen Diskussion mehrfach angesprochen, steht die Phänomenologie in der Tradition der Bewusstseinsphilosophie, deren Medium und Methode nicht die Sprache, sondern das Bewusstsein ist" ([
Doch wie wird das Handeln dann anderen Menschen zugänglich? Wie wird aus innerem Handeln soziales Handeln? Und wie wird soziale Welt konstituiert? Schütz charakterisiert Handeln zunächst vom Standpunkt des Handelnden aus als „subjektiv vorentworfenen Erfahrungsablauf" (Bd. V, 455). Damit ist Handeln erstens gleichzusetzen mit Erfahrung, zweitens ist es im eigenen Bewusstsein verankert und drittens ist es anderen Menschen nicht unmittelbar zugänglich. Dennoch kann Handeln Schütz zufolge in Form des Verhaltens (der Verkörperung von Handeln) vermittelt werden und ist dadurch für andere von außen beobachtbar (Bd. V, 454). Handeln und Verhalten unterscheiden sich allerdings dahingehend, dass dem Handeln ein Handlungsentwurf und ein Handlungsziel unterliegt: „Im Entwurf wird das Handlungsziel in der Vorstellung vorweggenommen; auf dieses Ziel beziehen sich die einzelnen Handlungsschritte" (Bd. V, 471–472) (Dies entspricht den in Abschnitt 2.5 knapp umrissenen Um-zu-Motiven). Schütz modelliert Handeln also durch eine Zeitstruktur, indem er mit dem Entwurf eine zukünftige Erfahrung vorwegnimmt. Zusätzlich ist Handlung auf die Zukunft gerichtet, in die es uns schrittweise führt. Ein weiterer Unterschied zum Verhalten ist, dass der/die Handelnde mit seinem/ihrem Handeln einen subjektiven Sinn assoziiert (vgl. [
Handeln bzw. Erfahrung ist Schütz zufolge hingegen dann soziales Handeln, wenn es auf andere bezogen ist. Das menschliche Tun allein genügt allerdings nicht. Entscheidend ist, dass das eigene Verhalten absichtlich und sinnhaft am Verhalten der anderen ausgerichtet ist. Es muss also eine Intention mit im Spiel sein (vgl. [
Erst wenn die Menschen ihr Handeln aneinander orientieren, ist soziales Handeln gegeben. Die Orientierung, die Ausrichtung, die Intention, der (subjektive) Sinn: dies alles sind letztlich synonyme Begriffe, die darauf verweisen, dass zum Handlungsbegriff eine ‚innere' Bezugnahme gehört, die im Falle des sozialen Handelns auf andere Menschen gerichtet ist.
An späterer Stelle erklärt Schütz, dass es allerdings eine Variante des Handelns gibt, die nicht am Verhalten erkennbar ist: das Denken (Bd. V, 458). Durch Denken allein ist es nicht möglich, in die Welt einzugreifen, wohl aber durch das Wirken. Schütz fährt fort, dass solche Wirkungen durch den körperlichen Vollzug manifestiert werden, und zwar nicht durch das bloße Dasein des Körpers, sondern durch Sprechen, Bewegung, Haltung u.v.m.
Schütz hat im Rahmen seiner sprachsoziologischen Vorlesungen, etwa zur Sprachentwicklung oder zum Verhältnis zwischen Sprache und Welt, Erkenntnisse verschiedener Forschungsdisziplinen integriert. Fokussiert wurde beispielsweise die Bedeutung des situativen Kontextes für das Sprechen, die der Ethnologe Bronislaw Malinowski ins Feld führte. Auch wenn die Diskussion um die Rolle der Sprache hier nicht in voller Tragweite ausgebreitet werden kann, sollen die grundlegenden Positionen zur Symbol- und Sprachentheorie und ihre Bedeutung für Schütz' Mundanphänomenologie in einem komprimierten Überblick skizziert werden. Die von Schütz angestellten sprachsoziologischen Überlegungen sind von Thomas Luckmann v. a. in Band VI der Strukturen eingearbeitet worden:
Zentral für Schütz ist der Leitgedanke, dass die soziale Welt durch das gemeinsame Handeln und Kommunizieren (einschließlich Zeichen und Symbolen) erzeugt wird. Wie der Begriff Erfahrung bei Schütz zu verstehen ist, wurde bereits besprochen (Abschnitt 2.4). Erfahrungswirklichkeiten sind Sinnprovinzen. Diese entstehen dadurch, dass wir eine Bewusstseinsleistung vollziehen müssen und deswegen sind Sinnprovinzen auf solche Leistungen zurückzuführen. Was aber geschieht, wenn das Hier und Jetzt nicht vollständig wahrnehmbar ist? Welche Optionen hat das menschliche Bewusstsein, wenn Sinndaten nicht alles umfänglich abbilden und erfassen können?
Schütz entfaltet hierfür das Prinzip der Appräsentation. In Anlehnung an Husserl versteht er darunter „die vorprädikative Fähigkeit des Bewusstseins zur Paarung zweier Elemente, vom dem nur das eine Element unmittelbar in der Erfahrung gegeben ist. Die andere, nicht vorhandene Komponente fügt das Bewusstsein in einer ‚passiven Synthesis' hinzu" ([
Anders als bei Husserl impliziert Appräsentation v. a. für den späten Schütz jedoch auch eine pragmatische Dimension. Denn er betont, dass Ordnung „im Handeln realisiert, reproduziert und verändert" ([
Die Ausgangsfrage, die Schütz zu seiner Theorie der Transzendenzen führt, ist an ein erkenntnistheoretisches Problem gebunden: Wenn es sich bei der Lebenswelt nämlich um mannigfache Wirklichkeiten handelt (Abschnitt 2.5), dann stellt sich die Frage, wie „die einzelnen Sinnprovinzen miteinander in Verbindung stehen bzw. wie die Einheit des Erfahrungszusammenhangs gewahrt, bleibt" ([
- (
1 ) Kleine Transzendenzen überschreiten die Grenzen der Erfahrung im Hinblick auf Raum und Zeit. Dazu zählen Anzeichen und Merkzeichen: Ein Anzeichen ist „ein typischer erfahrbarer Zusammenhang zwischen Ereignis a und Ereignis b, so dass das Eintreten von Beispiel a auf die Chance des Auftretens von b hinweist [...]" ([27 ] et al. 2003: 19). So ist etwa die Art der Grasbewegung ein Anzeichen von starkem Wind. Ein Knoten im Taschentuch erweist sich wiederum als handlungsrelevantes Erkennungsmerkmal. In diesem Fall handelt es sich um ein Merkzeichen. Anzeichen und Merkzeichen unterstützen uns darin, räumliche und zeitliche Transzendenzen zu überwinden. - (
2 ) Mittlere Transzendenzen beziehen sich auf die intersubjektive Welt. In ihr ist das, was erfahren werden kann, nur mittelbar zugänglich: Mitmenschen, die sich beispielsweise in meiner aktuellen Reichweite befinden, kann ich zwar sehen, jedoch geben lediglich ihre Äußerungen ein wenig Aufschluss über ihre Gedanken. - (
3 ) Große Transzendenzen können in der Alltagswelt nicht erfahren werden. Schlaf und Traum sind Beispiele hierfür. Die Erfahrung stößt im Schlaf an ihre Grenzen, weil „die Welt in meiner Reichweite, in der ich mich einigermaßen zuhause fühle, ausblenden wird, aber nicht für immer" (Bd. VI; 613).
In diesem kurzen Streifzug habe ich lediglich einige Dimensionen der phänomenologischen Lebensweltanalyse mit Relevanz für dieses Papier behandeln können. Würdigend ist indes hervorzuheben, dass das Werk von Alfred Schütz innerhalb der empirischen Soziologie zu zahlreichen weiteren Entwicklungen mit jeweils unterschiedlicher Perspektivierung und Akzentuierung führte. Zu einer der prominentesten Konzeptionen, die aufgrund ihrer radikalen Ausrichtung auf die Perspektive der Akteur/innen oftmals als „andersartige" Soziologie (vgl. vom Lehn 2019: 460) gelabelt wird, zählt die Ethnomethodologie Garfinkels. Diese ist Gegenstand des folgenden Kapitels.
Das Etikett Ethnomethodologie geht auf den amerikanischen Soziologen Harold Garfinkel zurück. Der Untersuchungsansatz ist in erster Linie methodisch zu verstehen. Denn es geht wesentlich darum, alltägliche Praktiken zu beschreiben, „mittels derer die Mitglieder einer Gesellschaft (ethnos) in ihrem Handeln das eigene Tun wahrnehmbar und erkennbar machen und die Wirklichkeit um sich sinnhaft strukturieren und ordnen" ([
Allgemeine Regeln, so Garfinkel, müssen notwendigerweise in das aktuelle Interaktionsgeschehen hinein vermittelt, sie müssen situiert werden, damit sie handlungsrelevant werden. Diese Vermittlung aber müssen die Handelnden durch die Interpretation der Regeln wie der Situation erreichen; nur durch Sinnzuschreibung und Deutung lassen sich Regeln stimmig aufeinander beziehen (Bergmann 2017: 119).
Garfinkel zweifelt nicht an, dass es möglich ist, „soziale Sachverhalte als objektiv gegebene Wirklichkeit" ([
Das innovative Moment der Ethnomethodologie ist, das Garfinkel die Organisation sozial-objektiver Wirklichkeitsphänomene konsequent als situierte Praxis fasst. Solche Alltagspraktiken werden demnach nicht im luftleeren Raum vollzogen, sondern sie korrelieren mit der sozialen Situation. Das ist kein ein einfaches Unterfangen, sondern es verlangt den Beteiligten einiges ab: Denn jede Handlungssituation und die Bedingungen, denen sie unterliegt, sind einzigartig. Garfinkel spricht gar von haecceitas, als „die einmalige, individuelle Hier-und-Jetztheit des menschlichen Daseins" (Meyer und [
Mit seiner Neupositionierung bezüglich der „Organisation der sozialen Welt" (von Lehn 2019: 459) übt Garfinkel Kritik an den struktur-funktionalistischen Prämissen Talcott Parsons. Dessen idealistische Position fußt auf der Vorstellung, dass innerhalb der Mitglieder einer Kultur konsensuell vereinbarte Normen und Werte Bestand haben, die den Mitgliedern als Handlungs- und Orientierungsrahmen zur Verfügung stünden. Auf den Punkt gebracht ist Garfinkels programmatischer Fokus wesentlich grundsätzlicher: Nicht die Wissenschaftsrationalität der Kommunikation, sondern die Rationalität der alltäglichen Lebenswelt interessiert ihn. Die von Parson aufgestellte Frage nach dem Problem der sozialen Ordnung greift er auf. Jedoch hält er dessen Methoden zur Beschreibung der sozialen Welt für unzureichend, um adäquat zu erfassen „wie der Mensch Ordnung in die Welt bringt" ([
Vor diesem erkenntnistheoretischen Hintergrund wird jetzt auch verständlich, warum Garfinkel die Akteursebene und die Ethno-Methoden der Sinngebung bei der Herstellung sozialer Ordnung zum Untersuchungsgegenstand macht (emische Perspektive). Um diesbezüglich zu „alltagstauglichen" Beschreibungen zu gelangen, lässt er Brechungs- bzw. Krisenexperimenten durchführen: Im Rahmen alltäglicher Interaktionen missachteten seine Studierenden in bewusster Absicht soziale Konventionen. Der folgende Gesprächsausschnitt veranschaulicht exemplarisch, wie Erwartungen und wechselseitige Perspektiven in einer alltäglichen Interaktionssituation auf die Probe gestellt werden können:
VP: Hallo Ray, wie geht es deiner Freundin?
E: Was meinst Du mit der Frage, wie es ihr geht? Meinst du das körperlich oder geistig?
VP: Ich meine: wie geht es ihr? Was ist denn mit dir los? (Er wirkt eingeschnappt.)
E: Nichts. Aber erklär mir doch ein bisschen deutlicher, was du meinst.
VP: Lassen wir das. Was macht deine Zulassung für die medizinische Hochschule?
E: Was meinst du damit: „Was macht sie?"
VP: Du weißt genau, was ich meine.
E: Ich weiß es wirklich nicht.
VP: Was ist mit dir los? Ist dir nicht gut?
(Beispiel aus Auer 2013: 135)
Durch diese Experimente wurden Praktiken der Wirklichkeitskonstruktion, d. h. implizite Normen, die für eine störungsfreie Kommunikation erforderlich sind und in Alltagsinteraktionen unhinterfragt bleiben, sichtbar und analytisch zugänglich. Aus diesen Prämissen folgt, dass die Sinnhaftigkeit einer (sprachlichen) Handlung nicht im Bewusstsein verankert ist. Anhand der Brechungsexperimente zeigt sich nämlich, dass sinnhafte Handlungszusammenhänge bzw. das soziale Ordnungsgeschehen aktiv und kontinuierlich im Interaktionsgeschehen vollzogen werden. Garfinkel bezeichnet diese Vollzugsdimension – treffender als es die deutsche Umschreibung vermag – als ongoing accomplishment.
So verstanden ist subjektive Sinnstiftung keine private Angelegenheit, die sich ausschließlich in den Köpfen der Agierenden abspielt, sofern sie nicht Teil des interaktiven Handelns selbst ist und beobachtet werden kann (vgl. z. B. [
Ordnungsleistungen bzw. situierte Praktiken zur Konstitution der sozialen Welt bedürfen jedoch keineswegs nur der Deutung durch die Gesprächspartner/innen. Wie unter Abschnitt 3 angeführt, verlaufen sie vielmehr methodisch. Daraus folgt, dass Handlungs- und Gesprächskontexte bestimmte Strukturmerkmale aufweisen (vgl. [
Doch welcherart sind die Methoden des Alltagshandelns? Es wurde bereits gesagt: Soziale Ordnung entsteht aus der Warte der Ethnomethodologie im praktischen Vorgang selbst, im operativen Tun. Eine Besonderheit liegt jedoch in der doppelten Eigenschaft dieses sozialen Geschehens: Während Personen nämlich Handlungen vollziehen, zeigen sie „in ihrer Praxis auch fortwährend an, was sie tun" ([
Weil Aufzeigeleistungen und weitere Hinweise darüber, wie die jeweiligen Äußerungen zu verstehen sind, unmittelbar an den interaktiven Vollzug gekoppelt sind, müssen Interagierende im Prozess der Interaktion eine gemeinsame Wissens- und Kommunikationsbasis bzw. einen common ground (vgl. [
Neben den bereits erwähnten Prinzipien accountability, accomplishment (Vollzugsdimension), der Bedeutung der Sprache, Praktikabilität und Reflexivität fließt auch das Konzepte Indexikalität in die Ethnomethodologie ein. Darauf werde ich wie folgt kurz eingehen: Indexikalität meint, dass Sprache bzw. kommunikative Praktiken in einen konkreten Verwendungskontext eingebunden sind. Dieser muss zur Deutung von Äußerungen herangezogen werden, weil sprachliche Äußerungen in den meisten Fällen uneindeutig sind. Beispiele, die in der Forschungsliteratur häufig zur Veranschaulichung herangezogen werden, sind deiktische Ausdrücke wie „du", „er", „jetzt" oder „hier". Garfinkel zufolge sind gerade indexikalische Ausdrücke ein wesentliches konstitutives Element alltäglicher Kommunikation. Ihre spezifische Bedeutung muss, es wurde mehrfach gesagt, kontextsensitiv ausgehandelt werden. Entsprechend betont [
Infolge dieser Prämissen wird – entgegen der an der Wissenschaftsrationalität orientierten Betrachtungsweise – nicht mehr davon ausgegangen, dass es eine Wirklichkeit gibt, die sich mit objektiven Kategorien vorab bestimmen lässt. Vielmehr existieren aus der Perspektive der Agierenden, die bereits bei Schütz erwähnten „mannigfaltige Wirklichkeiten" ([
Die Darstellung einiger ausgewählter Aspekte zur Lebensweltanalyse bei Schütz und zum ethnomethodologische Forschungsparadigma durch Garfinkel zielte darauf ab, gemeinsame Bezugspunkte und Schnittmengen auszuloten. Sowohl Schütz als auch Garfinkel teilen mit Rückgriff auf Husserl die Annahme, dass die Sinnstrukturen sozialer Wirklichkeit durch die Handelnden selbst konstituiert werden. Die Welt der alltäglichen Einstellung folgt diesen Prämissen zufolge eigenen Logiken und ist infolgedessen nicht gleichzusetzen mit der wissenschaftlich rationalen Vorstellung, wonach soziale Ordnung durch einen normativen Orientierungsrahmen garantiert ist. Sieht man von dieser gemeinsamen Ausgangsposition ab, gibt es erhebliche Unterschiede:
Für Schütz ist die subjektive Erfahrung ausschlaggebend und konstitutiv für die Gegebenheit der sozialen Welt (vgl. [
Garfinkels Genialität liegt darin, dass er Schütz' Lebensweltanalyse an ihrem pragmatischen Pol als alternativen Erklärungsansatz für das Problem der sozialen Ordnung interpretierte. Schütz wäre nie so weit gegangen. Garfinkel gab der Lebensweltanalyse eine soziologische Wendung, er folgte indes dem Ruf der Phänomenologie ‚Zu den Sachen selbst!' (Eberle 2021: 115).
Nach dieser phänomenologisch-soziologischen Grundlegung für die Konversations- und Gesprächsanalyse komme ich nun zum Mittelpunkt und Kern dieses Beitrages: Hannah Arendts phänomenologisches Verständnis der Pluralität bzw. des Politischen.
Arendt geht es – zumindest auf den ersten Blick – nicht um das Problem der sozialen Ordnung. Um ihre politische Phänomenologie einordnen zu können, ist es wichtig, die Beweggründe zu verstehen, die sie zu ihrem philosophischen Hauptwerk vita activa veranlasst haben. Die Schrift erscheint erstmals 1958 unter dem Titel The Human Condition in englischer Sprache. Blickt man auf die historischen Ereignisse dieser Zeit zurück, dann fällt das Augenmerk auf die Ereignisse im Jahr 1957. Der erste künstliche Satellit umkreiste die Erde, leitete das Raumzeitalter ein und führte in der westlichen Welt, in erster Linie aber in US-Amerika, zu einem Sputnik-Shock. Arendt entwirft in diesem Licht eine Kritik an der Moderne: Die Menschheit sehe sich durch diese technologischen Entwicklungen Bedingungen ausgesetzt, die sie selbst geschaffen habe und aus denen es nun kein Entrinnen mehr gebe. Die Neuzeit habe durch ihre Verherrlichung der Arbeit überdies dazu geführt, alle diesbezüglich sinnvolleren Tätigkeiten (nämlich Herstellen und Handeln) auf das bloße Niveau des Jobs, d. h. einen auf Notwendigkeit und Nützlichkeit ausgerichteten Arbeitsprozess, herunterzudrücken. Hinzu komme die ansteigende Automation, die dazu führe, dass die Menschheit die Arbeit und damit die „einzige Tätigkeit, auf die sie sich noch versteht" (VA, 19), ausgegangen ist. Arendt zeichnet das düstere Bild einer um sich greifenden Weltentfremdung, die in ein Gefühl der Verlassenheit und Isolation der modernen Massengesellschaft mündet. Damit gehe auch ein Verfall des Politischen einher. Ihre Kritik richtet sie auch an die moderne Wissenschaft, welche in einer eigentümlichen Sprachlosigkeit verharre und dadurch einen eklatanten Sinnverlust in Kauf nehme. Für jegliche Form von Erkenntnisprozessen und Sinngenese sei es jedoch hochgradig relevant, über die gewonnenen Einsichten sprechen zu können. Dennoch gibt es für Arendt einen Ausweg aus dieser selbstgeschaffenen Isolation: Sie schlägt vor, sich auf die Grundbedingungen und die Grundtätigkeiten menschlichen Lebens zurückzubesinnen. Deswegen lädt sie uns in ihrer Schrift dazu ein, mit ihr gemeinsam darüber nachzudenken, was wir tun, wenn wir tätig sind (VA, 20).
Arendt beschreibt in der vita activa die Tätigkeitsformen Arbeiten, Herstellen und Handeln, die jeweils einer Grundbedingung entsprechen: Leben, Weltlichkeit und Pluralität. Darüber hinaus sind die Grundtätigkeiten und Bedingungen zusätzlich in der „allgemeinen Bedingtheit menschlichen Lebens verankert" (VA, 25), nämlich Natalität (geboren zu sein) und Mortalität (durch Tod wieder aus der Welt zu verschwinden). Tätigkeiten, so Arendt, schaffen und ermöglichen Bedingungen. So ermöglicht beispielsweise das Herstellen, dass dauerhafte Objekte wie etwa Kunstwerke oder Bauten entstehen, die wiederum über mehrere Generationen hinweg Bestand haben. Dadurch lässt sich eine Verbindung ziehen zu der Welt derjenigen, die z. B. in den inzwischen historischen Gebäuden gelebt, gearbeitet und gewirkt haben. Solche Verweiszusammenhäng ermöglichen es, die Welt der früheren Generation zu verstehen.
Hinsichtlich der Verfallsgeschichte, die Arendt als Bezugspunkt in der vita activa anlegt, weist die Schrift deutliche Anknüpfungspunkte zur Ontologie Martin Heideggers in Sein und Zeit auf. Dennoch, darauf macht [
Es gibt darüber hinaus noch einen weiteren und im vorliegenden Zusammenhang entscheidenden Unterschied zu Heideggers Konzeption, auf den [
Im Hinblick auf die beanstandeten Entwicklungen der Moderne schließt Arendt also in wesentlichen Punkten nicht an Heidegger an. Stattdessen hebt sie hervor, dass die Gegenwartsgesellschaft selbst dazu in der Lage ist, ihre Grundbedingungen zu verändern. Die Möglichkeit, durch die praktischen Tätigkeitsformen des Sprechens und Handelns und durch den Raum des Öffentlichen, Einfluss auf die Welt im Hier und Jetzt zu nehmen, ist deswegen in Arendts Kategorien von vorneherein angelegt. Dieser Zugang ist insofern eine radikal innovative Umarbeitung von Heideggers Sein und Zeit, als Arendt „das Mitsein qua Pluralität in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen stellt" (Loidoldt 2012: 5). Nachfolgend soll expliziert werden, was es mit den Begriffe Pluralität und Politik bzw. dem tragenden Terminus das Politische, auf sich hat.
Was meint Arendt mit Pluralität? Zuallererst ist festzuhalten, dass Pluralität für Arendt keineswegs bloße quantitative Vielheit bedeutet, wie sie z. B. in der Welt der Pflanzen oder unter Tieren existiert. Ebenso wenig meint sie damit qualitative und individuelle Unterscheidungsmerkmale, wie etwa unterschiedliche Sozialisationserfahrungen oder Charaktereigenschaften. Es geht ihr also nicht um divergierende Merkmale, die sich wahrscheinlich unproblematisch benennen oder aufzählen ließen, wenn man von außen auf sich blickt. Vielheit darf daher nicht verwechselt werden mit Vervielfältigung im Sinne einer weiteren Version des Menschen, sieht man einmal von leichten Abweichungen ab (vgl. VA, 24). Stattdessen betont Arendt, dass sich Pluralität sowohl als Gleichheit als auch als Verschiedenheit manifestiert (vgl. VA, 239). Gleichheit ist relativ zu verstehen und leicht zugänglich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass Menschen z. B. in der Lage sind, sich untereinander zu verständigen oder dass sie in einer gemeinsamen Welt leben und sich somit als gleichwertig erfahren (vgl. z. B. [
Hier deutet sich bereits an, dass Arendt Handeln in Anlehnung an Aristoteles als praxis (Handeln als Selbstzweck) vs. poiesis (zweckgebundenes Handeln) fasst. Arendt beschreibt die Grundbedingung der Pluralität gleichzeitig als Faktum (vgl. VA, 239). Was sie damit aber nicht im Sinn hat, ist, Pluralität als etwas zu charakterisieren, was lediglich vorhanden ist, also als etwas, was faktisch, da ist. Vielmehr will sie uns damit sagen, dass wir nicht als „der Mensch", sondern als „die Menschen gemeinsam im Plural existieren, und dass diese gemeinsame Existenz uns politisch macht (vgl. Loidoldt 2018: 2). Deswegen korreliert die Grundbedingung der Pluralität mit dem Begriff des Politischen. Auch wenn es die Assoziation naheliegt, handelt es sich hier keineswegs um politische Rahmenbedingungen wie etwa Institutionen, politische Parteien, Politikinhalte usw. Es geht Arendt nicht um ein institutionelles Was, sondern um ein modal zu verstehendes Wie. Das Politische lässt sich daher wesentlich zutreffender als Praxis des Handelns und Sprechens, denn als Substanzbegriff fassen.
Ähnlich wie Loidoldt (2018, 2012), die in der Bedingung der Pluralität eine entscheidende Schubrichtung für eine phänomenologische Auslegung des Politischen erkennt, argumentiert auch [
„Handelnd und sprechend offenbaren die Menschen jeweils, wer sie sind, zeigen aktiv die personale Einzigartigkeit ihres Wesens, treten gleichsam auf die Bühne der Welt, auf der sie vorher so nicht sichtbar waren [...] (VA, 246). Wie Arendt weiter ausführt, zeigt sich in diesem intersubjektiven Vollzug jedoch nicht was einer ist. Dieses „was" bedarf eines Blicks von außen, denn es betrifft individuelle Eigenschaften, wie etwa das Aussehen oder Begabungen und Talente, die Menschen von Geburt an besitzen. Die Individualität und Einzigartigkeit beinhaltet jedoch stets eine Erfahrungsdimension, ein perspektivisches Sein, welches eine Innenperspektive erfordert und sich der Beschreibung bloßer Eigenschaften von einem Außenstandpunkt aus entzieht.
Es sind also nicht die Gaben und Geschenke, die Menschen einzigartig machen. Was ihre Individualität ausmacht, ist vielmehr, dass sie sich erst durch Worte und Taten in die Welt einschalten und zugleich in einem Weltkontext vor anderen erscheinen. Entsprechend hebt Benhabib hervor, dass für die Menschen „Sein und Erscheinen ein und dasselbe" ([
Zu Beginn dieses Beitrags wurde argumentiert, dass Arendts Ausarbeitungen zur Pluralität theoretisch und analytisch anschlussfähig sind an gesprächsanalytische Zugänge. Dabei muss jedoch berücksichtigt werden, dass es Arendt in der vita activa um Bedingungen geht und nicht um die tatsächlich sich entfaltenden Interaktion und die soziale Ordnung, die sich dabei herausbildet. Meine erste These zu diesem Punkt ist, dass der Fokus bei Arendt ein anderer ist. Ihr Interesse gilt den Möglichkeiten, den Weltbedingungen sowie der Weltlosigkeit zu entkommen und diesem düsteren Befund Paroli zu bieten. Arendt würde wohl behaupten, dass Weltbedingungen jederzeit und damit auch heute verändert werden können, was einzig daran liegt, dass den Menschen mit den Worten und Taten enorme Handlungs- und Erfahrungspotentiale zur Verfügung stehen. Stülpt man die positiven Optionen nämlich um, dann zeigt sich genau das Bild der Entfremdung und Weltlosigkeit, das Arendt für die Gegenwart ihrer Zeit beanstandet. Und für sie ist es ganz klar, dass dieser Zustand und die Bedingungen, die ihn herbeiführten, selbstgeschaffen sind (vgl. VA, 14). Öffnet man sich hingegen den Erfahrungen und den Handlungsformen, die für den Vollzug von Pluralität zur Verfügung stehen, dann ist den Menschen die Möglichkeit gegeben, die selbstgeschaffenen Bedingungen kontinuierlich und nachhaltig zu verändern.
Allein schon deswegen erfüllen Handlungen und Sprechakte nicht nur den Zweck der gegenseitigen Verständigung. Es sind vielmehr die Modi schlechthin, um sich in die Welt einzubringen und die eigene Stimme immer wieder aufs Neue geltend zu machen. Diese Tätigkeitsformen ermächtigen gleichermaßen dazu, die Welt – oder mit Garfinkel gesprochen –, soziale Wirklichkeit und soziale Ordnung nicht einfach hinzunehmen. Meine zweite These lautet daher, dass uns Arendt in der vita activa geradezu auffordert, genau das nicht zu tun.
Denkt man darüber nach, welche Resonanz ein Spektrum an vielfältigen Perspektiven und das öffentliche Sichtbarwerden nach sich ziehen kann, dann ist offensichtlich, dass Arendt keinesfalls von einem einhelligen Konsens ausgeht. Vielmehr – und das entspricht der Natur des Pluralitätsgeschehens – dürften sich hier auch kontroverse Gegenpositionen manifestieren in Form von Haltungen, Wertvorstellungen, Normen u.v.m. So ließe sich in Abhebung zu Parsons hinzufügen, dass ein abstraktes System an Normen und Werteorientierungen nicht ausreicht, weil sich durch das Pluralitätsgeschehen ganz neue Sinndimensionen und damit auch Ordnungsgefüge etablieren können.
An dieser Stelle scheint mir eine Aufschlüsselung von Arendts mehrdimensionalem Weltbegriff notwendig, zumal er in den Referenzwerken nicht systematisch erschlossen ist. Von Relevanz ist hierfür v. a. Arendts Vorstellungen einer intersubjektiven Weltdimension, die sie als das zweite Zwischen beschreibt und die sich einzig durch Interaktion manifestiert. Damit korreliert ihr Konzept der Öffentlichkeit, worauf ich ebenfalls eingehe. Der letzte Abschnitt dieses Beitrags soll Auskunft darüber geben, unter welchen Voraussetzungen Arendts Konzept der Pluralität für die Gestaltung von Interaktion im Anschluss an Garfinkel herangezogen werden kann. Meine abschließende These diesbezüglich lautet, dass uns Arendt auch dazu konkrete Hinweise gibt.
Arendt geht zunächst von einer bereits existierenden global zu verstehenden Welt aus, in die die Menschen hineingeboren werden und die sie mit dem Tod wieder verlassen. Hingegen beschreibt das zweite Zwischen sowohl eine Welt- als auch eine Sinndimension, die durch das Interaktionsgeschehen entsteht, die den Worten und Taten jedoch vorausgeht. Sie lässt sich als Vorstufe oder Basis für das Endprodukt fassen. Arendt meint mit dem zweiten Zwischen buchstäblich vielfältige Interessen. Sie umschreibt sie als „das, was ‚inter-est', was dazwischen liegt und die Weltbezüge herstellt, die Menschen miteinander verbinden und zugleich voneinander scheiden" (VA, 251–252; vgl. auch [
Das intersubjektive Zwischen erzeugt ein geteiltes kollektives Beziehungsgeflecht, das verschiedene Perspektiven umfasst und das Arendt als „Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten" (VA, 252) bezeichnet. Daraus folgt aber auch, dass die Welt des Zwischen auf plurale Perspektiven angewiesen ist. Sie kann überhaupt nur durch die Vielfalt und Verschiedenartigkeit der Perspektiven entstehen und konturiert den öffentlichen Bühnencharakter der Welt. Dies entspricht einer Welt als Erscheinungsraum (Abschnitt 4.3).
Weil Menschen schon allein durch ihre Geburt in eine Welt eingelassen sind, verdeutlicht Arendt mit der Hervorhebung, dass es sich um ein zweites Zwischen handelt, den Umstand, dass das interaktive Geschehen bereits in dieser für sie ersten Welt vollzogen wird. Die Interagierenden beziehen sich dabei zugleich auf Welthaftes (im Sinne dieser ersten Welt, in der wir qua Geburt neu ankommen). Schließlich ist Welt in einer dritten Bedeutung objektiv-gegenständlich zu verstehen. Unter diesem Blickwinkel ist sie das Produkt menschlicher Herstellungsprozesse. So verstanden umfasst diese Dingwelt Beständiges und Dauerhaftes, aber auch durch Menschen errichtete öffentlich-politische Institutionen. Diese „verdinglichte" Manifestation tritt den Menschen als vorgängige Welt entgegen, woran allerdings Bedingungen geknüpft sind. Denn mit dieser „Vorgängigkeit" liegt ein Kontext vor, auf den sich Menschen zwar beziehen, im Hinblick auf ihre Handlungsmöglichkeiten jedoch nicht davon unabhängig agieren können (vgl. [
Mit dem Begriff des Öffentlichen verbindet Arendt zweierlei: Erstens ist Öffentlichkeit für sie „der Raum des Erscheinens, des Sehen und Gesehenwerdens, des Wettstreits und Vergleichens, des Miteinander-Redens und Einander-Überzeugens, des Hörens und Gehörtwerdens; ein Raum, in dem Andere [sic] präsent sind" ([
Auch wenn Arendt mit dem politischen Raum die griechische Polis im Sinn hat, ist die Notwendigkeit, einen festen Platz zu errichten, von dem aus man sprechen und handeln kann, auf andere Organisationsformen und Untersuchungskontexte zu übertragen. Dies gilt für Inhalte, die interaktiv ausgehandelt werden sollen wie auch für Interaktion an sich. Das bringt die Welt des zweiten Zwischen wieder auf den Plan. Nehmen wir Arendt beim Wort, dann bedeutet das, die räumlichen und zeitlichen Voraussetzungen und Bedingungen dafür zu schaffen, dass man überall und jederzeit gemeinsam interagieren und initiativ werden kann. Dies bedarf gleichsam einer „Bühne", die die Menschen betreten dürfen und auf der jede Stimme zählt und Gewicht hat. Außerdem ist sicherzustellen, dass es einen gemeinsamen Fokuspunkt gibt, auf den man sich im Handeln und Sprechen bezieht. Nur so kann ein intersubjektiver Weltbezug entstehen, auf dessen Basis sich plurale Perspektiven und divergierende Positionen überhaupt konstituieren können. Das Resultat ist nicht nur das Produkt vieler pluraler Stimmen (was sicher auch Konflikte beinhalten kann), sondern auch eine selbstproduzierte soziale Wirklichkeit und Ordnung. Gewiss sind es nicht unbedingt die großen Weltgeschichten und Bezüge, die im Vollzug der Pluralität zum Tragen kommen. Garfinkel – und Arendt mit ihm – richten ihr Augenmerk stattdessen auf die alltägliche soziale Welt und die Ordnung um uns herum. Es dürfte deutlich geworden sein: Garfinkels Interesse gilt den bedeutungskonstituierenden Komponenten sinnhafter sozialer Kommunikation vermittels derer sich die Beteiligten in der Welt, die sie eigenmächtig hervorbringen, orientieren. Arendts politische Theorie legt darüber hinaus die conditiones für den gemeinsamen Vollzug von Pluralität offen. Pluralität impliziert bei Arendt stets Sozietät, verbunden mit der Möglichkeit, das, was wir tun, mit der Welt in Beziehung zu setzen, uns in ihr zu orientieren, aber eben auch, Neues in diesem Tun entstehen zu lassen. In diesem Licht lädt sie uns dazu ein, die Gelegenheiten beim Schopf zu packen, um gemeinsam erzeugte soziale Ordnungen bzw. Gegebenes zu transzendieren.
By Isabel Lindinger
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