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Die epistemische Verflechtung von Kanonkritik und kanonischen Repräsentationspraktiken: Mendelssohns Kritik an und Hegels Übernahme von der Ambivalenz des preußischen Emanzipationsgedankens.

Steins, Antonia
In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Jg. 71 (2023-06-01), Heft 3, S. 337-354
Online academicJournal

Die epistemische Verflechtung von Kanonkritik und kanonischen Repräsentationspraktiken: Mendelssohns Kritik an und Hegels Übernahme von der Ambivalenz des preußischen Emanzipationsgedankens 

The critical reception of racist, sexist and anti-Jewish dimensions in the works of canonical authors has moved to the center of philosophical discourse. Many of those who engage in the history of philosophy have defended the established canon and advocated for critical readings. I want to show that the current discourse on Hegel's treatment of religion misreads his position as "modern", because it does not take the works of his Jewish contemporaries into account. In my own reading of the Grundlinien, I will show that Hegel's concept of the division of Church and state does not remain neutral when it comes to religious affiliation but has a clear anti-Jewish bias (I). This serves to show that one can neither adequately identify nor address identity-based discrimination in the works of majoritarian thinkers without an equal commitment to diversifying the canon to include positions of marginalised authorship (II).

Keywords: critique of the canon; anti-Judaism; religious othering; marginalised authorship

In einem Kurzbeitrag beantwortet Petra Gehring die von der Deutschen Zeitschrift für Philosophie gestellte Frage nach dem richtigen Umgang mit Rassismus, Sexismus und Antisemitismus in den Werken deutscher Philosophen mit dem Appell, diese intensiv zu lesen. Gehring kritisiert so die Forderung, bestimmte Autoren aufgrund ihrer aus heutiger Sicht problematisch anmutenden Aussagen aus dem Kanon zu streichen. Die philosophische Lektüre, so Gehring, bedeutet noch keine Parteinahme für die zu lesenden Autor*innen, da sich diese Form des Lesens gerade durch die kritische Methode der Analyse auszeichnet. Gehring wendet sich dabei explizit gegen die mit dem Konzept der Kanonkritik verbundene Idee, dass die Identität des Forscher*innensubjekts ausschlaggebend für deren Fähigkeit zur Kritik an Diskriminierungsstrukturen ist.

Gehrings Aufruf, kanonische Autor*innen rein analytisch zu lesen, hat zur Voraussetzung, dass die Diskriminierungsstrukturen, die ihrem Denken eingeschrieben sind, unmittelbar erkenntlich sind. Diese Annahme ist in zweierlei Hinsicht fragwürdig: Zum einen besteht das Problem majoritärer Machtstrukturen gerade darin, dass sie aufgrund ihrer umfassenden Bestimmung unseres Denkens potenziell unerkannt bleiben. Zum anderen unterliegt die Gestalt von Diskriminierungsstrukturen ebenso wie diejenige anderer politischer Phänomene einem historischen Wandel. Sowohl die immanente Selbstverschleierung von Machtstrukturen als auch der Wandel ihrer historischen Erscheinungsform bedeuten, dass diese auch durch eine Lektüre, die sich noch so sehr der unvoreingenommenen Kritik verschreibt, ohne zusätzliche Informationen potenziell unerkannt bleiben. Da majoritäre Autor*innen sich ohne Widerstände durch soziale Strukturen bewegen können, ist es naheliegend, nach diesen Informationen bei minoritären Denker*innen zu suchen, sofern diese sich in ihrer theoretischen Arbeit Diskriminierungsstrukturen gewidmet haben.

Die philosophische Praxis ist in ihrem besten Sinne insofern unvoreingenommen und neutral, als sie neue Möglichkeitsräume in unserem Subjektverständnis und unserer Konzeptualisierung von Freiheit eröffnen kann: nämlich dann, wenn sie sich darauf richtet, die unhinterfragten Hintergrundannahmen unseres Denkens kritisch zu beleuchten. Verstehen und betätigen wir Kanonkritik als eine Arbeit in diesem Sinne, so bleibt sie der philosophischen Analyse nicht äußerlich, sondern muss im Gegenteil selbst als eine Manifestation philosophischer Praxis anerkannt werden. Insofern als die philosophische Gegenwart von philosophiehistorischen Fragen und Begriffshorizonten geprägt ist, gilt es also durchaus, diese Texte zu lesen, jedoch sollte die bewusste Zielsetzung einer Überwindung majoritär-diskriminierender Denkmuster in diese Lektüre unbedingt Eingang finden. Anhand des Kontrasts zwischen der Bestimmung des Verhältnisses von Staat und Religion in Hegels § 270 der Grundlinien der Philosophie des Rechts und Moses Mendelssohns Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum werde ich demonstrieren, dass die einseitige Lektüre majoritärer Denker unsere Fähigkeit zur Identifikation diskriminierender Denkmuster und damit auch die Überwindung derselben blockiert. Um die Wirkung einseitig-majoritärer philosophiehistorischer Rezeptionen auf Gegenwartsdiskurse zu demonstrieren, stelle ich dieser Auseinandersetzung nachfolgend eine kurze Übersicht des aktuellen Stands der Hegel-Forschung zum Verhältnis von Staat und Religion voran.

1 Moderne Religion, Religion der Moderne. Die gegenwärtige Rezeption des Hegel'schen Toleranz...

In der aktuellen Hegel-Forschung wird die Bestimmung des Verhältnisses von Staat und Religion im § 270 in den Grundlinien der Philosophie des Rechts als eine relevante Quelle für gegenwärtige politische Konflikte präsentiert. Dieser Aktualitätsanspruch wird von zwei Thesen hergeleitet. Die erste besagt, dass religiöse Motive entgegen der sogenannten Säkularisierungsthese nicht zunehmend aus dem Raum des Politischen verschwinden, sondern die säkulare politische Ordnung durch die Wiederkehr fundamentalistischer religiöser Bewegungen bedroht ist. Während diese erste These eine empirische Phänomenbeschreibung beinhaltet, betrifft die zweite These den Stand der philosophisch-politischen Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Staat und Religion. Hegel, so die Herausgeber eines 2009 erschienenen Sammelbands mit dem Titel „Staat und Religion in Hegels Rechtsphilosophie", habe auf die Frage nach dem Verhältnis von Staat und Religion eine Antwort gefunden, die zugleich den Staat von der Bindung an eine bestimmte Religion löst und der Religiosität dennoch eine legitime Fortexistenz in der Moderne zuspricht.

Der Nachweis der Modernität Hegels wird in der Literatur anhand der Abgrenzung seiner Position von zwei weiteren historischen Standpunkten vorgenommen: der Einschränkung der Religionsfreiheit durch den Staat in Thomas Hobbes' Leviathan (1) und der Infragestellung der selbstständigen Legitimation des Staats durch den Ruf nach einer Wiederherstellung der Einheit von Staat und Christentum durch die europäische Restaurationsbewegung (2). Beide Positionen zeichnen sich dadurch aus, dass sie religiöse Differenz als eine Quelle politischer Konflikte behandeln und diese Konflikte durch die Herstellung religiöser Homogenität zu beseitigen trachten. In Hobbes' Fall geschieht dies durch eine radikale Beschränkung der Religionsfreiheit durch den Staat, während im zweiten Fall der Staat durch die Religion vereinnahmt wird.

Wie Walter Jaeschke in einem Beitrag zum oben genannten Sammelband einleuchtend aufzeigt, ist Hegels Position im Kontrast zu den beiden genannten Standpunkten durchaus in dem Sinne „modern", als seine Deutung des Verhältnisses von Staat und Religion der gegenwärtigen säkularen Ordnung deutlich näher kommt als jene seiner Vorgänger und Zeitgenossen. Denn Hegel löst die Spannung zwischen Staat und Religion nicht auf, indem er einseitig für den Staat oder die Religion Partei ergreift. Stattdessen erklärt er, dass der Staat durchaus verschiedene religiöse Gruppen gewähren lassen kann, da seine Stärke gerade darin besteht, dass er selbst in seiner Legitimation von der Religion unabhängig ist. Diese Eigenständigkeit des Staats bedeutet jedoch nicht das Ende der Bedeutung der Religion, sondern nur die Beschränkung ihres Funktionsbereichs auf die Subjektivierung des Individuums. Hegels Grundlinien erscheinen wegen der Gleichzeitigkeit, mit der sie die eigenständige Souveränität des Staats und das Fortleben der Religion denkbar machen, als eine geradezu passgenaue Schablone für die Suche nach einem politischen Deutungshorizont für religiöse Fragen nach der Aufgabe der sogenannten „Säkularisierungsthese".

Diese Orientierung an Hegel bedeutet die Übernahme der von Hegel gestellten Fragestellung: Wie lässt sich der Staat gegen religiöse Vereinnahmungen verteidigen? In seinem etwa 40 Jahre zuvor erschienen Werk Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum macht Mendelssohn darauf aufmerksam, dass die Gegenüberstellung eines chaotischen Zustands religiöser Differenz und einer stabilen staatlichen Ordnung übersieht, dass die Harmonisierung von Staat und Religion sich meist auf Kosten der Gewissensfreiheit vollzieht. Mendelssohn rückt so eine andere Problemstruktur in den Mittelpunkt seiner Untersuchung des Verhältnisses von Staat und Religion: die Diskriminierung religiöser Minderheiten durch den Staat. In einer ausführlichen Anmerkung zum viel zitierten § 270 der Grundlinien äußert sich Hegel explizit zur Stellung der preußischen Juden. Aufgrund der dortigen Verteidigung der Emanzipation von 1812 wird Hegel von Jaeschke umso nachdrücklicher als ein moderner Denker gedeutet. Betrachtet man diese Anmerkung jedoch näher, so wird deutlich, dass Hegels Konzept religiöser Duldung nicht mit einer Parteinahme für das Recht auf die religiöse Selbstbestimmung des Individuums verwechselt werden darf. Dies ist nicht allein für die Frage, wie Hegels Verhältnis zum Judentum aus heutiger Sicht zu bewerten ist, von Relevanz. Denn indem die heutige Hegel-Forschung den § 270 zum beispielhaften Exempel der Vereinbarkeit von Staat und Religion erklärt, übernimmt sie von Hegel zugleich die einseitige Problematisierung einer Bedrohung des Staats durch die Religion, während das für die Religionsfreiheit ebenso relevante Prinzip der Freiheit der Religion vom Staat keine entsprechende Berücksichtigung erfährt.

2 Hegels Übernahme des ambivalenten preußischen Emanzipationsbegriffs

2.1 Die Ambivalenz des preußischen Emanzipationsgedankens

Hegel äußert seine Unterstützung für die Emanzipation von 1812 in der Anmerkung zum § 270 mit Klarheit und Nachdruck. Die Emanzipationspolitik der preußischen Regierung erzeugte eine antijüdische bzw. frühantisemitische publizistische Gegenwehr, in deren Licht Hegels Verteidigung der Emanzipation als eine solidarische Geste gewertet werden muss. Doch die Frage nach antijüdischem Ressentiment erschöpft sich nicht im Für und Wider der Emanzipation, denn das preußische Regierungshandeln den Jüdinnen_Juden gegenüber war selbst nicht eindeutig auf deren Befreiung und Gleichstellung gerichtet, sondern in sich ambivalent verfasst. In der Einleitung zu seiner eindrücklichen Studie Die jüdische Aufklärung: Philosophie, Religion, Geschichte skizziert Christoph Schulte auf besonders prägnante Art die Situation, in der sich jüdische Denker vor der Emanzipation von 1812 befanden. Da die Emanzipation selbst durch einen vorangehenden Diskurs um die sogenannte „bürgerliche Verbesserung der Juden" vorbereitet wurde, ist Schultes Darstellung instruktiv für die Deutung des späteren preußischen Regierungshandelns und damit auch für Hegels Unterstützung desselben.

Im Berlin des späten 18. Jahrhunderts entstand mit der sogenannten Haskala eine jüdische Aufklärungsbewegung, die darauf zielte, der prekären Stellung des Judentums durch die Aneignung von profanem Wissen und eine verbesserte Teilhabe an Staat und Gesellschaft entgegenzuwirken. Wie Schulte betont, war die Haskala keine religionsfeindliche Aufklärungsbewegung. Ihre Leitfiguren waren von der Vereinbarkeit ihrer jüdischen Religionszugehörigkeit mit ihrem Glauben an die Aufklärung überzeugt. Aufseiten der christlichen Majorität wurde dagegen davon ausgegangen, dass es zwar wichtig sei, Juden als Menschen durch eine Verbesserung ihrer Rechtsstellung zu befreien – die jüdische Religion selbst wurde (ganz in der Tradition des christlichen Antijudaismus) dagegen als veraltet und nicht modernisierbar verstanden. Für sie war die Frage nach der Verleihung bürgerlicher Rechte an Juden Teil eines notwendigen Assimilationsprozesses, als dessen langfristige Konsequenz und Zielgröße die Konversion galt. Der befreienden Wirkung aufklärerischen Denkens wurde so unmittelbar eine Grenze eingeschrieben und die Idee der Assimilation nahm den Ort ein, den andernfalls die Idee einer vollumfassenden Religionsfreiheit hätte einnehmen können.

Während die Emanzipation von 1812 und die damit einhergehende Berechtigung zur Wahl des Wohnsitzes und weiterer bürgerlicher Rechte gegenüber ihrer zuvor besonders vulnerablen Position als eine reale Verbesserung der Lebenssituation der preußischen Jüdinnen_Juden gewertet werden müssen, blieben jüdische Männer auch nach 1812 vom Wehrdienst und dem höheren Staatsdienst ausgeschlossen. Diese begrenzte Verleihung bürgerlicher Rechte macht sichtbar, dass die Deutung des preußischen Staatshandelns als eine politische Realisierung des aufklärerischen Ideals der Religionsfreiheit zwar nicht gänzlich zurückgewiesen werden sollte, aber nur begrenzt zutreffend ist. Denn das Prinzip der religiösen Neutralität des Staats beinhaltet eine vollständige Absage an die Verleihung von Rechten als Privilegien entlang der Religionszugehörigkeit. Preußische Juden sahen sich durch die unvollständige Gleichberechtigung der jüdischen Religionszugehörigkeit damit konfrontiert, dass ihre religiöse Identität ihnen den Zugang zum höheren Beamtendienst (und damit auch zum universitären Lehramt) fortwährend verstellte, weshalb auch nach 1812 ein Assimilationsdruck fortbestand. Das Emanzipationsedikt ist das Abbild eines majoritären Aufklärungsverständnisses und bleibt so hinter dem Ziel der Haskala, der Anerkennung der preußischen Juden als Juden, zurück.

2.2 Verteidigung der Emanzipation. Fortschreibung des Verdachts: Hegels Anmerkung zum § 270 d...

Vor dem Hintergrund dieser Ambivalenz des preußischen Staatshandelns erscheint die Anmerkung zum § 270 in einem neuen Licht. Hegels Grundlinien sind explizit zugleich ideell und empirisch verfasst, da sie dem Autor zufolge zugleich die Idee des modernen Staates und dessen reale Ausformung in Preußen beschreiben. Diese Nähe der Rechtsphilosophie zum preußischen Staat spiegelt sich zum einen in seiner eindeutig positiv zu bewertenden Unterstützung der Emanzipation wieder, doch sie zeichnet auch die Art und Weise, wie er auf die Frage nach der friedlichen Koexistenz differenter religiöser Gemeinden zugreift. So lautet die Passage im Haupttext, an die sich die viel zitierte Anmerkung zu § 270 angefügt findet:

Der in seiner Organisation ausgebildete und darum starke Staat kann sich hierin desto liberaler verhalten, Einzelheiten, die ihn berührten, ganz übersehen und selbst Gemeinden (wobei es freilich auf die Anzahl ankommt) in sich aushalten, welche selbst die direkten Pflichten gegen ihn religiös nicht anerkennen, indem er nämlich die Mitglieder derselben der bürgerlichen Gesellschaft unter deren Gesetzen überläßt und mit passiver, etwa durch Verwandlung und Tausch vermittelter Erfüllung der direkten Pflichten gegen ihn zufrieden ist.

In dieser Passage kommt der in der Hegel-Forschung viel berufene Begriff des starken Staats in eben dem Sinne zum Einsatz, in dem er rezipiert wird. Der starke Staat, so Hegel, kann auch solche religiösen Gruppierungen tolerieren, die „selbst die direkten Pflichten gegen ihn nicht anerkennen". Hier tritt also explizit die Figur der Bedrohung des Staats durch ihm gegenüber antagonistisch eingestellte religiöse Gruppen auf, die zur Begründung der mangelnden Erfüllung ihrer staatsbürgerlichen Pflichten religiöse Argumente heranziehen. Der starke Staat kann diese Gruppen mit zwei Einschränkungen dulden: Ihre Mitgliederzahl darf ein gewisses Maß nicht überschreiten (1) und diese Personen sind nicht Teil des Staats, sondern partizipieren allein an der bürgerlichen Gesellschaft (2). Letztere Einschränkung bedeutet im Kontext der Grundlinien keine geringfügige Einschränkung, da erst der Staat der Ort einer substanziellen Gemeinschaft ist, deren Bedeutung sich über den Zweck der ökonomischen Bedürfnisdeckung hinaus erstreckt. Wenn Hegel nun in diesem Kontext in einer Anmerkung über das Judentum spricht, ist hier von Beginn an zweierlei gegeben:

  • Die jüdische Religionszugehörigkeit wird unmittelbar als dem Staat gegenüber antagonistisch eingeführt.
  • Der Ausschluss vom Staat und die Beschränkung auf die bürgerliche Gesellschaft, wie sie de facto in der Zugangsbeschränkung zu öffentlichen Ämtern im Emanzipationsedikt festgeschrieben wurde, wird von Hegel übernommen und validiert.
  • In der Anmerkung selbst äußert sich Hegel zunächst zum Pazifismus der Quäker und geht dann dazu über, die Emanzipation von 1812 zu verteidigen. Er legitimiert diese dabei jedoch bezeichnenderweise nicht mit dem Verweis auf die grundsätzliche Unvereinbarkeit religiöser Diskriminierung mit dem Selbstbestimmungsrecht der Person im Sinne der Religionsfreiheit. Hegels Verteidigung des preußischen Regierungshandelns liest sich stattdessen als eine Unterstützung für die politische Strategie einer Assimilation durch Annäherung:

    So formelles Recht man etwa gegen die Juden in Ansehung der Verleihung selbst von bürgerlichen Rechten gehabt hätte, indem sie sich nicht bloß als eine besondere Religionspartei, sondern als einem fremden Volke angehörig ansehen sollten, so sehr hat das aus diesen und anderen Gesichtspunkten erhobene Geschrei übersehen, daß sie zuallererst Menschen sind und daß dies nicht nur eine flache, abstrakte Qualität ist (§ 209 Anm.), sondern daß darin liegt, daß durch die zugestandenen Rechte vielmehr das Selbstgefühl, als rechtliche Person in der bürgerlichen Gesellschaft zu gelten, und aus dieser unendlichen, von allem anderen freien Wurzel die verlangte Ausgleichung der Denkungsart und Gesinnung zustande kommt.

    Zu Beginn dieser Passage verweist Hegel auf die Rechte der Juden als Menschen. Dieser Hinweis könnte zusammen mit dem Verweis auf die Anmerkung zum § 209, in dem die Idee der personalen Rechte und der Freiheit von identitätsbezogener Diskriminierung eingeführt wird, als ein Appell an das Ideal der „Gleichheit vor dem Gesetz" verstanden werden. Fügt man jedoch die zweite Satzhälfte an, so wird deutlich, dass die Verleihung von bürgerlichen Rechten nicht als Selbstzweck, sondern als Mittel zur Herbeiführung einer fortschreitenden Assimilation verteidigt wird. Dies reflektiert die in der preußischen Debatte vorherrschende Idee, dass Jüdinnen_Juden zwar als Menschen eine verbesserte juristische Stellung zugestanden werden sollte, ihre jüdische Identität jedoch nicht im gleichen Sinne anerkannt werden könne. Im Gegenteil, in der kurzen Passage kommt ein altes Vorurteil zur Sprache: die unterstellte Unfähigkeit der Jüdinnen_Juden zur „treuen" Staatsbürgerschaft aufgrund ihrer „nationalen" jüdischen Identität. Hegel richtet sich (ebenso wie die christliche Majorität als Ganze) nicht gegen die antijüdischen Vorurteile der Vergangenheit, sondern behält eine grundsätzliche Haltung des Verdachts gegenüber dem Judentum bei. So erscheint die Emanzipation nicht allein als Ausdruck der Behebung eines politischen Missstands, sondern immer auch als eine „großzügige" Geste des Staats gegenüber einer religiösen Minderheit, die sie nicht im eigentlichen Sinne „verdient" hatte:

    Nur durch seine sonstige Stärke kann der Staat solche Anomalien übersehen und dulden und sich dabei vornehmlich auf die Macht der Sitten und der inneren Vernünftigkeit seiner Institutionen verlassen, daß diese, indem er seine Rechte hierin nicht strenge geltend macht, die Unterscheidung vermindern und überwinden werde.

    Die jüdischen Gemeinden sind also aus Hegels Sicht „Anomalien" und der Staat kann sie nur „aufgrund seiner sonstigen Stärke" dulden. Hegels Bezugnahme auf die preußischen Jüdinnen_Juden bleibt so der Idee verhaftet, dass diese in irgendeinem Sinne dem Staat gegenüber als Antagonist*innen zu verstehen seien.

    2.3 Wie umgehen mit Hegels Antijudaismus?

    Anhand einer eingehenden Lektüre der Anmerkung zum § 270 lassen sich vier Schlüsse für die Frage nach einem angemessenen Umgang mit Hegels Bestimmung des Verhältnisses von Staat und Religion ziehen:

  • Hegels Bestimmung des Verhältnisses von Staat und Religion ist insofern „modern", als er die institutionelle Trennung beider befürwortet.
  • Sein säkularer Standpunkt betont jedoch die Bedrohung des Staats durch religiöse Gemeinden und Bewegungen weitaus stärker als die Bedrohung der Religionen durch den Staat.
  • Hegels Standpunkt gegenüber der jüdischen Minorität ist weder „besser" noch „schlechter" als jener seiner Regierung: In seiner Anmerkung verteidigt er die Emanzipation, aber er legitimiert auch die Privilegierung der christlichen Majorität und reproduziert so eine antijüdische Haltung des Verdachts.
  • Der antijüdische Charakter von Hegels Denken liegt für heutige Leser*innen nicht notwendig offen zutage, sondern kann nur nach einer Berücksichtigung der historischen Rahmenbedingungen erschlossen werden.
  • Hegels Verteidigung der Trennung von Staat und Kirche muss im Kontext seiner Zeit als ein Eintreten für eine moderne Idee verstanden werden, und dieses Moment der Rechtsphilosophie lässt sich für heutige Debatten durchaus produktiv nachen. Bleibt die antijüdische Prägung von Hegels Anmerkung zum § 270 jedoch unbeachtet, so hat dies zum einen zur Konsequenz, dass das komplexe Ineinanderwirken der Geschichte antijüdischer Diskriminierung im christlich-majoritären Europa und der christlich geprägten Philosophie im 19. Jahrhundert philosophiegeschichtlich ohne Berücksichtigung bleibt. Diese fehlende historische Kontextualisierung birgt wiederum die Gefahr einer unbewussten Übernahme struktureller Probleme. So wird etwa die Überbetonung der Bedrohung des Staats durch „die" Religion und die Behandlung religiöser Differenz als ein politisches Problem von weiten Teilen der gegenwärtigen Hegel-Forschung übernommen. Das Bild von Preußen als einem Aufklärungsstaat behauptet sich hartnäckig gegen eine kritische Korrektur. Um der Fortschreibung eines majoritären Geschichtsbilds (1) und der damit potenziell verbundenen unbewussten Übernahme einseitig-majoritärer Problemstellungen (2) entgegenzuwirken, muss sich die philosophiegeschichtliche Forschung für einen breiteren Kanon an deutschsprachigen Philosophien öffnen.

    3 Der Horizont der Fragestellung: Mendelssohns Kritik religiöser Diskriminierung

    Hegels Staatsverständnis ist modern, insofern er die Trennung von Staat und Kirche befürwortet. Indem er jedoch Hobbes' Deutung religiöser Pluralität als eine dem Staat grundsätzlich antagonistische Größe übernimmt, bleibt eine Logik der Verdächtigung erhalten, die wiederum die mangelnde Gleichheit jüdischer Bürger vor dem Gesetz legitimiert. Bereits knapp 40 Jahre vor der Veröffentlichung der Grundlinien und 20 Jahre vor der Emanzipation von 1812 hat Mendelssohn in seiner Schrift Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum den beschränkten Horizont der Fragestellung problematisiert, den die Hobbes'sche Gegenüberstellung von Staat und Religion eröffnet.

    Äußerer Anlass des Werks war eine anonym veröffentlichte Schrift, in der Mendelssohns Plädoyer für religiöse Duldsamkeit als eine Hinwendung zu den Werten des Christentums gedeutet wurde. Der Autor forderte Mendelssohn als Konsequenz dieser Beurteilung dazu auf, entweder zum Christentum zu konvertieren oder dessen Wahrheitsanspruch argumentativ zu widerlegen. Durch diesen Angriff sah sich Mendelssohn, der Zeit seines Lebens nie eine volle bürgerliche Gleichstellung erfuhr, vor die Herausforderung gestellt, die jüdische Religion als Mitglied dieser minoritären Gruppe zu verteidigen, ohne dabei in einen potenziell folgenreichen Konflikt mit der christlichen Öffentlichkeit und Staatsgewalt zu geraten. In Jerusalem findet sich eine dieser Schwierigkeit entsprechend subtile und vielseitige Verteidigung der Gewissensfreiheit: Im ersten Abschnitt wird das Verhältnis von Staat und Religion unter diesem Gesichtspunkt untersucht und im zweiten Abschnitt demonstriert Mendelssohn, dass die jüdische Tradition mit seiner Konzeption der Gewissensfreiheit nicht nur vereinbar, sondern als Basis einer duldsamen und aufgeklärten religiösen Lebensform besonders gut geeignet ist.

    Mendelssohn, der als prominentes Mitglied der jüdischen Minorität zu einer Abkehr von dieser aufgerufen wurde, antwortet auf diesen Angriff als Philosoph und als Jude. Während in Hegels Konzeption Gesinnungsdifferenzen einen grundsätzlichen Risikofaktor darstellen (den der starke Staat nur in Maßen dulden kann), geht Mendelssohn von einer grundsätzlichen und natürlichen Vielfalt der Bekenntnisse aus und erklärt die Sicherung der Gewissensfreiheit zur Voraussetzung einer legitimen Bestimmung des Verhältnisses von Staat und Religion. Seine Argumentation ist zugleich epistemisch und naturrechtlich: Da der Mensch selbst seine eigenen Überzeugungen nie vor einer Veränderung durch verbesserte Einsicht schützen kann, dürfen Privilegien grundsätzlich nicht an ein Bekenntnis zu bestimmten Überzeugungen gebunden werden. Im Gegenteil sind innere Überzeugungen von Natur aus variabel. Wenn uns neue Fakten begegnen, ändern sich unsere Überzeugungen, ohne dass dies durch eine noch so aktive Willensbeteiligung zu verhindern wäre, sodass es das natürliche Recht des Menschen ist, nicht nach seinen Überzeugungen, durchaus aber nach seinen Handlungen bewertet zu werden. So stellt etwa die Praxis der Vereidigung von Amtsträgern auf bestimmte Grundsätze Mendelssohn zufolge eine illegitime, da funktionell unmögliche, Verpflichtung eines Individuums auf das Fürwahrhalten einer (wie zuvor gezeigt) notwendig veränderlichen innerlichen Überzeugung dar. Indem die Gewissensfreiheit als eine notwendige Vorbedingung bei der Aushandlung des Verhältnisses von Staat und Religion und nicht als dessen mögliche Konsequenz verstanden wird, verändert Mendelssohn den Horizont der Debatte über die Religionsfreiheit. Hegel fragt danach, wieviel Religionsfreiheit der Staat gewähren kann. Mendelssohn fragt dagegen, wie Religionsfreiheit im je konkreten Fall zu realisieren ist. Einzelne Praktiken wie die des Amtseids müssen zu diesem Zweck dahingehend untersucht werden, ob sie mit der Wahrung der Gewissensfreiheit vereinbar sind.

    In Jerusalem und vor allem in der zuvor erschienen Vorrede zu einer neuen Übersetzung von Manasseh ben Israels Rettung der Juden zeigt Mendelssohn jedoch nicht allein anhand systematischer Überlegungen die Notwendigkeit einer konsequenten Verpflichtung des Staats auf das Prinzip der Religionsfreiheit auf, sondern belegt diese Notwendigkeit zusätzlich mithilfe von Verweisen auf die prekäre empirische Position seiner Glaubensgenoss*innen. Anders als in Hegels oder gar in Hobbes' Behandlung des Verhältnisses von Staat und Religion tritt die Gewissens- und Religionsfreiheit so nicht als eine Größe in Erscheinung, über die der Staat anhand einer Risikoeinschätzung verfügt. Stattdessen macht Mendelssohn vermittels seiner Erfahrungswerte als Mitglied einer religiösen Minorität deutlich, dass nicht allein eine mangelnde juristische Gleichstellung, sondern auch die von Vorurteilen getragene Verdächtigung, die diese scheinbar legitimiert, untragbare Konsequenzen mit sich führt. So klagt Mendelssohn etwa im Kontext seiner Kritik am Amtseid über die Ungerechtigkeit, die einer grundsätzlichen Haltung des Verdachts innewohnt. Mendelssohn erklärt, dass davon auszugehen ist, dass viele Würdenträger mit den Grundsätzen, auf die sie beeidigt wurden, nicht völlig übereinstimmen und zeigt so die besondere Ungerechtigkeit auf, die dem Vorbehalt gegenüber jüdischen Personen innewohnt:

    [U]nd saget alsdenn noch, man könne meiner unterdrückten Nation keine bürgerliche Freyheit einräumen, weil so viele unter ihnen die Eide gering achteten! – Ach! Gott bewahre mein Herz vor menschenfeindlichen Gedanken! Sie könnten bey dieser traurigen Betrachtung gar leicht über Hand nehmen.

    Mendelssohns Einbindung der realen Konsequenzen einer unvollständigen Gewährung der Gewissensfreiheit macht deutlich, dass die Verdächtigung von Individuen aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit und der damit verbundene Ausschluss von einer vollen gesellschaftlichen Teilhabe für die Betroffenen eine untragbare Ungleichbehandlung bedeuten.

    Indem Mendelssohn die Möglichkeit eines gleichberechtigten Miteinanders zum Maßstab des Verhältnisses von Staat und Religion erklärt, verschiebt er den Horizont der von Hobbes ausgehenden Frage nach der Vereinbarkeit von öffentlichem Frieden und Religionsfreiheit. An die Stelle der Idee einer Gefährdung des Staats durch einen Mangel an religiöser Homogenität unter seinen Einwohner*innen tritt die Einsicht, dass vielmehr die Ungleichbehandlung auf Basis der Religionszugehörigkeit der Lebensrealität der jüdischen Minorität zu seiner Lebenszeit eine tiefe Prekarität einschrieb. Vor dem Hintergrund der Untragbarkeit der realen Unfreiheit der preußischen Jüdinnen_Juden wird in einem Ausschnitt aus der Schlusspassage von Jerusalem deutlich, was die Voraussetzung für eine wahre religiöse Gleichberechtigung wäre: „Lasset niemanden in euern Staaten Herzenskündiger und Gedankenrichter seyn; niemanden ein Recht sich anmaßen, das der Allwissende sich allein vorbehalten hat!" Stellen wir die Frage nach dem Verhältnis von Staat und Religion in der Hobbes'schen Tradition allein aus der Perspektive des durch Fanatismus bedrohten Staats, so bleibt uns diese wichtige Einsicht verschlossen: Ein im normativen Sinne modernes Verhältnis von Staat und Religion darf nicht allein in der Beschränkung letzterer bestehen, sondern muss eine aktive Verpflichtung auf den Schutz der Bekenntnisfreiheit (insbesondere) minoritärer Religionsangehöriger beinhalten!

    4 Fazit: Minoritäre Autorschaft und Kanonkritik

    Mendelssohn präsentiert seinen Standpunkt ebenso wie Hegel in Form von Argumenten, die für alle Leser*innen unabhängig von ihrer je eigenen religiösen Identität verstanden werden können. Anders als Hegel beleuchtet Mendelssohn das Spannungsverhältnis von Staat und Religion jedoch aus dem Blickwinkel der jüdischen Minorität, der er selbst angehört. Wie im vorangegangenen Abschnitt demonstriert, legt Hegel nahe, dass bestimmte Merkmale der jüdischen Minorität deren umfassende Gleichstellung verhindern. Indem Mendelssohn Vorbehalte gegenüber der jüdischen Minorität und ihrer Religion als Vorurteile ausweist, wird sichtbar, dass es diese Fortschreibung antijüdischer Vorurteile ist, die die schlechtere gesellschaftliche Stellung von jüdischen Bürgern produziert. Mendelssohn denkt die Religionsfreiheit vom Ziel ihrer vollständigen Realisierung her und fügt so nicht allein eine weitere Antwort auf die von Hobbes gestellte Frage an, sondern verändert die Fragestellung selbst.

    Während auch majoritäre Autor*innen politische Diskriminierung prinzipiell beobachten und beschreiben könnten, besteht das Problem majoritären Denkens in dem hier behandelten Fall gerade darin, dass sich der majoritäre Standpunkt bereits durch die Art und Weise, in der er Problemstellungen fasst, für die Notwendigkeit, sich dieses Wissen anzueignen, blind macht. Die Kritik an einem allein aus majoritären Autor*innen zusammengesetzten Kanon ist deshalb nicht vorrangig notwendig, weil diese isolierte Rassismen, antisemitische Aussprüche oder sexistische Bemerkungen geäußert haben, sondern weil bestimmte Formen majoritären Denkens so strukturgebend sind, dass wir aktiv daran arbeiten müssen, sie in unserer Denktradition identifizieren zu lernen. Dies wird am Beispiel der heutigen Hegel-Rezeption sichtbar, die mit der Übernahme von Hegels Problemstellung Gefahr läuft, auch seine antagonistische Sicht auf religiöse Differenz zu übernehmen. Mendelssohn erweitert dagegen den Horizont der Untersuchung und macht so erst sichtbar, wie weitreichend die Voraussetzungen wahrer Religionsfreiheit sind. Ist Hegels säkulare Bestimmung des Verhältnisses von Staat und Religion, an seiner Zeit gemessen, in vielen Punkten „modern", so darf uns dies auch im Angesicht (durchaus ernst zu nehmender) Fundamentalismen nicht dazu verleiten, ihn zugleich in einem unserer Gegenwart gemäßen Sinne für pluralistisch zu halten – wer hier ein philosophisch-systematisches Vorbild sucht, sollte sich nicht an Hegel, sondern an Mendelssohn halten.

    Wie dieses Fallbeispiel zeigt, ist die Aneignung von Wissen über majoritäre Denkmuster und ihre begrenzende Wirkung auf die theoretische Suche nach einem ausreichend weit gefassten Begriff der (Religions-)Freiheit nur dann in ausreichendem Umfang möglich, wenn das standpunktspezifische Wissen minoritärer Perspektiven in diese Untersuchung Eingang findet. Bleiben diskriminatorische Denkmuster unerkannt, so führt dies potenziell zu einer unbeabsichtigten Fortschreibung struktureller Ungleichheit. Im Umgang mit Sexismus, Rassismus und Antisemitismus bzw. Antijudaismus gilt es deshalb, vier Punkte festzuhalten:

  • Während heutige philosophische Positionen sich in einem recht breiten Konsens gegen die Fortschreibung dieser Denk- und Gewaltformen richten, sind diese in den Werken philosophiehistorischer Autor*innen nicht notwendig ohne eine genaue Kenntnis des zeithistorischen Kontexts als solche erkennbar.
  • Minoritäre Autor*innen verfügen über einen Zugang zu standpunktbezogenem Wissen und (wenn eine Auseinandersetzung mit der eigenen Identität stattfindet) über ein erhöhtes Bewusstsein für die Konsequenzen identitätsbezogener Diskriminierung.
  • Eine ausschließliche Orientierung an majoritären philosophiegeschichtlichen Positionen kann deshalb trotz aller Bemühung um deren Auflösung eine Fortschreibung struktureller Diskriminierungsformen zur Folge haben.
  • Die beiden Forderungen nach einer verbesserten Repräsentation minoritärer Autor*innen und der Kritik an majoritären Machtstrukturen in den Werken kanonischer Autoren lassen sich deshalb nicht voneinander trennen.
  • In der Debatte um die Frage nach dem richtigen Umgang mit rassistischen, sexistischen und antisemitischen Inhalten in philosophiegeschichtlichen Kontexten wird die Berücksichtigung standpunktgebundenen Wissens häufig als die Hinwendung zu einer subjektivistisch-erfahrungsgebundenen Arbeitsweise kritisiert, die die thematische Auseinandersetzung mit Diskriminierung allein Betroffenen vorenthalte. Diese Methode wird dann mit dem philosophischen Ideal einer sich um Objektivität (und damit um Standpunktneutralität) bemühenden systematischen Textanalyse konfrontiert. Doch die Gleichsetzung standpunktspezifischer Wissensproduktion mit einer idiosynkratischen Abschirmung der eigenen Perspektive gegenüber den Argumenten anderer Denker*innen übersieht, dass bei der theoretischen Wiedergabe von Herausforderungen, mit denen sich minoritäre Subjekte konfrontiert sehen, empirisch beobachtbare gesellschaftliche Strukturen (und nicht rein subjektive Erlebnisse) abgebildet werden. Allein aufgrund der Tatsache, dass diskriminierende Strukturen sich wesentlich durch eine Ungleichbehandlung von Subjekten anhand ihrer Identitätsmarker auszeichnen, ist der epistemische Zugang zu diesem Wissen an die minoritäre Identität gebunden. Wird dieses Wissen wiederum in den philosophischen Werken minoritärer Autor*innen zur Darstellung gebracht, so wird es zugleich für alle Leser*innen zugänglich gemacht.

    Wie das Beispiel der aktuellen Hegel-Forschung zeigt, informieren sich die Auseinandersetzung mit der Philosophiegeschichte und das Selbstverständnis von Gegenwartsdiskursen wechselseitig. Da die philosophiegeschichtliche Forschung einen starken Einfluss auf die Gestalt systematischer Fragestellungen in der Gegenwart hat, müssen kanonische Autor*innen durchaus im Sinne Gehrings intensiv gelesen werden. Liest man allerdings allein ihre Texte, so können wir die dort entwickelten Positionen nicht mit ausreichender Distanz untersuchen. An der hier durchgeführten Konfrontation Hegels und Mendelssohns wird deutlich, dass insbesondere dort, wo Problemstellungen von majoritären Autor*innen übernommen werden, unbeabsichtigte diskursive Verschiebungen stattfinden können, die die Formulierung von einem gegen Diskriminierung gerichteten Staats- und Subjektverständnis blockieren. Lesen sollten wir deshalb die bekannten kanonischen Autor*innen – und deren weniger sichtbare minoritäre Zeitgenoss*innen. Zu dieser kritischen Perspektiverweiterung gehört auch die Auseinandersetzung mit dem aktuellen Stand der Forschung empirischer Disziplinen wie der Geschichtswissenschaft, um den zeithistorischen Kontext und damit die politische Bedeutung eines jeweiligen Werks besser nachvollziehen zu können.

    Am Beispiel Hegels wird sichtbar, dass dieses problematisierende Lesen von Autor*innen (soweit ihre Thesen argumentativ verfasst und nicht bloße politische Hassreden sind) weder auf eine Anklage noch auf eine Verteidigung von Person oder Werk zielen sollte. Hegel besteht eine personell-politische Prüfung aufgrund seiner Unterstützung der Emanzipation von 1812 und seiner offenen Opposition gegenüber restaurativen Bestrebungen ohne Schwierigkeiten, und dennoch bedeutet seine Übernahme antijüdischer Vorurteile die Legitimation einer identitätsbezogenen Diskriminierung durch den Staat. Kritische Untersuchungen der Philosophiegeschichte sind unabdingbar, nicht um Ikonen zu stürzen oder zu verteidigen, sondern um diskriminatorische Strukturen auch dort, wo sie am subtilsten (und damit am ehesten unbemerkt) fortwirken, erkennbar zu machen, ein kritisches Bewusstsein derselben zu erlangen und uns durch diese Reflexion (potenziell) von ihnen zu befreien.

    Literatur 1 Albrecht, M. (2005), Einleitung, in: Mendelssohn, M., Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum, hg. v. Albrecht, M., Hamburg, VII–XLII. 2 Altmann, A. (1973), Moses Mendelssohn. A Biographical Study, London. 3 Arndt, A., Iber, C., u. Kruck, G. (2009), Staat und Religion in Hegels Rechtsphilosophie, Berlin. 4 Böckenförde, E.-W. (1982), Bemerkungen zum Verhältnis von Staat und Religion bei Hegel, in: Der Staat 21.4, 481–503. 5 Breuer, E. (1996), Rabbinic Law and Spirituality in Mendelssohn's Jerusalem, in: The Jewish Quarterly Review 86.3–4, 299–321. 6 Brumlik, M. (2002), Deutscher Geist und Judenhaß, München. 7 Feiner, S. (2011), Moses Mendelssohn: Sage of Modernity, New Haven, Conn. 8 Gehring, P. (2021), Antwort auf die Frage: „Wie umgehen mit rassistischen, sexistischen und antisemitischen Inhalten in Klassischen Werken der Deutschen Philosophie?", in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 69.1, 119–121. 9 Goodman, M. (2017), A History of Judaism, London. Hegel, G. W. F. (2017a), Grundlinien der Philosophie des Rechts, Frankfurt am Main. Hegel, G. W. F. (2017b), Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Düsseldorf. Jaeschke, W. (2009), Es ist ein Begriff der Freiheit in Staat und Religion, in: Arndt et al. (2009), 9–22. Kreß, H. (1996), Die Theorie der Gewissensfreiheit bei Moses Mendelssohn. Ein Beispiel für die Freiheitsidee als Leitmotiv der neuzeitlichen jüdischen Philosophie, in: Zeitschrift für Neuere Theologiegeschichte 3.1, 60–87. Mendelssohn, M. (1983), Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum, in: Jubiläumsausgabe 8, Stuttgart, 98–204. Nirenberg, D. (2005), Anti-Judaismus, München. Schoeps, J. (1995), Auf dem Weg zur Glaubensfreiheit: Die Herausbildung des Toleranzbegriffes in Brandenburg-Preußen im Zeitalter Moses Mendelssohns, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 47.3, 93–204. Schulte, C. (2002), Die jüdische Aufklärung: Philosophie, Religion, Geschichte, München. Footnotes Vgl.[8] , 119. Vgl. ebd., 120–121. Hier und im Folgenden verwende ich das Begriffspaar minoritärmajoritär , um zu markieren, dass Diskriminierungsstrukturen nicht aus der Existenz einer zahlenmäßigen Minderheit , sondern aus einer aktiven Marginalisierung bestimmter gesellschaftlicher Gruppen resultieren. Die Zugehörigkeit zu einer Minorität bedeutet noch nicht, dass eine Forscher*in sich diese zum Inhalt ihrer theoretischen Untersuchungen macht. Vgl.[3] , 8. Vgl. ebd., 7–8. Vgl.[12] , 9–10. Vgl.[3] , 7. Vgl.[10] , § 270, S. 420–422. Vgl. Mendelssohn (2005), 100–103. Da die Emanzipationsidee zunächst vorrangig auf eine Gleichstellung aller männlichen Bürger zielte, bleiben in den entsprechenden Passagen meiner Ausführungen andere jüdische Personen explizit ungenannt, während dort, wo die lebensweltlichen Konsequenzen der Minorisierung jüdischer Menschen zur Sprache kommen, der inklusive Begriff Jüdinnen_Juden angemessen ist. Dies wird in Jaeschkes Fall anhand seiner an Hegel orientierten Problematisierung der Gesinnungsdifferenz sichtbar, die sich ebenso in Ernst-Wolfgang Böckenfördes Behandlung des sogenannten Böckenförde-Dilemmas anhand des § 270 findet. Beide Autoren erklären zwar, dass der moderne Staat einen Pluralismus der Weltanschauungen zulassen muss, verstehen diesen aber nicht als einen Gewinn der Moderne, sondern als einen Verlust. So übernehmen die Autoren in ihrer Orientierung an Hegel die Idee, dass weltanschauliche Differenzen notwendig und vorrangig als Quelle politischer Konflikte zu deuten seien. Vgl.[12] , 19–21, u.[4] , 503. Vgl.[6] , 224–232. Dieser Begriff wurde durch die von Christian Wilhelm von Dohm verfasste gleichnamige Schrift Über die bürgerliche Verbesserung der Juden geprägt; vgl.[17] , 37–38. Vgl. ebd., 29 u. 43. Vgl. ebd., 28. Vgl. ebd. Vgl. ebd., 43–44. Vgl.[10] , 26–27. Ebd., § 270, Anm., S. 420–421. Ebd. Vgl. ebd., § 256, S. 397. Vgl. ebd., § 270, Anm., S. 421. Ebd. (Hervorh. im Orig.). 1821, im Erscheinungsjahr der Grundlinien , muss dies als religiöses Othering verstanden werden, da die zionistische Bewegung frühestens ab dem späten 19. Jahrhundert als sichtbares politisches Projekt in Erscheinung trat (vgl.[9] , 447–448) und im Nachgang der Emanzipation in Preußen weite Teile der jüdischen Bevölkerung nachdrücklich an der Aufnahme in die Mehrheitsgesellschaft interessiert waren und ihre eigene Identität explizit als deutsch-jüdisch verstanden (vgl.[17] , 44). Wohlwollend gelesen kann Hegel hier so verstanden werden, dass er diesen Punkt selbst als Teil des von ihm kritisierten „Geschreis" versteht. In jedem Fall wird hier jedoch deutlich, dass Hegel die Idee einer notwendigen Anpassung aufseiten der jüdischen Bevölkerung validiert. [10] , § 270, Anm., S. 421. Angesichts dieser Haltung des Verdachts muss auch die in der Forschung häufig betonte Bedeutung „der" Religion für die bürgerliche Subjektivierung als eine Fürsprache für eine christliche Subjektivierung verstanden werden (vgl. ebd, S. 420). Der Allgemeinbegriff „Religion" kann hier nicht als ein philosophischer Allgemeinbegriff gelesen werden. Da Hegels Emanzipationsverständnis eine assimilatorische Angleichung von Jüdinnen_Juden an Christ*innen beinhaltet, muss dort, wo er im positiven Sinne von der formativen Wirkung der Religion spricht, davon ausgegangen werden, dass er diesen Begriff mit dem der christlichen Religion synonym verwendet. Dies liegt unter anderem daran, dass die Aufklärung über Anfeindungen gegenüber Jüdinnen_ Juden heute eher unter dem Begriff des Antisemitismus durchgeführt wird, der aufgrund seines sozialdarwinistischen Charakters eher eine Form rassistischer als religiöser Diskriminierung darstellt. Der Antijudaismus ist deshalb eine Form der Diskriminierung, über die heutige Leser*innen, sofern sie nicht ausreichend diesbezüglich sensibilisiert sind, mit großer Wahrscheinlichkeit hinweglesen. Zur (u. a. philosophischen) Wirkungsgeschichte des Antijudaismus vgl. die einschlägige Studie von David Nirenberg (2015). Vgl.[16] , 197–198. Ein weiteres Motiv, das die Suche nach Antworten auf gegenwärtige religionspolitische Fragen in Hegels Denken motiviert, ist die Tatsache, dass Hegel das Konzept einer Religion der Freiheit prägt, das sich des Widerspruchs zwischen einer durch religiöse Autoritäten erwirkten (dem Ideal der Autonomie entgegengesetzten) Fremdbestimmung und einem leeren Individualismus entheben sollte. Dieses Anliegen Hegels ist durchaus attraktiv. Betrachtet man jedoch das Stufenmodell der Religionen in der Phänomenologie des Geistes oder auch in den Vorlesungen zur Philosophie der Religion , so wird schnell deutlich, dass Hegel nicht-christliche Religionen historisiert. Ist das Christentum die einzige Kandidatin einer Religion der Freiheit in Hegels Gegenwart, so kann dieses Anliegen Hegels zwar wieder aufgenommen werden, sein Konzept jedoch nicht ohne markante Korrekturen zur Unterstützung der Selbstverständigung pluraler Demokratien dienen; vgl.[13] , 87. Für eine kurze und zugleich informative Darstellung der Entstehungsgeschichte des Werks vgl. Michael Albrechts Einführung in der 2005 von ihm herausgegebenen Ausgabe von Jerusalem:[1] , XIII–XVI. Vgl.[5] , 305. Eine ausführliche Darstellung des Zusammenhangs zwischen Mendelssohns minoritärem Subjektstandpunkt und seinem Schaffen findet sich in Shmuel Feiners Mendelssohn-Biografie; vgl.[7]. Vgl.[14] , 137–138. Vgl. ebd., 125–126. Vgl. ebd., 134–135. Für eine ebenso anschauliche wie detaillierte Darstellung dieser Schrift vgl.[2] , 463–474. Vgl. ebd., 135–136, 199–200 u. 203–204. Nur selten finden wir Formen der identitätsbezogenen Diskriminierung durch staatliche Institutionen, die ohne Verweis auf eine Notwendigkeit dieser Ungleichbehandlung praktiziert werden. Hegel tritt die Notwendigkeit einer vollumfänglichen bürgerlichen Gleichstellung jüdischer Männer nicht in den Blick, weil er davon ausgeht, dass es tatsächlich Gründe gäbe, die gegen dieses Freiheitsrecht sprechen. Eine große Herausforderung bei der politischen Arbeit gegen Unfreiheit ist es deshalb, die Möglichkeit eines größeren Maßes an Freiheit aufzuzeigen, indem die „Gründe", die diese scheinbar verstellen, als Vorurteile entlarvt werden. Hier ist die Philosophie auf Darstellungen der empirischen Sachlage und das politische Denken auf die Fähigkeit der Philosophie zur Artikulation neuer Denkmuster angewiesen. Ebd., 136. Ebd., 204. Besonders deutlich wird dies an Hegels ausschließlich polemischer Bezugnahme auf Jerusalem , die sich in der Nachschrift seiner Vorlesungen zur Philosophie der Religion aus dem Jahr 1824 findet. Dort nimmt Hegel Mendelssohns zentrales Argument für Religionsfreiheit nicht zur Kenntnis, sondern gibt allein dessen Verteidigung des Judentums auf eine bis zur Unkenntlichkeit entstellte Art wieder; vgl.[11] , 198–199. Dies wäre allein deshalb angeraten, da der deutsch-jüdischen Philosophietradition nicht der Raum in der philosophischen Forschung und Lehre zugestanden wird, der ihr angesichts der Qualität und der verhandelten Themen rein dem Kriterium der Suche nach dem besten Argument zufolge zustünde. Es besteht kein Mangel an hervorragendem Quellenmaterial. Die Arbeiten von Christoph Schulte, Michael A. Meyer, David Nirenberg, Shmuel Feiner und vielen anderen Historiograph*innen des Judentums (sowie Nathan Rotenstreichs und Emil Fackenheims hervorragende philosophische Auseinandersetzungen mit Kant und Hegel) besprechen das Verhältnis jüdischer und christlicher Positionen auf auf eine für die Philosophie produktive Art, die dabei zugleich die materiellen Differenzen in den Lebensumständen der Autoren reflektieren. Hier wären für Teilnehmer*innen an philosophischen Gegenwartsdiskursen produktive Anschlüsse möglich. Die Frage, ob Zugehörige der Majorität über Rassismus, Sexismus und Antisemitismus schreiben dürfen, muss deshalb zugleich mit ja und mit nein beantwortet werden. Weiße, christlich sozialisierte, männliche Personen können und müssen über Rassismus, religiöses Othering und Sexismus von Frauen, nicht-christlichen Personen und BIPoC lernen, um dieses Wissen in ihrer Auseinandersetzung mit majoritären Autor*innen berücksichtigen zu können. Zugleich müssen diese Autoren, sofern sie akademisch zu Fragen des politischen Zusammenlebens arbeiten, diese Informationen über real-existierende Formen struktureller sozialer Benachteiligung in ihrer Beschreibung des Politischen berücksichtigen, um ihm faktisch gerecht zu werden.

    By Antonia Steins

    Reported by Author

    Titel:
    Die epistemische Verflechtung von Kanonkritik und kanonischen Repräsentationspraktiken: Mendelssohns Kritik an und Hegels Übernahme von der Ambivalenz des preußischen Emanzipationsgedankens.
    Autor/in / Beteiligte Person: Steins, Antonia
    Link:
    Zeitschrift: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Jg. 71 (2023-06-01), Heft 3, S. 337-354
    Veröffentlichung: 2023
    Medientyp: academicJournal
    ISSN: 0012-1045 (print)
    DOI: 10.1515/dzph-2023-0029
    Schlagwort:
    • HEGEL, Georg Wilhelm Friedrich, 1770-1831
    • CHURCH & state
    • RELIGIOUS identity
    • SEXISM
    • RACISM
    • ANTISEMITISM
    • AUTHORSHIP
    • Subjects: HEGEL, Georg Wilhelm Friedrich, 1770-1831 CHURCH & state RELIGIOUS identity SEXISM RACISM ANTISEMITISM AUTHORSHIP
    • anti-Judaism
    • critique of the canon
    • marginalised authorship
    • religious othering
    Sonstiges:
    • Nachgewiesen in: DACH Information
    • Sprachen: German
    • Language: German
    • Document Type: Article
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