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Der distanziert-lakonische Typus als Variante der subjektiven Wahrnehmung des schulischen Auslandsaufenthaltes.

Schade, Kai ; Oesterhaus, Charlyn-Mariella
In: Sozialer Sinn, Jg. 24 (2023-12-01), Heft 2, S. 161-184
Online academicJournal

Der distanziert-lakonische Typus als Variante der subjektiven Wahrnehmung des schulischen Auslandsaufenthaltes 

Obwohl privat organisierte Auslandsaufenthalte mittlerweile eine etablierte Praxis schulischer Werdegänge darstellen, hat eine systematische Betrachtung der subjektiven Bedeutung dieser Auslandsaufenthalte für die Teilnehmer:innen bisher kaum Beachtung gefunden. Dieser blinde Fleck der empirischen Betrachtung überrascht, da Auslandsaufenthalte zwar mit der Unterstützung der Eltern umgesetzt, jedoch von den Teilnehmer:innen alleine durchgeführt werden. Gleichzeitig werden Auslandsaufenthalte, nicht zuletzt von den Austauschorganisationen, als selbstverständlich autonomiefördernd angesehen und beworben. Ohne das autonomiefördernde Potential in Abrede zu stellen, möchten wir in unserem Beitrag auf Ambivalenzen der autonomisierenden Ablösung hinweisen. In unseren fallrekonstruktiven Untersuchungen treffen wir den Typus einer distanziert-lakonischen subjektiven Wahrnehmung des Auslandsaufenthaltes an. Diesen Typus interpretieren wir als spezifische Bearbeitung der strukturellen Autonomieambivalenz des Auslandsaufenthaltes.

Keywords: Schulischer Auslandsaufenthalt; internationale Mobilität; adoleszente Ablösung; Fallrekonstruktion; Deutungsmuster

1 Unser Beitrag fokussiert auf den mindestens ein Schulhalbjahr umfassenden, individuellen Auslandsaufenthalt. Die Langfristigkeit und Individualität des Aufenthaltes sind in Abgrenzung zu Schüleraustauschen zu verstehen, welche von Schulen kollektiv durchgeführt werden. Im Kontrast zu diesen verstehen wir unter langfristigen individuellen Auslandsaufenthalten solche Auslandsaufenthalte, die privat organisiert und von einzelnen Schüler:innen bestritten werden und mit dem Leben in einer Gastfamilie einhergehen.

1 Zur strukturellen Autonomieambivalenz schulischer Auslandsaufenthalte

Auslandsaufenthalte von Schüler:innen folgen einer bemerkenswerten Struktur: Während sie es Schüler:innen ermöglichen, sich zu einem frühen Zeitpunkt der Gestaltung ihrer Biografien individuell als in der Lage zu zeigen, Schul- und Lebenszeit im Ausland zu verbringen, ist ihrem Ablauf gleichzeitig inhärent, dass die Auslandsreisenden nach Abschluss des Aufenthaltes sowohl an ihre Heimatschulen und selbstverständlich aber auch in ihre Herkunftsfamilien zurückkehren. Schulische Auslandsaufenthalte beruhen insofern darauf, dass Fortgehen und Wiederkehren von vorherein miteinander verbunden sind. So bildet sich eine strukturelle Spannung ab, die das Verhältnis von Fremdheit und Heimat betrifft. Durch seine zeitliche Begrenztheit lässt sich der Auslandsaufenthalt weniger als ein Fortgehen der Jugendlichen im Sinne einer adoleszenten Ablösung verstehen, sondern vielmehr als ein „Trennungsintermezzo" ([26]: 266), dem gleich mehrere strukturelle Ambivalenzen eingeschrieben sind.

Zum einen geht es um die Differenz zwischen jenen, die den Aufenthalt antreten und jenen, die ihn ermöglichen. Denn obwohl es die Jugendlichen sind, welche als International Students an eine Schule im Ausland gehen, sind es im Falle privat organisierter Auslandsaufenthalte deren Eltern, welche die notwendigen ökonomischen Mittel mobilisieren und mit der Durchführung einverstanden seien müssen. Letzterer Punkt bezieht sich auch auf juristische Aspekte bei dem Vertragsschluss zwischen Austauschorganisation und den Eltern der Jugendlichen. Hinzu kommt, dass auch mit der Inanspruchnahme des Angebots der Austauschorganisationen eine gewisse Entlastung für die Teilnehmer:innen und deren Eltern einhergeht. Der Auslandsaufenthalt ist insofern keine gänzlich autonome Angelegenheit, da zu seiner Herstellung die Unterstützung der Eltern und Dritter hinzugezogen wird.

Zum anderen besteht ein Positionierungsproblem gegenüber der Gastfamilie, welche für die meisten Schüler:innen, die einen Auslandsaufenthalt absolvieren, die Unterbringung zur Verfügung stellen ([19]: 15). So kann der Entschluss für einen schulischen Auslandsaufenthalt für die Schüler:innen eine Grundlage bieten, die Trennung von der Herkunftsfamilie zu bearbeiten. Für den Auslandsaufenthalt bleibt die Erfahrung eines familialen Kontexts auch deshalb relevant, weil die Erfahrung der Unterbringung in der Gastfamilie eine Kontrastfolie zum Leben in der Herkunftsfamilie sein kann. Dabei spielt die strukturelle Differenz zwischen den latenten Strukturen der Herkunftsfamilie und der Gastfamilie eine Rolle. Wir verweisen damit auf einen Zusammenhang der Erfahrungsgenese, in dem die Beziehungserfahrungen im Rahmen der Herkunftsfamilie als „Prototypen diffuser Sozialbeziehungen" ([12]: 86) gilt. Das bedeutet für den hier gesetzten Kontext auch, dass die Erfahrung der Unterbringung in der Gastfamilie denen der Herkunftsfamilie aufruht. Dies wird sinnbildlich durch Bezeichnungen wie Gasteltern und Gastgeschwister gerahmt. Die Einbindung in eine Gastfamilie weist hinsichtlich des Autonomisierungspotentials der Auslandsaufenthalte darauf hin, dass es um einen Kontext geht, der ebenso mit Heteronomisierungspotential besetzt ist. So birgt der tatsächliche Alltag in der Gastfamilie nicht unbedingt ein prinzipielles Mehr an Freiheiten gegenüber dem Alltag in der Herkunftsfamilie. Das Leben in der Gastfamilie kann ebenso bedeuten, den Gepflogenheiten anderer nachzugehen oder vielmehr, deren Regeln zu beachten. Für jene Fälle, die den Auslandsaufenthalt in einer Gastfamilie verbringen, ist insofern nicht nur der Anspruch gegenüber der schulischen Situation im Ausland aufgeworfen, sondern auch die Frage der Kompatibilität zur Gastfamilie und den Erwartungen gegenüber der Gastfamilie. Vor der Realisierung eines schulischen Auslandsaufenthaltes müssen insofern immer auch diese beiden Problemdimensionen bei der Entscheidung bearbeitet werden: die der Festlegung der Kriterien bei der Schulwahl und jene der Präferenzen bei der Unterbringung.

Die an diesen beiden Punkten ablesbare Autonomie- und Ablösungsambivalenz zeigt sich auch in der Symbolisierungsfähigkeit schulischer Auslandsaufenthalte. Sie betont zwar die autonomiefördernde, wettbewerbsbevorteilende und identitätsprägende Bedeutung des Auslandsaufenthaltes und folgt insofern einer eindeutig positiven Konnotation. Gleichwohl lassen sich bei genauer Betrachtung auch auf dieser Ebene Ambivalenzen rekonstruieren. Das lässt sich an Werbematerialien über schulische Auslandsaufenthalte exemplarisch verdeutlichen. In Formulierung wie: „Ein Jahr im Ausland fördert die Unabhängigkeit und ein kulturelles Bewusstsein" ([6]: 4) oder man gebe „[...] den Kindern die Chance [...], reifer zu werden, erwachsen zu werden" ([1]: 63) bricht sich die Vorstellung der Autonomisierungswirkung und die positive Konnotation des Auslandsaufenthaltes beispielhaft Bahn. Der erste Ausschnitt aus dem Werbematerial betont zunächst und im Allgemeinen das unabhängigkeitsfördernde Potential schulischer Auslandsaufenthalte. Derweil insinuiert der zweite Ausschnitt das Potential einer transformatorischen Dynamik, nämlich der Statustransformation vom Kind zum Erwachsenen.

An anderer Stelle lässt sich die Autonomie- und Ablösungsambivalenz darlegen. In der Formulierung „[m]an bekommt ein viel erwachseneres Kind zurück" ([20] :11) wird die Vorstellung der Autonomisierungswirkung in einem durchaus ambivalenten Deutungsmuster mobilisiert. In diesem dritten Ausschnitt ist der Status des Kindes und der Status des Erwachsenen deutungsstrukturell amalgamiert: Das Kind mag zwar erwachsener werden; es bleibt aber Kind (seiner Eltern). Gerade der letztgenannte Ausschnitt weist darauf hin, dass das Autonomisierungsversprechen durch ein Bindungs- und Bleibeversprechen unterlaufen wird. Die Hoffnung des ablösungsfördernden Potentials, für welche dem Auslandsaufenthalt hier eine katalytische Wirkung zugeschrieben wird, wird durch eine Aufrechterhaltung des Bindungsbedürfnisses sinnstrukturell konterkariert.

Die ausschnitthafte Betrachtung der Werbeaussagen liefert einen Eindruck, wie schulische Auslandsaufenthalte mit positiven Eigenschaften belegt werden. Sie deutet auch an, dass das ihm zugeschriebene Autonomisierungspotential von einer Strukturkomplikation durchdrungen ist. Diese zeigt sich darin, dass gerade die Erwartung des Erwachsenwerdens beim gleichzeitigen Verbleib beziehungsweise der räumlichen Rückkehr in die Herkunftsfamilie eine paradoxale Eigenschaftszuschreibung darstellt. Die für den Auslandsaufenthalt notwendige Unterstützung der Eltern scheint dies zu unterstreichen. Mit Unterstützung ist damit nicht nur die Befürwortung im Sinne der juristischen Vormundschaft gemeint, sondern auch die Angewiesenheit auf die ökonomische Unterstützung der Eltern (oder der erweiterten Familie), welche für die nicht unerheblichen finanziellen Kosten des Auslandsaufenthaltes aufkommen. Diese immanente Abhängigkeit lässt auch vermuten, dass die Eltern an der Entscheidungsbegründung nicht nur partizipieren, sondern vielmehr die Begründung der Entscheidung für einen Auslandsaufenthalt mit subjektiven Deutungsmustern ([13]: 38) belegen. Sie begründen damit etwas, über dessen tatsächlichen Erfahrungsgehalt keiner der Beteiligten verfügt, was insbesondere anhand der „Wegscheiden-Situation" ([14]: 165) deutlich wird, die der Auslandsaufenthalt in zeitlicher Begrenzung abverlangt. Die Umsetzung eines schulischen Auslandsaufenthaltes stellt insofern eine genuine Familienangelegenheit dar.

Die damit aufgeworfene Autonomieambivalenz muss von den Schüler:innen (und auch von ihren Eltern) bearbeitet werden. Die Schüler:innen (sie stehen im Folgenden im Vordergrund) müssen sich in ihrer subjektiven Wahrnehmung des Auslandsaufenthaltes zu dem Problem der Autonomieambivalenz positionieren. Unsere Untersuchungen geben Anlass zur Unterscheidung zwischen zwei grundlegenden Typen der subjektiven Wahrnehmung und Selbstpositionierung. Regelmäßig stoßen wir auf einen involvierten Typus. Diese Jugendlichen können als Autonomie- bzw. „Bewährungssucher" ([28]) bezeichnet werden. Sie interpretieren das Auslandsjahr als Chance der Autonomisierung, des Zugewinns an (außeralltäglicher) Erfahrung, der Gelegenheit interkulturelle Erfahrungen zu machen und generell etwas Neues zu sehen. Sie erkennen die eindeutig positive Konnotation von Auslandsaufenthalten an und reproduzieren diese mit Selbstverständlich- und Spannungslosigkeit. Der involvierte Typus stellt dabei den empirisch erwartbaren Typus dar, da er die verfügbaren Positivdeutungen des Auslandsaufenthaltes ungebrochen mobilisiert. Der Betonung der Positivität des Auslandsaufenthaltes mag dabei die Funktion zukommen, der Autonomieambivalenz, durch eine Betonung des erhofften Mehrwertes, autonomiebetonend entgegenzutreten.

Daneben treffen wir aber auch auf einen Typus, der kaum als involviert und engagiert beschrieben werden kann und den wir als distanziert-lakonischen Typus bezeichnen. Dieser Typus lässt sich adoleszenz- und familientheoretisch dahingehend charakterisieren, dass der „adoleszente Möglichkeitsraum" ([8]: 39) eher gehemmt und mit wenig Ich-Energie gestaltet und bestritten wird. Die Dynamik der familialen Ablösung ([15]: 64f.; vgl. [2]: 257) lässt sich als eher schwach ausgeprägt beschreiben. Wo der involvierte Typus betonten Enthusiasmus und Optimismus gegenüber den unbestimmbaren Elementen des Auslandsaufenthaltes aufweist, zeigt sich der distanziert-lakonische unsicher gegenüber dem, was der Auslandsaufenthalt mit sich bringen mag. Dabei betont der distanziert-lakonische Typus Dinge, die bestimmbar erscheinen, wie etwa Zeremonien (den High School Prom), die schulischen Wahlmöglichkeiten, touristische Reiseziele oder aber Erwartungen an die Gastfamilie. Die Gesamthaltung gegenüber dem erhofften Erfahrungsspektrum des Auslandsaufenthaltes scheint durch diese Fixpunkte restringiert zu sein. Überraschend ist hingegen, dass dieser Typus in einem guten Passungsverhältnis zur Struktur des Auslandsaufenthaltes steht. Denn dadurch, dass der Auslandsaufenthalt von vornherein mit der Gewissheit der Rückkehr in die Herkunftsfamilie operiert, kann diese als sicherer Hafen aufgefasst werden, an dem sich der distanziert-lakonische Typus orientiert. Dem Ausgangspunkt des Auslandsaufenthaltes wäre somit gleichzeitig die Anerkennung zu seiner Rückkehr immanent. Bezüglich des Auslandsaufenthaltes bedeutet nach Hause zurückkommen gewissermaßen, es geschafft zu haben. Diesem Typus wollen wir im Folgenden unsere empirische Aufmerksamkeit schenken. Wir konzentrieren uns hierfür auf die Fälle zweier Schüler:innen, welche einen Auslandsaufenthalt in der Jahrgangsstufe 11 absolvieren. Als Grundlage dienen dabei Protokolle von Familieninterviews, welche themenzentriert mit den jeweiligen Familien hinsichtlich des Auslandsaufenthaltes eines ihrer Kinder geführt worden sind.

2 Datengenese und fallrekonstruktiver Zugriff

Als Grundlage der Fallrekonstruktion dienen Gesprächsprotokolle einer längsschnittlichen Interviewstudie, die im Rahmen des Forschungsprojektes „Away – Als Schüler:in im Ausland" erstellt worden sind. Die Erhebungssystematik sieht zwei Interviewformate vor, wobei zwischen Familien- und Einzelinterviews unterschieden wird. Das Erhebungsvorgehen begleitet den Auslandsaufenthalt mit diesen Interviewformaten, wobei jeweils ein Familien- und ein Einzelinterview vor der Abreise geführt werden. Nach der Rückkehr der Schüler:-innen werden abschließend abermals Interviews in dieser Reihenfolge geführt. Die Tonbandaufnahmen der Gespräche werden mithilfe des TIQ-Standards transkribiert ([18]: 167ff.). Die im Folgenden abgebildeten Passagen entspringen den initialen Familieninterviews, welche gleichzeitig das jeweils erste Gespräch in der begleitenden Erhebungssystematik darstellen.

Das Rekonstruktionsverfahren folgt dem Vorgehen der Objektiven Hermeneutik ([16]; [11]; [25]; [27]). Eingangs werden dazu kurz die Kernelemente der „äußeren biographischen Daten" ([16]: 30) expliziert. Hierbei handelt es sich um eine Reduktion der vorliegenden bildungsbiographischen Daten, die prinzipiell über die letzten drei Generationen hinweg festgestellt werden. Im Folgenden sollen diese jedoch lediglich einen kurzen Überblick liefern, der als Einstieg für die darauffolgenden Fallrekonstruktionen dient.

3 und dann fand ich das eigentlich ganz cool – Der Fall Sina Rabe*

Die Schülerin Sina* besucht zum Zeitpunkt des Interviews die 10. Klasse eines Gymnasiums und ist 16 Jahre alt. Sinas* Mutter arbeitet als Diplom Fachwirtin bei der Polizei und ist im Dienstgrad einer Polizeiinspektorin tätig. Ihr Berufsweg lässt sich als geradlinig beschreiben, da die Aufnahme des Polizeidienstes unmittelbar nach dem Abitur durch ein duales Studium erfolgt. Der Vater ist Finanzwirt in einem Finanzamt, hier im gehobenen Dienst tätig. Auffällig für die Biografie des Vaters ist seine sportliche Karriere als Jugendlicher, die durch den Besuch eines Sportinternats in der DDR gerahmt wurde. Nach einem verletzungsbedingten Ausscheiden aus dem Leistungssport erfolgte der Abschluss der Schule nach der 10. Klasse, gefolgt von einer Ausbildung zum KFZ-Mechaniker und einer weiteren Ausbildung zum Reiseverkehrskaufmann. Beide Elternteile waren vor ihrer bestehenden Ehe bereits einmal in anderen Partnerschaften verheiratet und sind in der DDR aufgewachsen. Abseits von gelegentlichen Urlaubsreisen lässt sich keine Form der internationalen Mobilität feststellen, weshalb Sinas* Auslandsaufenthalt in der Binnenstruktur der Kernfamilie ein Novum darstellt.

Das Interview findet circa 4 Wochen vor dem geplanten Auslandsaufenthalt in Kanada statt. Für das Gespräch sind Sina* Rabe, ihr Vater, ihre Mutter und zwei Interviewer anwesend. Die Aufenthaltsdauer in Kanada soll 10 Monate betragen. Als relevante Berührungspunkte zu schulbezogener Auslandsmobilität wird von einer Klassenfahrt nach England sowie einem dreiwöchigen Schüleraustausch nach Paris berichtet, vor deren Erfahrungshintergrund sich die Entscheidungsbegründung für den schulischen Auslandsaufenthalt abbildet. Die hierüber Aufschluss gebende Sequenz realisiert sich in der 13. Minute der Interviews. Für die folgende sequenzanalytische Betrachtung ist dabei bezüglich der gesprächsimmanenten Bezugspunkte relevant, dass der vorherige Gesprächsverlauf maßgeblich durch eine Erzählung von Sinas* Mutter geprägt ist. In dieser Erzählung beschränken sich Sinas* Äußerungen im Interaktionsprotokoll auf wenige Einzelzeilen, die insgesamt dem Charakter von punktuellen und inhaltlichen Ergänzungen folgen. Herr Rabe* äußert sich in dieser ersten Viertelstunde des Gesprächs zunächst nicht. Inhaltlich nimmt Frau Rabe* dabei hauptsächlich Bezug auf die Erlebnisse bei einer schulinternen Informationsveranstaltung, an der die Familie, auf Sinas* Wunsch, teilgenommen hat. Auf dieser Informationsveranstaltung wurde zudem eine sogenannte Bildungsmesse beworben, welche Sina* mit ihrer Mutter ebenfalls besuchte. An dieser Stelle berichtet Frau Rabe* von einem Gespräch an einem der Messestände. Die Sequenz legt nahe, dass es in der Erzählung weniger um die stellvertretende Stabilisierung der Entscheidung für ihre Tochter geht, als vielmehr für sie als Elternteil:

„[...] also es stand da ganz neu ne frau da am stand, und das war witzigerweise die mutter von; (.) dieser schülerin hier am [Gymnasium, das auch Sina* besucht] die das (.) so und das war natürlich von uns so, weil die war gleich so nett, ah von mutter zu so mh, und [...]".

Offenkundig wird die Selbstthematisierung bezüglich der Elternrolle am Ende der Sequenz. Während durch den Sprechakt „[...] die mutter von; (.) dieser schülerin hier am [Gymnasium, das auch Sina* besucht] [...]" eine Struktursymmetrie beider Personen insinuiert wird, bricht sich in der darauffolgenden Sequenz eine deutliche Identifikation Bahn. Obwohl der angedeutete Bezugspunkt sich verbal in einer interjektionsähnlichen Gestalt niederschlägt, „[...] von mutter zu so mh [...]", ist es dennoch sprechaktlogisch zwingen erforderlich, dass das „[...] mh [...]" als Referenzpunkt intendiert ist. Präziser gesagt bewegt sich die Anschluss- und Identifikationsfähigkeit auf der Ebene der Elternrolle: Es ist dem Sinngehalt nach ein Gespräch von Mutter zu Mutter.

Nach der ausschnitthaften Betrachtung dieser monologischen Anfangspassage protokolliert die nachstehende Sequenz nun die Perspektive von Sina*:

Fm1:wie kam (.) wie kam=s denn von deiner seite zu der entscheidung? (.) weil es sich=ja gerade so anhörte: (.) als ob das #00:13:27-2# (2)
S:also: ähm (.) glaub so für das auslandsjahr richtig entschieden hab ich mich dann so nach der messe, //Fm1: mhm,// (.) mit den organisationen, (.) weil: ich dann: eigentlich=so keinen nachteil mehr gesehn hab das zu machen, //Fm1: mhm,// außer dass man halt in den jahrgang darunter kommt, //Fm1: °mhm,°// (.) und s' wurde eigentlich immer nur so positiv berichtet, und (.) das (.) °was° eigentlich alle positiv fandn, und dann //Fm1: mhm// °fand ich das eigentlich ganz° cool=also (.) irgendwie so ich weiß gar nich genau warum aber; (2) °ja° #00:13:53-3#

Zunächst ist eine Auffälligkeit bezüglich des Frageimpulses festzuhalten, denn die Formulierung realisiert sich in der zweiten Person Singular. Die Formulierung richtet sich insofern auf manifester Ebene an eine bestimmte Person. Auf latenter Ebene ist dem hinzuzufügen, dass dem Sprechakt die Eigenlogik innewohnt, dass das Besprochene einerseits als etwas Prozesshaftes verstanden wird und andererseits, dass „es sich=ja gerade so anhörte:" als könne die Entscheidung für einen Auslandsaufenthalt auch von einer anderen Stelle als der adressierten Person getroffen worden sein. Die Sequenz evoziert deshalb auch eine Differenzmarkierung der anwesenden Personen und ruft mit der abschließenden Formulierung mit „[...] also ob das" zu einer Gegenerzählung auf.

Der dem entgegengebrachte Sprechakt eröffnet mit einer resümierenden und gleichsam zäsuierenden Figur, die von einer kurzen Sprechpause abgeschlossen wird. In dem ,,also: ähm (.)" deutet sich insofern eine Suchbewegung der Deutung an. Die Sequenz lässt vermuten, dass sich ad hoc kein vorfabriziertes Begründungsmuster mobilisieren lässt. Fortgeführt wird die Passage mit „[...] glaub so [...]", was das darauffolgende Objekt mit einem Grad der Beliebigkeit und Unverbundenheit versieht. Fraglich bleibt bezüglich des eigentlichen Bedeutungskontextes nun, in welcher Art sich durch die Suchbewegung die Genese eines Deutungsmusters abbildet.

Mit der Formulierung „[...] für das auslandsjahr richtig entschieden [...]" kündigt sich nun die Verbindung zur Entscheidungssituation für den Auslandsaufenthalt an. Hierin bildet sich die Erzählung über eine Festlegung ab, der jedoch eine Phase vorgelagert sein muss, in der man sich nicht so richtig entscheiden konnte. Legt man diese Disposition zugrunde, bewegt man sich in Kontexten, in denen kein expliziter Handlungsdruck besteht. So wäre es typischerweise ein Ausdruck von Unschlüssigkeit über die Wahl von Kleidung: ich kann mich nicht so richtig entscheiden, was ich anziehen soll. Es wäre aus diesem Blickwinkel eine Entscheidung, in dem es um eine Frage des Geschmackes und der Angemessenheit ginge.

Dem steht jedoch weiterführend die unmittelbare Lesart gegenüber, dass Dinge, für die man sich „so [...] richtig entschieden" hat, auf einen konkreten Zeitpunkt und eine konkrete Situation zurückführbar sind: „richtig entschieden" habe ich mich für den Umzug, nachdem ich die Stelle gewechselt habe. Es wird also auf einen Abwägungsprozess rekurriert, der sich in dem Moment zugunsten einer Entscheidungsoption konstituiert, in welcher ein neues Element in die Abwägung einfließt. An dieser Stelle ist fortführend die Spezifizierung dieses Elements absehbar. Für den Fall einer Abwägung wäre jedoch auch erwartbar, dass sich durch die Entscheidung eine Verbesserung gegenüber der Ausgangssituation herstellt.

Als ausschlaggebend wird nun der Besuch der Bildungsmesse genannt, wobei die Präsenz der Austauschorganisationen betont wird. Es folgt dazu eine Präzisierung um das Argument, dass man danach „[...] keinen nachteil mehr gesehen hab[e]". Dieses Resümee überrascht, da es nicht etwa Argumente für den Auslandsaufenthalt vorträgt, sondern von der Abwesenheit von Nachteilen spricht. Legt man aber den Prozess einer Abwägung zugrunde, bedeutet keinen Nachteil zu sehen auch, dass sich trotzdem ein Anreiz zugunsten der gewählten Entscheidungsoption ergeben muss. Diese strukturelle Bindung eines Abwägungsprozesses sieht sich in der Folgesequenz bestätigt, da nun etwas als nachteilig kategorisiert wird, was sich allerdings in schulischen Systematiken abbildet. In diesem Sinne bedeutet der Auslandsaufenthalt für Sina*, „[...] dass man halt in den Jahrgang darunter kommt [...]", wobei dieser Malus kurzum als lapidar gerahmt wird, da es sich „halt" nur darum zu handeln scheint. Diese Konsequenz stellt keinen Hinderungsgrund des Auslandsaufenthaltes dar und ist für den Fall ein lediglich zur Kenntnis genommener Nebeneffekt. Handelt es sich hier um den Beginn der Nennung möglicher Nachteile, also um eine Aufzählung, wäre an deren Ende erwartbar, dass auf die Erzählung etwaiger Hinderungsgründe eine Hervorhebung der Anreize für die Entscheidung folgte. Gleichzeitig wird die Entscheidung ohne positive Elemente begründet. Der Auslandsaufenthalt ist insofern etwas, gegen das nichts spricht, aber ebenso wenig etwas, für das etwas spricht.

Tatsächlich wendet sich die Passage direkt den Beweggründen für den Auslandsaufenthalt zu, allerdings in einer durchaus bemerkenswerten Begründungsfigur. Diese verläuft entlang einer erzählerischen Zuspitzung, deren Verlaufslinien bei der Nennung des einzigen genannten Nachteils entspringt und in einer Aneignungsbewegung Gestalt annimmt. Die Passage wird dabei als Aufzählung fortgeführt, wobei die Elemente, derer drei genannt werden, jeweils durch ein „und" unterschieden und aneinandergereiht werden. In der ersten dieser drei Sequenzen, welche sich mit „[...] und s' wurde eigentlich immer nur so positiv berichtet, [...]" realisiert, wird zunächst durch ein verkürzt Ausgesprochenes es auf eine Allgemeinheit rekurriert, die für den zum Ausdruck gebrachten Eindruck ausschlaggebend war. Dabei entspricht der Sprechakt einer Art Metaresümee, wie es sich etwa nach dem Lesen unterschiedlicher Produkt- oder Veranstaltungsrezensionen einstellen könnte. Hierbei wäre dem Sprechakt inhärent, dass die Person, welche als Rezensent:in aufträte, das Produkt verwendet oder, im Falle einer Veranstaltung, teilgenommen haben müsste. Es ist also insgesamt eine Einschätzung, die sich ausschließlich an dem Eindruck anderer ausrichtet. Der eigentliche Bezugspunkt dieser Einschätzung scheinen die auf der Bildungsmesse gesammelten Eindrücke zu sein. Ob des Werbecharakters einer Messe wäre alles andere als eine positive Beschreibung von schulischen Auslandsaufenthalten überraschend bis widersprüchlich. Dies gilt umso mehr, wenn sich der Messegast für eines der angebotenen Produkte entschieden hat. Sollte sich also die Annahme bestätigen, dass sich die Entscheidung für den schulischen Auslandsaufenthalt hauptsächlich anhand der Eindrücke der Bildungsmesse stabilisierte, ginge es lediglich um eine Affirmation der Handlungsoption des Auslandsaufenthaltes, nicht aber um eine Abwägung.

Es fällt nun ins Gewicht, dass die Sequenz nicht etwa auf das Bezug nimmt, „[...] °was° eigentlich alle positiv fandn [...]". Stattdessen wurde „[...] das [berichtet] °was° eigentlich alle positiv fanden [...]", was den Eindruck nahelegt, dass es sich tatsächlich um eine einseitige, werbende Darstellung gehandelt haben muss. Dabei ist ebendieser Sprechakt Ausdruck der Tatsache, dass sich die dargestellten positiven Erzählungen bei der Sprecherin verfangen haben. Das entscheidungstreibende Momentum entspricht hier einer affektiv-diffusen Merkmalsorientierung, da nicht ersichtlich wird, dass es um ein spezifisches oder qualifikatorisches (Achievement) Interesse am schulischen Auslandsaufenthalt geht. Erneut fällt auf, dass nichts Besonderes für den Auslandsaufenthalt spricht. Vielmehr geht es um die Anerkennungsfähigkeit in einem affektiven Sinne im Mantel einer Handlung, welche bei einem abstrakten Anderen Bestätigung und Anerkennung hervorruft.

Dieser Eindruck manifestiert sich nun insofern deutlich, als die Sequenz mit einer Iteration dieser Strukturdisposition fortgeführt wird, wobei das Subjekt im Folgenden die Sprecherin repräsentiert: „[...] und dann //Fm1: mhm// °fand ich das eigentlich ganz° cool=also (.) [...]". So ist es das Potential der beschriebenen Handlung, des schulischen Auslandsaufenthaltes, über ihn positiv berichten zu können „das [, was] eigentlich ganz° cool [...]" ist. Dass sich darüber hinaus keine anderweitige Bestimmung der Beweggründe zeigt, „[...] irgendwie so ich weiß gar nich genau warum aber; (2) °ja° [...]" liegt dabei in der Natur der Sache einer affektiven Zuwendung gegenüber dem begehrten Objekt. Auf latenter Ebene drückt die Sequenz insofern auch aus, dass „[...] °das eigentlich ganz° cool [...]" wäre, wenn das zu mir passte.

Insbesondere die Erfahrungen des Deutsch-Französischen Schüleraustauschs in der 9. Klasse nehmen im weiteren Gesprächsverlauf eine hervorgehobene Rolle ein, da dieser insgesamt als negative Erfahrung dargestellt wird. Den Kristallisationspunkt des negativen Resümees für Sinas* Aufenthalt in Paris bildet dabei die Abwesenheit und Unverfügbarkeit der Gasteltern und der Gastschülerin. Im Zuge der Erzählung über den Schüleraustausch nach Paris ordnet Herr Rabe* den Aufenthalt demgemäß ein: „[...] und deswegen war das natürlich auch der totale flop in in Paris; die saß da in ihrm zimmer, (.) die war eigentlich nich da, (.) der vater hat gekocht, und ja n' bisschen deutsch gesprochen,". Der spätere Aufenthalt der französischen Schülerin in Deutschland zeigt sich in einer ähnlichen Gestalt. Gemäß der im Interview vorgetragenen Erzählung habe die Gastschülerin kein Interesse an Unternehmungen mit Familie Rabe* gezeigt und stattdessen Vergemeinschaftung unter ihren französischen Peers gesucht, hier erneut in dem Worten des Vaters von Sina* skizziert: „[...] und eigentlich sich miteinander treffen wollten, und hauptsache die sind in Berlin, und können alleine losrenn, (.) mauerpark etc, da wollten die überall hin, (.) die konnten kein deutsch kein englisch,". Auffällig in der Erzählung ist nun, dass der Grund für die negative Erfahrung auf die Unzulänglichkeiten der Gastfamilie zurückgeführt wird. Hiermit wird auch die Verantwortung für Sinas* misslungenen Schüleraustausch an die Personen der Gastfamilie geknüpft, wodurch das Format des Schüleraustausches sinngemäß getrennt zu den Personen, die ihn herstellen, betrachtet werden kann.

Vor diesem Erfahrungshintergrund bildet sich nun eine Verästelung der Entscheidungsbegründung für den schulischen Auslandsaufenthalt ab, die im Folgenden punktuell betrachtet wird:

Fm1:wie kam=s denn dann dazu dass du: (.) trotz diese:r (.) @eher negativen erfahrung@ das jetzt willst; #00:29:07-7#
S:also (.) eigentlich weiß=ich=s gar nich so genau, (.) aber ich fand=s einfach spannend ma sowas zu machen, //Fm1: mhm// und mal auch so=n anderes schulsystem kennenzulern, und (ich=glaub) halt hauptsächlich deswegen wollt ich das auch machen, (.) un::d im nachhinein (.) wenn ich jetz so zurückblick find ich=s eigentlich gut dass ich die: (.) sa chen gemacht hab, (.) also auch das in Paris, //Fm1: mhm,// (.) weil ähm (.) ich fand auch hinterher war das so richtig schön hier nach hause zu komm, und (.) da hab ich so alles viel mehr wertgeschätzt, auch so (.) allein mein bett oder so, weil ich fand das war richtig kalt, (.) und unbequem, ((M* lacht kurz)) (.) und s=war (.) einfach richtig schön und so: (.) da war=s (.) natürlich nich so toll, (.) aber trotzdem ne erfahrung die (.) so stärkend war; //Fm1: mhm,// glaub ich so positiv; #00:29:50-8#

Im Verlauf der Passage reproduziert sich die zuvor beobachtete Abfolge des Einbezugs schulischer Kontexte – „[...] und mal auch so=n anderes schulsystem kennenzulern, [...]" – und die darauffolgende Nennung genuin diffuser Beweggründe. Auffällig ist erneut, dass dem Kontext der schulischen Erfahrung wenig Raum geschenkt wird. Die oberflächliche und unverbindliche Haltung hierzu bewegt sich dabei auf einem Allgemeinplatz, da es nicht um ein spezifisches Schulsystem geht, sondern um ein anderes. Es könnte dem Sinngehalt nach jedes Schulsystem sein, was diese Begründung mit einer relativen Beliebigkeit ausstattet.

Ferner lässt sich ein weiterer Effekt des Auslandsaufenthaltes vor dem Hintergrund der Eingebundenheit in ein familiales Binnengeflecht skizzieren. So ist das, was hier unter der Folie der Wertschätzung beschrieben wird, widersprüchlich zur Erwartung des eingangs erwähnten Autonomiegewinns. So erscheint gerade die im Protokoll abgebildete Erfahrung des nach Hause Zurückkehrens als ein Effekt einer regressiven Verstrickung: „[...], weil ähm (.) ich fand auch hinterher war das so richtig schön hier nach hause zu komm, und (.) da hab ich so alles viel mehr wertgeschätzt, [...]". So entspricht diese Haltung am ehestem der einer Touristin, die sich auf ihr eigenes Bett freut, worin eine Entwertung der Fremdheitserfahrung liegt.

Einerseits ist es also gerade die wohlwollende Inanspruchnahme von Geborgenheit, welche die Verbundenheit auf der Beziehungsebene zu den Eltern aktualisiert. Anderseits ist ebenjene Erfahrung, nämlich die der Stabilität des familialen Fangnetzes, welches den Auslandsaufenthalt, und hierbei ist der tatsächliche Verlauf des Auslandsaufenthaltes scheinbar unerheblich, erstrebenswert macht. Gemeinsam mit der betonten Komptabilität zum Kriterium der Coolness erscheint der Auslandsaufenthalt für Sina* am ehesten in Form eines Erlebnisurlaubes. Dazu wird er von Sina* mit dem Potential versehen, sich des Gefühls der Geborgenheit in der eigenen Familie bewusst zu werden und dieses zu erneuern.

4 pff wenn das geht will ich dat probieren – Der Fall Stefan Hermann*

Der Schüler Stefan* ist zum Zeitpunkt des Interviews 17 Jahre alt, hat in der 7. Klasse auf das Gymnasium gewechselt und besucht zum Zeitpunkt der Interviews die Jahrgangsstufe 11. Für den Auslandsaufenthalt ist eine Dauer von sechs Monaten geplant, die Stefan* in den USA verbringen wird. Von seinen ersten Erfahrungen mit schulbezogener Auslandsmobilität berichtet Stefan* im Rahmen eines einwöchigen Schüleraustausches nach Schweden, auf welchen sich auch Stefans* Vater im Familieninterview bezieht, wenn es um die Frage geht, wie die Entscheidung für einen schulischen Auslandsaufenthalt zustande gekommen ist. Die soll in der folgenden Rekonstruktion in den Blick genommen werden.

Bei dem Interview waren Stefan*, seine Eltern sowie zwei Interviewende anwesend. Stefan* ist das einzige Kind des Ehepaars Hermann*. Sein Vater ist seit Stefans* Geburt nicht mehr berufstätig. Er ist gelernter Zimmermann und Dachdecker. Frau Hermann* hat zunächst eine Ausbildung zur Industriekauffrau und daran anschließend ein berufsbegleitendes Studium zur Industriefachwirtin mit dem Schwerpunkt Informatik absolviert. Sie arbeitet zum Zeitpunkt des Interviews im Controlling eines Süßwarenherstellers. Auf Seiten der Eltern zeigt sich abseits von gelegentlichen Urlaubsreisen keine Form der internationalen Mobilität.

I1:ja: dann ä:h schießen=se doch ma los; wie is=es denn dazu gekommen? #00:00:27-4#
S:mh: └@(.)@┘ #00:00:27-4#
SV:└@(.)@┘ er war in Schweden mit seiner (.) klasse also ausch- als austauschschüler; und als=er wiedergekommen is kam das irgenwie wohl aus=em schulgespräch raus dass °n° einer wohl nach Amerika geht oder so und da hat er gesacht (.) pff wenn das geht (.) will ich dat probieren #00:00:44-0#

Fangen wir mit dem Beginn des Familieninterviews an und analysieren zunächst eine aussagekräftige Sequenz von Herrn Hermann*, um die Auseinandersetzung der Eltern mit der Entscheidung für einen schulischen Auslandsaufenthalt in den Blick zu bekommen. Im Anschluss daran soll diese mit der Sequenz von Stefan* in Verbindung gesetzt werden.

Von der interviewenden Person I1 wird der Einstieg in das Gespräch mit „ja: dann ä:h schießen=se doch ma los; wie is=es denn dazu gekommen" gegeben. Der Sprechakt ist dabei unspezifisch in der Ansprache des Gegenübers und des Gesprächsgegenstandes und bietet mit der Sie-Form in Zusammenhang mit dem „schießen=se doch ma los" den ersten eher locker formulierten Gesprächsimpuls. Der Sprechakt lässt außerdem den Anschein entstehen, dass Familie Hermann* als Adressat:innen das Gespräch gesucht hätten, obgleich das Interview als Anliegen der Forschenden verstanden werden muss. Der Interviewer wendet somit das Interview zu einem Gesprächsbedarf von Seiten der Hermanns*. In dem darauffolgende „wie is=es denn dazu gekommen" wiederholt sich die Ungenauigkeit, denn I1 sagt nicht, zu was es denn gekommen sei. Worum es sich handelt, ist scheinbar bekannt, bedarf keiner weiteren Explikation und kann von I1 in dieser kurzen Frage formuliert werden. Sprechaktlogisch würde sich hier ansonsten anbieten, dass ein Anschluss gewählt wird, der beispielsweise mit dass Sie für das Studium nach Berlin gezogen sind oder dass Sie sich für die Ausbildung zur Kauffrau im Einzelhandel entschieden haben. Das „se", welches auf eine Interaktion zwischen zwei oder mehreren erwachsenen Personen hindeutet, kann somit auch im Plural verwendet werden, wie in einem Gespräch mit Personen auf dem zweiten Bildungsweg in Form von dass sie sich für das Nachholen des Abiturs auf dem zweiten Bildungsweg entschieden haben. Aus diesen Fortsetzungen des Sprechakts lässt sich erkennen, dass hier zunächst nach einer Entscheidung gefragt wird, die kontextlogisch eine gewisse Tragkraft hat und nicht, wie beispielsweise die Einschulung, eine Selbstverständlichkeit darstellt. Die Entscheidung zu einem Umzug, einer Ausbildung oder dem Nachholen eines Bildungstitels muss aktiv von der handelnden Person eingeleitet werden und lässt einen Abwägungsprozess erwarten. Die Frage von I1 impliziert damit, dass die Entscheidung zu einem Auslandsaufenthalt, wie in den Lesarten erkennbar wird, eine Bedeutsamkeit für den Schüler und seine Eltern bzw. die Familie hat. Interessant wird nun sein, wer aus der Familie den offenen Impuls aufnimmt und damit die Erklärung für die Entscheidung leisten will.

Stefan* schließt an mit dem langgezogenen Partikel „mh" woraufhin er kurz lacht. Hier würde sich wieder die Frage nach dem zweiten Bildungsweg anbieten. In der Antwort zeigt sich zunächst eine Ungewissheit über die Sprecherrollenverteilung, also die Frage wer antworten soll. Es lässt sich in der Formulierung aber auch Verlegenheit erkennen. Eine andere Möglichkeit wäre gewesen, dass Stefan* direkt eine Antwort hervorbringt, beispielsweise ja also wissen Sie, das war so. Doch ein souveräner Anschluss scheint ihm nicht zu gelingen. Die herausgearbeitete latente Sinnstruktur der Frage, dass mit dem Auslandsaufenthalt eine Bedeutsamkeit für Stefan* und seine Familie einhergeht, scheint damit einen verlegenen Einspruch von Stefan* zu erhalten. An dieser Stelle distanziert sich Stefan* insofern von der insinuierten Wirkmächtigkeit des Auslandsaufenthaltes.

Gleichzeitig mit dem Auflachen von Stefan* lacht auch sein Vater. Anders als in Stefans* Sequenz fällt auf, dass das Auflachen von Herrn Hermann* gefolgt von dem Sprechakt „er war in Schweden mit seiner (.) klasse also auschals austauschschüler;" durchaus souverän erscheint. Auf die Frage „wie is=es denn dazu gekommen", dass Sie für Ihr Studium nach Berlin gezogen sind zu antworten mit „@(.)@ ich war in Schweden mit meiner (.) klasse also ausch- als austauschschüler;" macht deutlich, dass hier der souveräne Auftakt einer Geschichte mobilisiert werden kann, die zu dieser Entscheidung geführt hat. So wird hier doch die Bedeutsamkeit, die in der Frage steckt, aufgegriffen und der Beginn einer charismatischen Erzählung formuliert. In dem Beispiel des Studiums wäre und dann wollte ich nach der Schule direkt ausziehen eine wohlgeformte logische Anschlusssequenz. Dass hier jedoch nicht Stefan* spricht, sondern sein Vater, ist besonders interessant.

Herr Hermann* fährt fort mit „und als=er wiedergekommen is kam das irgenwie wohl aus=em schulgespräch raus dass °n° einer wohl nach Amerika geht oder so". Nach dem schulisch gerahmten Auslandsaufenthalt fand ein „schulgespräch" statt. Die Erklärungen des Vaters, die zu Stefans* Auslandsaufenthalt geführt haben, sind hier als institutionell aufgezeigt zu verstehen. Es lassen sich dazu Kontexte entwerfen, in denen entweder ein Gespräch zwischen Stefan* und einem Mitschüler im Pausenhof stattgefunden hat oder die auf einen Elternabend oder ein Gespräch mit der Schulleitung rekurrieren. Durch das „rauskommen" käme das Pausenhofgespräch eher einem Nachfragen von Stefan* gleich, in welcher der Mitschüler die Information, dass er ins Ausland geht, nicht so recht teilen möchte. Allerdings liegen durch das „raus[...]kommen" negativ konnotierte Kontexte nahe, in welchen beispielsweise die Lehrkraft mit den Eltern über die Versetzungsgefahr ihres Kindes spricht und damit eine bedrohliche Kulisse für Stefans* schulische Laufbahn geschaffen wird. Durch die Interaktion mit schulischen Akteuren (sei es ein Mitschüler, eine Lehrkraft oder die Schulleitung) wird etwas aufgezeigt, was vorher noch nicht wahrgenommen wurde. Manifest versucht Herr Hermann* dabei die Situation als positiv zu beschreiben, durch das „raus[...]kommen" wird allerdings auf latenter Ebene ein bedrohliches Moment gezeichnet. Kontextfrei passt allerdings auch die Erzählung von einem Patienten, der aus einer Arztpraxis kommt und da kam das irgendwie wohl aus=em arztgespräch raus, dass eine Krankheit diagnostiziert wurde, worin sich gleichsam das Moment der Bedrohlichkeit zeigt. Zu dem Sprechakt passt wohlgeformt der Kontext eines Diagnosegesprächs, auf dass es nun zu reagieren gilt. Im Falle einer Krankheit bieten sich die Optionen, entweder auf den professionellen Rat des Arztes oder der Ärztin zu hören und die entsprechenden Maßnahmen einzuleiten oder es nicht zu tun. Herr Hermann* rahmt die Erzählung so, als sei die Schule mit der Diagnose auf die Familie zugekommen, dass Stefan* der passende Schüler für einen Auslandsaufenthalt sei. Das findet im Lichte eines väterlichen Stolzes seinen Ausdruck und kann als Würdigung Stefans* durch die Institution Schule verstanden werden. Das Exempel, dass es die Möglichkeit für einen Auslandsaufenthalt gibt, wird im Fall Hermann* an einem anderen Schüler aufgezeigt, der auch ins Ausland gegangen ist. In dem Anschluss „und da hat er gesacht (.) pff wenn das geht (.) will ich dat probieren" wird nichts von der Bedeutsamkeit aufgegriffen, die in der Frage des Interviewers steckte. Wenn man so über die Teilnahme an einem Tennisturnier sprechen würde, dann wird in dem Sprechakt nichts von einem vorsichtigen Abwägen der Fähigkeiten oder einer wohlüberlegten Entscheidung mobilisiert, die Formulierung lässt auf das Gegenteil schließen. Die Entscheidung steht im Lichte eines opportunistischen Wahrnehmens der gebotenen Gelegenheit und diese wird pflichtbewusst in Anspruch genommen.

Aus der Sequenz von Stefans* Vater lässt sich entnehmen, dass im Fall Hermann* der Auslandsaufenthalt eindeutig als Vorschlag der Schule verstanden wurde, welcher opportunistisch aufgegriffen und umgesetzt wird. Mit Blick auf die Stabilisierung der Entscheidung für den Auslandsaufenthalt konnte gezeigt werden, dass der Fokus in der Verhandlung um den Auslandsaufenthalt auf die institutionelle Rahmung gelegt wird. Herr Hermann* zeigt außerdem eine bemerkenswerte Aufgeschlossenheit gegenüber dem Auslandsaufenthalt. In seinen Ausführungen ist nichts von einem anfänglichen Zögern zu erkennen oder einem schwierigen familialen Aushandlungsprozess der Entscheidung. Die Entscheidung, die Stefan* getroffen hat, wird als nicht angezweifelt dargestellt, sondern von den Eltern deutlich positiv wahrgenommen und solidarisch unterstützt, wenngleich ein bedrohliches Moment durch das „es kam raus" mit einfließt.

I1:mhm #00:00:45-9#
SM:erzähl mal selber #00:00:46-7#
S:ja also ich konnt mir das nich vorstellen=n: jahr irgendwo anders zu verbringen (1) m:h wegen meinen ganzen freunden und weil ich mir nich vorstellen konnte (1) dass das irgendwie auch interessant @sein könnte@ bei wem anders zu wohnen (1) weil ich ähm (.) ja mein zuhause sehr @gern@ habe (1) und dann waren wir halt ne woche in Schweden weil unsere schule eine (1) ausgezeichnete europäische schule ist //I2: mhm// (1) bedeutet sie ermöglichen uns dann für eine woche in ein (.) anderes europäisches land n austausch zu (.) veranstalten (.) und dann dementsprechend auch in einem anderen haushalt zu leben (1) u:nd dann wechseln wir halt und die kommn dann halt zu uns (2) und das hat mir eigentlich sehr gut gefallen (.) u::nd (.) dann: hab ich (.) mich halt informiert und (.) wollte dann doch diesen (1) dies:- ausch- austauschjahr oder austausch halbe jahr antreten in die USA #00:01:42-8#

Nach den Ausführungen des Vaters lenkt Frau Hermann* den Gesprächsimpuls auf Stefan*. Frau Hermanns* Sprechakt „erzähl mal selber" beendet die stellvertretende Deutung ihres Mannes, sie überreicht das Wort an Stefan* und fordert ihn zu einer Positionierung auf. Sie bietet dabei, anders als Stefans* Vater, keine stellvertretende Deutung an, sondern fordert ihren Sohn in der Interviewsituation auf, sich gegenüber der Frage nach der Entscheidung für seinen schulischen Auslandsaufenthalt selbst zu positionieren. Erneut tritt hier die passive Aufgeschlossenheit der Eltern gegenüber dem Auslandsaufenthalt auf. Die Aufforderung „erzähl mal selber" ist hierbei vergleichbar mit Aussagen wie jetzt erzähl mal selber wie du darauf gekommen bist, es war schließlich auch deine Idee. Frau Hermann* setzt damit sich und ihren Mann in den Hintergrund und bietet Stefan* die Möglichkeit zu sprechen an, welche er auch wahrnimmt.

Im darauffolgenden Abschnitt spricht Stefan* manifest zunächst darüber, dass er sich mit der Thematik Auslandsaufenthalt auseinandergesetzt hat, diese aber für ihn nicht infrage kam. Dabei mobilisiert er diffuse Motive, wie die Beziehung zu seinen Freunden und sein Zuhause. Seine Umgebung bot ihm scheinbar keine Erfahrungen an, die er hätte mobilisieren können, die zu der Entscheidung für einen Auslandsaufenthalt geführt hätten.

Weiterhin geht auch Stefan* auf den einwöchigen Schüleraustausch ein, welcher schon von seinem Vater thematisiert wurde und welcher durch die Schule institutionell gerahmt war. Dabei betont er besonders, dass seine Schule eine „ausgezeichnete europäische schule" sei. In dem „unsere" zeigt sich Stefans* Zugehörigkeitsgefühl zu seiner Schule und gleichzeitig deutet es auf eine Distinktion zu anderen Schulen hin. Denkbar wären Sprechakte im schulischen Kontext, welche die Besonderheit und die hohen Ansprüche der eigenen Schule gegenüber anderen Schulen herauszustellen versuchen. Eine negativ gerahmte Erzählung wäre aber auch vorstellbar, Schüler:innen könnten zum Beispiel über eine strukturelle Überforderung mit den Leitbildern und den damit verknüpften Anforderungen der Schule berichten.

In der Anschlusssequenz ist das Wort „ermöglichen" interessant. Hierbei passt wohlgeformt ein Sprechakt einer Tochter über ihre Eltern Meine Eltern ermöglichen es mir zu studieren. In diesem Fall zeigt sich das Interesse an einem Studium, das innerfamilial verhandelt und dann auf Wunsch des Kindes von den Eltern ermöglicht wurde. Im Fall von Stefan* bekommt er die Möglichkeit allerdings von Seiten der Schule aufgezeigt und es ist davon auszugehen, dass die Eltern in der familialen Auseinandersetzung mit dem Auslandsaufenthalt Stefan* solidarisch und unterstützend zur Seite stehen. So bildet sich hier auch eine Dankbarkeit für die zur Verfügung gestellte Möglichkeit des Auslandsaufenthalts ab, denn dieser scheint Stefan* ansonsten nicht zur Verfügung gestanden zu haben. Auch ist bei den Eltern eine positive Wahrnehmung und ein unhinterfragtes Folgen dieser Möglichkeiten, die ihrem Sohn angeboten werden, zu vermuten. Für den Fall zeigt sich damit, dass Stefan* die durch seine Schule aufgezeigte Möglichkeit des Auslandsaufenthaltes dankend würdigt und sie als Besonderheit darstellt, gleichzeitig aber eine distanziert neutrale Haltung zu Schule und Aufenthalt einnimmt.

In dem letzten Abschnitt fasst Stefan* zusammen, wie es konkret zu seiner Entscheidung kam. Er sagt „das hat mir eigentlich sehr gut gefallen". Hier ist eine lakonische Haltung erkennbar, welche sich in dem folgenden "und dann hab ich mich halt informiert" reproduziert. An dieser Stelle ist Stefans* Sequenz deutlich vergleichbar zu der Ausführung von Sina*, welche äußert „und dann °fand ich das eigentlich ganz° cool", denn hier zeigt sich gerade besonders der Pragmatismus gegenüber dem Auslandsaufenthalt, in dem kein Schwärmen, keine überschwängliche Positivität in Erscheinung tritt.

Bemerkenswert ist das darauffolgende „antreten". Deutete sich davor noch eine nüchterne Auseinandersetzung mit der Thematik Auslandsaufenthalt an, steckt in dem „antreten" doch das unambitionierte Wahrnehmen einer Aufgabe und einer damit einhergehenden Aufwertung der Bildungsbiografie. Stefan* rahmt damit die Entscheidung für einen Auslandsaufenthalt als eine Möglichkeit und Aufgabe, die ihm zunächst nicht nahelag, die er nun aber doch wahrnehmen kann und will. Die Ambitionen, die sich schon in der Fallskizze durch seinen Bildungsaufstieg in Form von dem Schulwechsel andeuten, werden hier wieder aufgerufen, da er das angebotene schulische Surplus nicht für selbstverständlich wahrnimmt, die Aufgabe und die Aufwertung, die damit einhergeht, aber wohlfeil annimmt. Es zeigt sich in der Verbindung von dem „ermöglichen" und dem „antreten", dass bei Stefan* eine Haltung zur Schule als eine Institution der Ermöglichung vorliegt.

Für die Fallstruktur lässt sich festhalten, dass Stefan* diffuse Motive als Gründe gegen einen Aufenthalt benennt, in der Rekonstruktion der Entscheidungsbegründung aber deutlich wird, dass seine Orientierung und Identifikation mit den schulisch spezifischen Merkmalen für ihn relevanter sind und die pragmatischen Gründe überwiegen. Auch innerfamilial zeigt sich eine spezifisch-neutrale Merkmalsorientierung gegenüber dem Auslandsaufenthalt, die in der unterstützenden Haltung der Eltern ihren Ausdruck findet.

5 Der distanziert-lakonische Typus als Ausdruck eines uninvolvierten Verhältnisses zum Auslan...

Im Folgenden sollen die Ergebnisse der Fallrekonstruktion anhand ihrer fallspezifischen Merkmale aufgeschlüsselt werden. Diese Darlegung dient im Weiteren als Grundlage für die Abstrahierung einer idealtypischen Betrachtung der vorliegenden Begründungsmuster für einen schulischen Auslandsaufenthalt vor einem familialen Hintergrund. Beim folgenden Schritt geht es insofern darum, „[j]ene die Menschen einer Epoche beherrschenden, d.h. diffus in ihnen wirksamen ,Ideen' [...], mit begrifflicher Schärfe" ([24]: 197) zu erfassen.

Bezüglich der Merkmalsorientierung der Entscheidungsbegründung zeigt der Fall Sina Rabe* ein diffus-affektives Begründungsmuster. Der schulische Auslandsaufenthalt begründet sich hier mit dem Verweis auf positive Erzählungen über denselben. Hier spielt der Besuch der Bildungsmesse eine große Rolle. Die Darstellung eines Auslandsaufenthaltes durch die Vertreterin der Austauschorganisation wird durch Sinas* Mutter affirmiert. Frau Rabe* zeigt sich identifikationsfähig mit der Darstellung des Auslandsaufenthaltes auf der Bildungsmesse, da sie sich in der Perspektive der Mutter wiederfindet. Die Entscheidungsbegründung legitimiert sich insofern auch durch das Ansehen der Entscheidung sowie ihrer Verallgemeinerungsfähigkeit, nicht aufgrund erwarteter Handlungen oder Tätigkeiten. Die Entscheidung für den Auslandsaufenthalt an sich ist bereits cool, was mit der Wahl eines angesagten, modischen Kleidungsstückes gleichkommt. Die Entscheidung ist damit konsenssensitiv in ihrer Begründung; die positive Attribuierung erfährt ihre Genese auf der Ebene der Zustimmung. Sinas* Begründung für den Auslandsaufenthalt kommt dabei dem einer touristischen Reise gleich. So wird dieser als etwas Attraktives gekennzeichnet, aber gleichsam damit begründet, dass gerade die Rückkehr zum Ausgangsort einen Anreiz ausmacht. Wenn der Auslandsaufenthalt dazu nutzen soll, sich gerade auf die Rückkehr zu freuen, zeigt sich darin eine gewisse Regressivität, die als „Teil des Sicherheitspakets" ([3]: 184) der touristischen Reise verstanden werden kann.

Der Fall Stefan Hermann* weist hingegen ein spezifisch-neutrales Begründungsmuster auf. Die Legitimation der Entscheidung für einen schulischen Auslandsaufenthalt erfolgt durch die Passung zur institutionellen Struktur des Schulischen in der Form, als dass der Aufenthalt als eine Art Schülerjob verstanden wird. Maßgeblich für den Schülerjob ist ein „instrumentell-strategischer Umgang mit der Schule" ([5]: 11) und den Anforderungen, die durch sie gestellt werden. Die Perspektive möglicher schulischer Leistungssteigerung und die einhergehende Entscheidungsbegründung weist insofern eine Empfänglichkeit gegenüber der Vorstellung schulischen Gelingens auf. Fortwirkend stellt dies auch eine besondere „Bereitschaft" ([17]: 162) gegenüber der Einnahme der Schülerrolle dar. Die Entscheidung wird dabei sowohl von Herrn Hermann* als auch von Stefan* selbst als opportunistisch und neutral gerahmt und kann so, anders als im Fall Rabe*, innerfamilial diffus auf Distanz gehalten werden. Familie Hermann* rahmt die Entscheidung, als sei von Seiten der Schule die Diagnose gestellt worden, dass Stefan* ein geeigneter Schüler für einen Auslandsaufenthalt sei. Somit kann der Auslandsaufenthalt von Stefan* auch als ein „Bemühen um die sichersten Investitionen" ([4]: 43) verstanden werden. Die Verhandlung mit der Thematik Auslandsaufenthalt hat stattgefunden, weil es als schulisches Anliegen von außen an die Familie herangetragen wurde und ein Misslingen in der Durchführung ausgeschlossen werden konnte. Innerfamilial zeigt sich außerdem eine elterliche Unterstützung der Entscheidung, welche sich auch an spezifischen Mustern orientiert und familial gleichsam eine Passung zu schulischen Anspruchsstrukturen nahelegt.

Die Schnittmenge beider Fallstrukturen bildet die Basis des distanziert-lakonischen Typus. Beiden Fällen steht es zur Verfügung, den schulischen Auslandsaufenthalt in einer distanzierten Art und Weise zu antizipieren. Während sich dies bei Sina* in der Sinnstruktur eines Erlebnisurlaubs abbildet, nimmt Stefan* den Auslandsaufenthalt als Teil schulischer Zusatzleistung wahr. Der distanziert-lakonische Typus der Auslandsaufenthaltsgestaltung versteht die Unternehmung nicht als einen direkten Aufbruch in eine durch internationale Mobilität gekennzeichnete Lebensführung. Vielmehr gelingt es ihm durch die strukturelle Distanznahme zum Auslandsaufenthalt, denselben als besonderes Ereignis zu würdigen, aus dem jedoch nicht gleich ein internationalisierter Habitus hervorgeht. Die Distanzierung führt zur Isolation des Auslandsaufenthaltes als singuläres Ereignis, in welchem das Individuum nicht ganzheitlich aufgeht. So erfährt der schulische Auslandsaufenthalt eine Attribuierung, die etwa einer besonderen touristischen oder auch einer außergewöhnlichen dienstlichen Reise entspricht. In der Teilnahme liegt sodann die Hoffnung einer besonderen Anerkennung. Ein konkreter Handlungsdruck, den Auslandsaufenthalt als Aufbruch in eine Weltbürgerschaft zu begreifen, ist dem distanziert-lakonische Typus somit nicht auferlegt. Gerade aus dieser Perspektive kann der Auslandsaufenthalt geradezu als folgenlos betrachtet werden. Indem der Aufenthalt dadurch motiviert ist, die seiner Durchführung zugeschriebene Anerkennung am Herkunftsort und nicht am Zielort zu erfahren, lebt er von der Inanspruchnahme von Sesshaftigkeit.

6 Fazit

Die einleitenden Überlegungen zu den Strukturmerkmalen des schulischen Auslandsaufenthaltes haben verdeutlicht, dass Auslandsmobilität (von Jugendlichen) in der gesellschaftlichen Wahrnehmung deutlich positiv konnotiert ist. An dem Werbematerial konnte gezeigt werden, dass Auslandsaufenthalte als eine autonomiefördernde, wettbewerbsbevorteilende und identitätsprägende Praxis dargestellt und wahrgenommen werden, der gleichzeitig eine strukturelle Ambivalenz eingeschrieben ist. Der involvierte Typus, welcher sich durch eine emphatische Inanspruchnahme eines internationalen Habitus und eine Betonung der Teilhabe an einer durch internationale Mobilität gekennzeichneten Lebensführung auszeichnet, kann an diese Zuschreibungen anknüpfen und diese spannungsfrei reproduzieren. Der involvierte Typus kann daher als empirisch erwartbar beschrieben werden.

Jedoch konnten wir in unserem Beitrag zeigen, dass sich gegenüber diesem Typus ein distanziert-lakonischer Typus abbildet. Für diesen muss der Auslandsaufenthalt in seiner Umsetzung als familiale Angelegenheit fokussiert werden. Entscheidend für diesen Typus ist der Verlauf des Auslandsaufenthaltes, der vorsieht, aus der Herkunftsfamilie und -schule herauszutreten, um dann wieder in diese zurückzukehren. Er deutet dabei auf einen regressiven Umgang mit der zugrundeliegenden Autonomie- und Ablösungsambivalenz hin. Der distanziert-lakonische Typus weist einen Umgang mit dem „Trennungsintermezzo [...], an dessen Ende die Rückkehr in die Familie steht" ([26]: 273) auf, welcher gerade die Rückkehr aus dem Auslandsaufenthalt als Zielmarke sieht. Anhand beider Fälle konnte hierbei rekonstruiert werden, dass der Auslandsaufenthalt als solcher eben nicht zwangsläufig mit der Herausbildung eines internationalen Habitus einhergeht. Sowohl das diffus-affektive Begründungsmuster einer touristischen Reise einerseits oder auch das spezifisch-neutrale Begründungsmuster im Vollbringen eines Schülerjobs andererseits sind als singuläre Ereignisse zu verstehen, welche als „source of legitimacy and distinction both by individuals and organisations" ([23]: 251) fruchtbar gemacht werden. Gerade diese distanzierte Haltung, die sich in dem und dann fand ich das eigentlich ganz cool und dem wenn das geht will ich dat probieren niederschlägt, legt somit eine Folgenlosigkeit des schulischen Auslandsaufenthaltes für die Individuen nahe, die nicht über die Hoffnung einer punktuellen Anerkennung hinausgeht. Gleichsam konnte herausgearbeitet werden, dass der Auslandsaufenthalt die Möglichkeit offenlegt, diesen mit subjektiven Deutungsmustern zu belegen und als genuin familiale Angelegenheit zu verstehen, da das damit verfolgte Konzept des „being international" ([23]: 249), ausreichend vage ist und durch das weite Spektrum valider Deutungselemente eine starke Verallgemeinerungsfähigkeit besitzt. Aus den Fallrekonstruktionen konnten wir somit den distanziert-lakonischen Typus herausarbeiten, dessen Orientierung auf dem Zurückkommen und damit in der Herkunftsfamilie und -schule liegt und worin ein erstaunlich gutes Passungsverhältnis zur strukturellen Autonomieambivalenz des Auslandsaufenthalts besteht. Der distanziert-lakonische Typus bietet damit eine interessante Antwort auf die Problematik des Trennungsintermezzos, da er nicht das Fortgehen, sondern das Zurückkehren betont.

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Während hier in allen von uns vorgefundenen Fällen, auf die dieses Merkmal zutrifft, die Eltern ihren eigenen Auslandsaufenthalt über private Kontakte der Elter o.Ä. realisieren konnten, führt die Entscheidung für den Auslandsaufenthalt ihrer Kinder doch zu der Inanspruchnahme einer Austauschorganisation. Vgl. ,,significant symbols" ([10] : 181); dazu: [7] : 120ff. Der Text, welcher als Kommentar eines Elternteils präsentiert wird, ist in abgeänderter Form ebenfalls in der aktuellen Iteration des Werbemittels zu finden ([21] : 6). Vgl.: [1] : 76f.; [6] : 17; [22]. Eine Darstellung des Projekts ist unter folgendem Link hinterlegt: https://www.iew.uni-hannover.de/de/wernet/forschungsprojekte/. Wir betrachten die Bewährungssuche hier als typenbezogene Ausformung.

By Kai Schade and Charlyn-Mariella Oesterhaus

Reported by Author; Author

Titel:
Der distanziert-lakonische Typus als Variante der subjektiven Wahrnehmung des schulischen Auslandsaufenthaltes.
Autor/in / Beteiligte Person: Schade, Kai ; Oesterhaus, Charlyn-Mariella
Link:
Zeitschrift: Sozialer Sinn, Jg. 24 (2023-12-01), Heft 2, S. 161-184
Veröffentlichung: 2023
Medientyp: academicJournal
ISSN: 1439-9326 (print)
DOI: 10.1515/sosi-2023-0008
Schlagwort:
  • PRAXIS (Process)
  • Subjects: PRAXIS (Process)
  • adoleszente Ablösung
  • Deutungsmuster
  • Fallrekonstruktion
  • internationale Mobilität
  • Schulischer Auslandsaufenthalt
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Language: German
  • Document Type: Article
  • Author Affiliations: 1 = Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Leibniz Universität Hannover, Institut für Erziehungswissenschaft, Arbeitsbereich Schulpädagogik mit dem Schwerpunkt Schul- und Professionsforschung
  • Full Text Word Count: 8339

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